Gidon Kremer meldet sich zu Wort !

Gidon Kremer meldet sich zu Wort! In Riga ist der lettische Geiger geboren, in Moskau hat er bei Igor Oistrach studieren dürfen, 1980 ist er in den Westen emigriert. Ein Jahr später gründet er sein eigenes Kammermusikfestival in Lockenhaus. Als künstlerischer Leiter eines eigenen Streichorchesters bleibt er aber stets seiner künstlerischen Heimat, der Musik Russlands und natürlich des Baltikums verpflichtet. Vielleicht ist seine „offene“ persönliche Nachricht die richtige Erwiderung auf die kriegsrasselnden Schlagzeilen über Putin in den Tageszeitungen heute morgen! Und ein bisschen Werbung natürlich in eigener Sache. Heute Abend tritt die Kremerata Baltica in der Semperoper auf. Das ursprüngliches Programm “All about Gidon” hat er in “Mein Russland” umgewidmet.

Persönliche_Nachricht_von_Gidon_Kremer

“Auch die Musiker müssen auf die Berge”, hat Reinhold Messner gefordert!

 

Foto: Andreas Panzenberger
Foto: Andreas Panzenberger

“Auch die Musiker müssen auf die Berge”, hat Reinhold Messner gefordert! Sie könnten dann die Höhenerfahrung in Musik umsetzen!

Es müssen ja auch nicht die Achttausender sein. Auch wenn ihn die Erstbesteigung aller Achttausender weltberühmt gemacht.  “Auch die Musiker müssen auf die Berge”, hat Reinhold Messner gefordert! weiterlesen

Ruhrtriennale! Absurdes, groteskes, großartiges Musiktheater! Romeo Castelluccis spektakulär experimentelle Sicht auf Morton Feldmans Oper Neither in der Bochumer Jahrhunderthalle

Der Librettist bleibt meistens eine Schattengestalt. Der Komponist geht in die Annalen ein. Im Fall der Oper Neither von Morton Feldman, 1977 in Rom uraufgeführt, ist der Librettolieferant Samuel Beckett vielleicht der bekanntere. Der Protagonist des absurden Theaters (Warten auf Godot aus dem Jahr 1953) lieferte allerdings nicht mehr und nicht weniger als 16 Zeilen mit 87 Wörter! Absurd? Grotesk? Sicherlich! Aber die aphoristisch angerissenen abstrakten Bilder, die mit Paradoxien der Wahrnehmung spielen, korrespondierten exzellent mit der Idee einer abstrakten Musik von Morton Feldman. Klänge im Fluss, die immer in neuen Möglichkeiten aufscheinen, die weder so noch so, immer gleich sind und doch anders aufscheinen. (Von Sabine Weber)

(6. September 2014, Bochumer Jahrhunderthalle) Becketts Wörter, die von „inneren Schatten“ sprechen, die „äußere“ sind, von „undurchdringlichem selbst“, die zu einem ebensolchen „selbst“ durch das Wörtchen „weder“ finden wollen oder von Türen, die sich schließen, wenn man sich ihnen nähert und öffnen, wenn man sich entfernt – dieses Bild diente meistens als Rettungsanker bisheriger Inszenierungen – hat Morton Feldman in einer Sopranpartie so verarbeitet, dass sie unverständlich bleiben, und als Vokalisen oder Tonrepetitionen über den Orchesterklängen schweben. Der 1960 in Cesena geborene italienische Theatermacher Romeo Castellucci braucht aber keine Rettungsanker. In seinen Bildern stechen sich Männer gegenseitig ab, fahren Autos und Lokomotiven aus einer schwarzen Giebelwand heraus, lauern Gangster in Mäntel und Hüten einer Frau (die Sopranstimme) auf, entführen ein Kind, das von Ärzten auf einem Op-Tisch ausgeweidet wird, verschwindet die Frau auf mysteriöse Weise und ist im Raum nur noch als Stimme zu hören, bis sie am Ende nur noch mit einem Bein auf dem Boden sitzt und den Mund zu einem wortlosen Schrei geöffnet hat.

Castellucci entwirft einen Krimi in Film noir Ästhetik

In seinem Krimi in Film noir Ästhetik der 1940er Jahre geht es nicht wirklich um Tatmotive, auch nicht um die Erzählung einer tatsächlichen Geschichte. Es geht um Assoziationen, die ausgelöst das eben Wahrgenommen sofort wieder anders scheinen lassen. Übrig bleibt der Schauer und die Spannung im Erlebnis dessen, was immer wieder Überraschungen bietet. Das Unvereinbare einer vieldeutigen Wahrnehmung, der wir oft genug ausgesetzt sind, wenn wir vernunftgeleitete Regelkorsette abwerfen. Das bringt der radikale und innovative Regisseur in anschauliche Bilder! Dass er dabei auch die Jahrhunderthalle mit ihrem unglaublichen Hallentief und auch noch die Oberlichter – mittels eines außen aufgestellten Krans und darüber gehievten Scheinwerfern mit einbezieht, die ins Dunkel fahren und die einmalige Eisenkonstruktion ausleuchten, ist großartig. In der Halle gerät alles unter Verdacht und in bewegte Unsicherheit! Die Möbel, die von der schwarzen Giebelwand vor sich hergeschoben und wie von Geisterhand bewegt tanzen, bis hin zur Tribüne, die von einer Lok in schwenkenden Lichtkegeln nach hinten geschoben wird, bis die vorderen Reihen aufbrechen, sie in die Tribüne hineinfährt und sich und die Zuschauer mit Dampf einhüllt.

Feldman klingt stellenweise wie eine Bernard Herrmanns Psycho-Musik

Da muss man dann an das Bild der Lok denken, die 1885 in Paris die Wand des Gare Montparnasse durchbrach, ein Bild, das den Surrealisten als Fanal für einen möglichen Durchbruch in andere Realitäten diente. Beindruckend ist, wie Castellucci auch einzelne Textaussagen visualisiert. „Ungehörte Tritte einziger Laut“: graue Kumpels mit Stirnlampen marschieren mit einem fleischrosaroten Bein lautlos nach vorne und stellen es vor ein Mikrofon. Ein unglaubliches Schlussbild. „Dann kein Laut“ heißt es ja auch in der viertletzten Zeile von Becketts Libretto. Unglaublich auch, wie die Musik Feldmans stellenweise wie Bernard Herrmanns Musik zu dem Hitchcockfilm Psycho mit Castelluccis Bildern verschmilzt. Und der Psychozustand, der sich in dem Wort „Neither“ verbirgt, in einem nie sich gewiss sein können, „weder so noch so“ oder „weder noch“ zitiert Castellucci ganz am Anfang als Prolog vor dem Beginn der Oper Erwin Schrödingers Katze. Das war eine Versuchsanordnung von 1935 mit Kiste und einer Katze drin, die eine philosophische Erkenntnis der Quantentheorie veranschaulichen sollte. Nämlich die, dass unvereinbare Zustände, festgemacht an Beobachtungen von Atomen, übertragen auf das Beispiel von tot und lebendig, gleichzeitig möglich sind. Und sowohl eine tote wie auch eine lebendige Katze geistern durch den Abend! Zu erwähnen ist auch unbedingt, dass die Sopranistin Laura Aikin ihre hohe Sopranpartie bravourös gemeistert hat. Begleitet haben die Duisburger Philharmoniker unter der Leitung des Neuen Musik Spezialisten Emilio Pomarico, die den differenzierten Klängen und Motivspielen Morton Feldmans Leben eingehaucht haben.

Ein weiteres Theater der Abwesenheit – Goebbels Überthema seiner letzten Ruhrtriennale

Natürlich ist Neither keine Oper, in der es um menschliche Konflikte, tränenrührige Liebesgeschichten oder Eifersuchtsdramen oder Tugenden geht, die herausgestellt werden. Aber das hatte Ruhrtriennale-Intendant Heiner Goebbels ja auch für sein letzten Jahr angesagt, eine Art Theater der Abwesenheit. Also Oper mal ohne die ewig abgehandelten emotionalen Auseinandersetzungen. Und das kann funktionieren! Mit diesem Opernereignis ist jedenfalls dass Alleinstellungsmerkmal des Ruhrtriennalen-Konzepts als ein Festival mit unkonventionellen Bühnenumsetzungen unter Einbezug der einmaligen Industriedenkmäler, man müsste besser Industriekathedralen sagen, dick unterstrichen worden. Und so konsequent wie kaum ein Intendantenvorgänger vor ihm, hat Heiner Goebbels sich dem Avantgarde Musiktheater verschrieben – ohne gemütliche Zugeständnisse zu machen. Das ist mutig und großartig zugleich.

Die französische Regisseurin Béatrice Lachaussée erhält den Studio-Preis der Götz-Friedrich-Stiftung!

OLYMPUS DIGITAL CAMERADie französische Regisseurin Béatrice Lachaussée erhält den Studio-Preis der Götz-Friedrich-Stiftung für ihre Inszenierung von Wolfgang Rihms Kammeroper »Jakob Lenz«, die am 22. März 2014 in der Trinitatiskirche in Köln Premiere gefeiert hat! Und inszeniert erneut an der Oper Köln!

Es ist nur ein kleiner Preis, was die Dotierung über 2.500 Euro angeht, aber ein großer Anerkennungspreis für die junge französische Regisseurin Béatrice Lachaussée. Diese Inszenierung war nämlich ihr deutsches Regiedebüt.
In der Inszenierung (Bühne & Kostüme: Nele Ellegiers) mit Bariton Miljenko Turk in der Titelpartie des schizophrenen, hochbegabten Dichters Jakob Lenz – es musizierte das Gürzenich-Orchester Köln unter der Alejo Pérez- hob die Presse mehrheitlich hervor, wie kunstvoll die Regisseurin Akustik und Atmosphäre des Kölner Kirchenschiffs mit der sich steigernden Dramatik des von inneren Stimmen geplagten Protagonisten verdichtet hat.
Béatrice Lachaussée wird auch in der aktuellen Saison wieder für die Oper Köln inszenieren, und zwar für die szenische Umsetzung von Leoš Janáceks »Tagebuch eines Verschollenen« sorgen. Am 30. Mai 2015 findet die Premiere im Kölner Kolumba-Museum statt.

Die Ruhrtriennale 2014 hat begonnen!

Die Ruhrtriennale hat am Wochenende die Industriekathedralen im Nordrhein-Westfälischen Ruhrgebiet geöffnet. Einen Monat lang machen Künstler und Performer in den einstigen Industriebrachen auch in diesem Jahr wieder mobil. Die Kraftzentrale im ehemaligen Industriegebiet Duisburg-Nord (um 1900 für zehn gichtgasbetriebene Großmaschinen zur Stromerzeugung und Gasgebläse zur Hochofenwinderzeugung errichtet) ist der stattlichste Veranstaltungsort. 170 Meter lang, 35 Meter breit und 20 Meter hoch! Hier hat Intendant und Regisseur Heiner Goebbels seine dritte und letzte Spielzeit eröffnet, mit Louis Andriessens Musiktheater De Materie, von ihm selbst opulent inszeniert.
Von Sabine Weber

(Duisburg, 15.08.2014) Die Ruhrtriennale will Werken ihren Industrieraum öffnen, die an herkömmlichen Spielstätten keine Chance haben. Dazu zählte John Cages Opernpersiflage Euoroperas 2012, auch das mit eigenem Instrumentarium ausgestattete Konzerttheater Harry Partchs aus dem letzten Jahr und sicherlich das vierteilige Bühnen-Werk des Niederländers Louis Andriessens, das am 15. August die letzte Spielzeit unter Intendant und Regisseur Heiner Goebbels eröffnet. 1989 in Amsterdam in der Regie von Robert Wilson über die Bühne gegangen, hat niemand De Materie seitdem mehr angefasst. Mit nicht weniger als 144 gezählten massiven Orchester-Schlägen in drei Sekunden-Abständen von dem zu einem Orchester aufgerüsteten Ensemble modern unter Peter Rundel durch die Riesenhalle gejagt, meldet es sich in deutscher Erstaufführung gewaltig zurück. Heiner Goebbels wartet in dieser Ideen-Oper ohne Handlung, in der auf einer abstrakten Ebene der uralte Kampf von Geist und Materie angestoßen wird, mit imposanten Bildern auf. Eine Halle wie die Kraftzentrale wirkt ja schon an sich. Erst recht, wenn leuchtende Zeppeline – bis auf minimal fiepende Steuergeräusche abgesehen – lautlos wie von Geisterhand gesteuert durch die dunkle oder farbig ausgeleuchtete Halle schweben. Oder wenn während eines Intermezzos eine Schafherde in geheimnisvoll kreisenden Schwarmbewegungen sich unter einem je nach Perspektive wie ein Vollmond leuchtender Zeppelin bis nach vorne schiebt. Wiederum zu unendlich wiederholten Orchesterklangschlägen, die leider irgendwann das meditative Bild zu stören beginnen. Es hatte den Anschein, die Schläge müssten ad libitum wiederholt werden, bis die Herde sich wieder nach hinten verzogen hat. Die farbmächtig ausgeleuchteten abstrakt gehaltenen Bühnenbilder – der in senfgelb durchleuchtete Wolken-durchzogene imaginäre Kadethralraum für die Vision einer niederländischen Nonne – sind eindrucksvoll und ästhetisch schlüssig. Aber Staunen über Bilder ist kein Spannungsgarant für anderthalb Stunden. Dass ein Chor (Chorwerk Ruhr) Auszüge aus der Freiheitserklärung der spanischen Niederlande rezitiert oder aus einem originalen Bekenntnis einer mittelalterlichen Nonne, die eine Unio mystica in erotisch anspielenden Worten überliefert hat, sind noch lange kein Bühnendrama. Unterhaltsam sind die Jazzklänge im vierten Kapitel über Piet Mondrian und theoretische Stilüberlegungen über Linienperspektiven im Libretto, wiederum rezitiert vom Chor, aber durchzogen von einer schmissigen Boogie-Woogie-Einlage. Mondrian habe den Jazztanz geliebt, erklärt das Programmheft. Also dürfen auch zwei Tänzer in 20er Jahre Hosen sich akrobatisch auslassen. Das im letzten Teil die Nobelpreisträgerin Marie Curie auf der Bühne dargestellt wird, hat wohl den Grund, dass sie eine Materie mit besonderen immateriellen (geistigen) Eigenschaften entdeckt hat, nämlich radioaktives Plutonium. Musikalisch ist die Durcharbeitung der wie eine Sinfonie in vier Sätzen aufgebaute Musik mit Stilformen wie der Toccata (Schläge!) oder Passacaglia und auch eingewobenen Zitaten durchaus intellektuell anregend. Dennoch sind das keine Bühnentheatralische Pluspunkte. Das ganze bleibt ein Ideentheater, das ohne menschliches Drama emotionslos bleibt. Also ein musikalischer Essay mit theatralen und durchaus spektakulären Illustrationen, wie es in einem Programmhefttext beschrieben wird.

Vorbereitungsarbeiten in der Duisburger Gebläsehalle für den Knochenstaubtanz. Foto: Wurzbacher
Vorbereitungsarbeiten in der Duisburger Gebläsehalle für den Knochenstaubtanz. Foto: Wurzbacher

Spektakulär ist auch der von Romeo Castellucci mittels 40 Maschinen inszenierte Knochenstaubtanz auf Igor Strawinskys Sacre du printemps in der Duisburger Gebläsehalle gleich nebenan. Sechs Tonnen Knochenstaub rieselt aus den an Gestängen besfestigten Trichtern, die gesteuert von Zeituhren, erkennbar an den rot blinkenden Zahlen auf den Geräten, zu den Akzenten der Musik sich drehen, wirbeln, hoch und runter fahren, auch spucken und einmal sogar gegen die das Publikum schützende durchsichtige Isolierfolie schießen! Auch Knochen fallen! Die Idee dieses Maschinenballetts: Knochenstaub soll eine Metapher für Ritus, für die Erde und vieles Archaisches mehr sein. Das staubige Ritual in der „antike“ Gebläsehalle bleibt dennoch ein rein ästhezisitisches und hat nichts mit der Idee der Wiedergeburt des Frühlings durch ein blutiges Opfer zu tun! Aber das Maschinenballett lockt das Publikum! Wegen der starken Nachfrage, mussten schon zusätzliche Aufführungstermine gefunden werden. Und man ist schon gespannt auf Romeo Castelluccis Inszenierung von Morton Feldmanns Oper Neither, die am 6. September ihre Premiere in der Bochumer Jahrhunderthalle erleben wird. Wer ins Ruhrgebiet aufbricht, sollte sich Zeit nehmen, die Industriebrachen zu besichtigen, zu entdecken und zu erleben. In Duisburg-Nord gibt es in der Hochofenstraße von dem brasilianischen Künstlerduo cantoni-crescenti eine 70 Meterlange begehbare und auf Federn vibrierende Metallplatte, die je nach Masse und Bewegung enorm lärmt, aber vor allem dem Publikum ein Lächeln auf die Lippen zaubern soll.
Auch einige Museen in den Stadtzentren sind in diesem Jahr wieder mit einbezogen. Eine Video-Installation im Folkwangmuseum in Essen zieht besonderes Interesse auf sich. Unter dem Titel Eine Einstellung zur Arbeit ist dort das letzte Projekt von Harun Farocki zu erleben, das er in mehrjähriger Arbeit mit Antje Ehmann entwickelt hat. Der deutsche Kult-Videokünstler ist am 30. Juli plötzlich verstorben. Seit Mitte der 1990er hat Farocki seine Filmarbeiten zunehmend vom Kino in den Kunstraum verlegt. Mehr als 120 Filme werden weltweit in Galerien, Museen und Biennalen gezeigt. Die Ruhrtriennale ist unverhofft Gastgeberin seiner letzten von ihm kuratierten Ausstellung geworden. Kurzfilme – nicht länger als zwei Minuten und aufgenommen aus einer Perspektive ohne Schnitte, Schwenks und Kamerafahrten – zeigen Arbeiter aus zehn Metropolen dieser Erde. Ein gelegtes Gnu wird am Straßenrand beschlagen, ein Glasbläser feuert mit einem Handbunsenbrenner auf eine Glasröhre, OP-Besteck wird sortiert, oder ein Kehrmännchen sammelt Müll in einen rostigen Handkarren. Das alles wurde gefilmt von jungen Dokumentarfilmern, die Farocki und Ehman in Workshops rund um den Globus betreut haben. In Endlosschleifen laufen die Filme auf Bildschirmen, die von der Decke eines Raumes wie ein Blätterwald hängen. Sie dokumentieren, wie auch Farocki gefilmt hat. Auf Augenhöhe, um mit lebensechten Bildern zum Nachdenken anzuregen über soziale, kulturelle und auch politische Themen.

Weitere Informationen zu allen Veranstaltungen noch bis zum 28. September 2014 unter www.ruhrtriennale.de

Das Kammerorchester Carl Philipp Emmanuel Bach löst sich auf und winkt unter Hartmut Haenchen zum letzten Mal mit den drei letzten Sinfonien von Wolfgang Amadeus Mozart!

Berlin Classics Best.Nr. 0300587BC
Berlin Classics Best.Nr. 0300587BC

Wer den Dirigenten Hartmut Haenchen im Juni, im Toulouser Opern-Orchestergraben zur Richard Straussens Daphne-Premiere erlebt hat, konnte sich davon überzeugen, dass der Anfang 70jährige ein unermüdlicher Kämpfer für die Partitur geblieben ist – auch gegen ein widerständiges Orchester (siehe Premierenbericht). Davon kann natürlich beim Carl Philipp Emmanuel Bach Kammerorchester keine Rede sein! Obwohl Haenchen als junger Schweriner Generalmusiker gerade seines Amtes enthoben, weil er sich den musikalisch inakzeptablen Wünschen zu einem Staatstragenden Fest nach DDR-Maßstab nicht gefügt hat – kürt ihn das Carl Philipp Emmanuel Bach Kammerorchester im Berliner Osten 1980 zu seinem Chef. Das war die Wahl für einen musikalischen Überzeugungstäter! Und der laut Stasi-Akten als „Staatsfeind“ geführte Dirigent ist hartnäckig! Er schwört sein Ensemble auf den Namensgeber ein. Und da Aufführungen schwierig sind, konzentriert man sich auf Aufnahmen. Die Gesamtaufnahme aller 18 Sinfonien von Carl Philipp Emmanuel Bach geht dann auch als eine Pionierleistung in die Geschichte ein. Vor allem im Westen sorgt sie für Furore und Preise, in der DDR für Reputation, vor allem Devisen und leitet die Rehabilitierung ein. 1986 darf Haenchen sogar mit dem Segen Honeckers seinen ersten Auslandsjob in Amsterdam antreten. All das sind sicherlich Gründe, warum Haenchen seinem Kammerorchester bis zuletzt die Treue gehalten und mitgeholfen hat, auch die Wende ohne nennenswerte staatliche Hilfe zu überleben und eine eigene Reihe im Berliner Konzerthaus zu gestalten. Aber jetzt ging es nicht mehr weiter mit dem ehrenamtlichen Engagement von Musikern, Solisten und auch des Dirigenten.

Mit den drei letzten Sinfonien von Wolfgang Amadeus Mozart ist im Mai diesen Jahres im Berliner Konzerthaus ein fulminanter Schlussstrich gezogen worden. Der Bundespräsident höchst persönlich saß im Publikum. Die jetzt erschienene Live-Aufnahme krönt und beschliesst eine Serie von ungefähr 50 Aufnahmen. Auch auf dieser letzten stellt Haenchen noch einmal alle Vorzüge des Orchesters en nuce vor: eine kammermusikalisch durchdachte Musizierweise zugunsten eines absolut transparenten Klanges. Den Mut zu gezügelten und ausmusizierten Tempi, wie beispielsweise im ersten Satz der g-moll Sinfonie Nr. 40. Details scheinen auf, die so gern mit Schwung überfahren werden. Das Vibrato bei den Streichern ist wohl dosiert. Ein Dirigent der Klangorgien ist Haenchen ja auch nie gewesen. Lieber schenkt er den kleinen und für das große Ganze bei Mozart doch auch so wesentlichen Momenten Bedeutung und arbeitet sich an ihnen hingebungsvoll ab. Das Carl Philipp Emmanuel Bach Kammerorchester setzt die Ideen hervorragend um. Man spürt die Symbiose zwischen Musiker und Dirigent. Es sind in jedem Moment hörbar beglückende drei letzte Sinfonien!
Sabine Weber

CD-Favoriten: Rival Queens! Vivica Genaux und Simone Kermes veranstalten barockes Diventheater und schleudern mit Arienkostbarkeiten nur so um sich!

Sony Classical Best.Nr. 88843023662
Sony Classical Best.Nr. 88843023662

„Gemeiner, Grausamer, Verräter! …“ Wut steht Diven meist gut zu Gesicht! Aus eher leisen Registern entwickelt Simone Kermes ihren Zündstoff. Plötzlich bricht es dann messerscharf hervor. Und schon verlöscht die Flamme wieder in zischenden Sprachlauten, um an anderer Stelle wirkmächtig wieder aufzulodern. Vivica Genaux liebt eher den Frontalangriff. Mit Schmelz, Volumen und schier nicht zu bremsenden Koloratursalven zwingt die USAmerikanierin den Gegner in die Knie. Oder die Gegnerin? Diventheater ist schon immer Karrierefördernd gewesen! Das hat der legendäre Zickenkrieg von Francesca Cuzzoni (Parma) und Faustina Bordoni (Venedig) bereits Anfang des 18. Jahrhunderts bewiesen. Und weitaus mehr Komponisten als bekannt, haben sich darum gerissen, den Damen das Arsenal zu füllen. Wer hätte je von Giuseppe Arena einen Tito, von Geminiano Giacomelli einen Scipione oder Attilio Ariosti einen Lucio Vero auf der Bühne erlebt? Mit 12 Arien in Weltersteinspielung wartet die CD auf, das sind Pfunde! Gut, nur Arien. Und ob die Opern zu Aufführungen taugen ist damit noch nicht gesagt. Aber was zu hören ist, ist hochexplosives Rüstzeug für gurgelgeläufige Diven. Und Kermes und Genaux, so unterschiedlich sie in ihrem Timbre und Singverhalten auch sein mögen, ergänzen sich großartig, beispielsweise im Duetto di Cloefide e Poro aus Cleofide von Johann Adolf Hasse. Das haben die Cuzzoni und die Bordoni damals nicht hinbekommen. Auf der Londoner Bühne des King’s Theatre sind sie aus ihren Rollen gefallen und haben sich offen angegiftet. Ein Skandal! Zur Freude des Publikums, der Pamphletisten und Karikaturisten. Das hat die Fan-Gemeinden natürlich gespalten. Schwer zu sagen, wem man auf dem nachgestellten Schlagabtausch der aktuellen CD den Vorzug gibt. Die Stimme der Kermes ist nicht groß, klingt manchmal auch eng. Ihre Kadenz vor dem Da capo in Villanel la nube estiva ist trotz der Spitzentontiraden Geschmackssache. Aber sie wagt etwas, ist außerdem eine Virtuosin in der Ausgestaltung kleiner und überaschender Details, weswegen man ihr affektgeladene Manirismen auch sofort verzeiht. Es knistert, wenn sie singt! Der Mezzo der Genaux, mit deutlich mehr Vibrato, ist immer kurz vor der Explosion. In den Koloraturen scheint sich die Stimme schon einmal fast zu überschlagen und bekommt sogar manchmal etwas ravissant bellendes. Das sprudelnd Wilde wirkt aber nie unkultuviert, eben nur wie aus einem Urgrund hervorbrechend. Die unterschiedlichen Qualitäten der Damen ergänzen sich perfekt. In der Gegenüberstellung und im Duett. Hier stehen sich zwei ebenbürtige Diven gegenüber, und man könnte sich beim Hören vorstellen, wie sie sich wutschnaubend die Perücken vom Kopf zupfen und dann Mitleidheischend dem Publikum Dekolleté und Leid ofenbaren. Sie werden ja auch bestens angeheizt von der Cappella Gabetta, geleitet von Andrés Gabetta. Wer italienische Barockopern und Koloraturstarke Diven im Extremeinsatz liebt, der ist mit dieser CD wirklich gut bedient!
Sabine Weber

Premieren, Streik und Entdeckungen auf dem Festival d’Art lyrique in Aix-en-Provence

Die Kultur ist in Gefahr! Steht auf dem Plakat über dem erzbischöflichen Palast in Aix-en-Provence. Foto: Sabine Weber
Die Kultur ist in Gefahr! Steht auf dem Plakat über dem erzbischöflichen Palast in Aix-en-Provence. Foto: Sabine Weber

Aber auf dem kleinen von Platanen beschatteteten Platz vor dem erzbischöflichen Palast herrscht wieder Normalität! Jeder Bistrottisch ist besetzt. Auch die eingedeckten Esstische daneben, und an ihnen vorbei pilgert ein Strom von Menschen zum Holztor des Palastes, das weit offen steht. Im Innenhof findet heute Abend eine weitere Vorstellung von Georg Friedrich Händels Ariodante statt. Neben uns am Esstisch sitzen eine Dame, sorgfältig geschminkt und frisiert, und ihr Begleiter. Beide um die 80 Jahre alt. Sie warten auf die Bedienung, die nicht kommt. Alle wollen jetzt bezahlen und gleich in die Vorstellung. Die Dame wedelt geduldig mit Geldscheinen, gerade abgezupft von einer Geldnadel, die sie aus der Hemdbrusttasche unter der dicken Strickjacke hervor gezogen hat. Der Mistral der letzten Tage war wild und kühl. Aber er hat nachgelassen, wie auch die Unruhen bei der Festivalseröffnung. Die „Intermittents“, die auf Zeit beschäftigten künstlerischen Festivalmitarbeiter, haben ihren Unmut über gerade von der Regierung abgesegnete Kürzungen ihres Aufstockungsgehaltes ziemlich deutlich gemacht. Vor der ersten Premiere von Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte im Großen Theater jenseits der Altstadt legten sie sich quer vor den Eingang. Das Publikum musste über sie hinwegsteigen. Die zweite Premiere, die erste auf der traditionellen erzbischöflichen Open-air Bühne im Innenhof, wird mit heftigem Protestlärm – Pfeifen und Topfschlagen – einen Akt lang akustisch beschossen. Das hat man in den leisen und delikaten Stellen, die das Freiburger Barockorchester und auch das Sängerensemble zu bieten hatte, schmerzlichst gespürt. Auf der Hochtribüne hinten hat man das Orchester gar nicht mehr hören können. Angeblich seien militante Intermittents einmal hinter die Bühne vorgedrungen und hätten die Sängerin der Titelpartie, Sarah Conolly, gehindert auf die Bühne zu kommen. Tatsächlich wurde die Aufführung mehrfach unterbrochen. Unter anderem, weil eine Alarmanlage ausgelöst wurde. Ein Frankreich-weit ausgerufener Generalstreik beschert der nächsten Freiluft-Premiere das komplette „aus“. Das Publikum und auch die Musiciens du Louvre unter Marc Minkowski konnten sich also das WM Spiel Deutschland gegen Frankreich anschauen. Die nachgeholte Premiere von Gioacchino Rossinis Turco in Italia findet dann drei Tage später nur konzertant, und zwar im Grande Theatre statt. Dieses 2007 von der Region dem Festival geschenkte hypermoderne Theaterhaus, dessen Architektur an den leuchtenden Berg Mont Sainte Victoire vor der Stadt erinnern soll, wirkte mit den rundum geschlossenen Eisentoren allerdings wie ein Hochsicherheitstrakt. Während der Pause darf das verbarrikadierte Gelände nicht verlassen werden. So fühlt sich kein erquicklicher Premierenstart an. Der mediterrane Süden und das Ambiente der Stadt Aix-en-Provence bleibt ausgeblendet. Vor allem ist man von den künstlerischen Leistungen abgelenkt, die trotz der Widrigkeiten ja hier erbracht wurden. Als Sarastro in eben diesem Hochsicherheitstrakt am Beginn des zweiten Aktes der Zauberflöte die Vision einer friedlichen Zukunft heraufbeschwört, hofft man das inständig für Frankreichs Sommerfestivalbühnen. Auf dem Theaterfestival in Avignon mussten nämlich alle Auftaktpremieren abgesagt werden. Auch das hiesige Festival hat 2003 schon einmal einen Streik der Intermittents erlebt. Wegen aktiver Störaktionen musste damals das ganze Festival abgesagt werden. Dieses Mal hat man vorsorglich Absprachen getroffen. Das Festival stellt sich hinter die Forderungen seiner off-stage Arbeiter und unterstützt deren Anliegen mit Ansagen vor oder nach dem Konzert und mit Erklärungen im Programmheft. Dafür wird ein ungestörter Ablauf garantiert. Unfair also, dass sich eine Truppe von Störern nicht an die Abmachungen gehalten hat. Denn letztendlich sind die auf Zeitbeschäftigten von diesem Arbeitgeber mitabhängig. Man darf sich natürlich auch fragen, warum die französische Regierung ausgerechnet kurz vor Beginn der Festivalsaison, also Anfang Juli, die Neuregelungen abnicken musste. Das könnte man zynisch als „friendly fire“ bezeichnen. Die finanzielle Not, der Sparzwang scheinen groß zu sein. Jedenfalls hat das Festival hier, auch wenn es eines der traditions- und prestigträchtigsten in Frankreich ist, für zurückgegebene Billette und ausgefallene Vorstellungen keine Ausgleichzahlungen zu erwarten.

Sarah Conolly als Ariodante, Petricia Petibon, seine Braut, und Luca Tittoto als noch-glücklicher Vater im ersten Akt! Foto: Pascal Victor
Sarah Conolly als Ariodante, Petricia Petibon, seine Braut und Luca Tittoto als glücklicher Vater im ersten Akt! Foto: Pascal Victor

Gott-sei-Dank hat sich ein großer Teil des Publikums als stoisch euphorisch erwiesen!
Über das Sängeraufgebot gab es auch wirklich nichts zu meckern. In Ariodante setzt das Ensemble, begleitet vom Freiburger Barockorchester unter Andrea Marcon, Spielfreude gegen Störaktion. Der König im Schottenrock, der Schurke im Priestergewand. Im zweiten hochemotionalen Akt in ihrer großen Arie Scherza infida Sarah Conolly als Ariodante im Holzfällerlook – bis hin zur berühmten Wahnssinnsszene im dritten Akt, in der Patricia Petibon nur im Nachthemd eine nicht zu überbietende Verzweifelte gibt. Am Ende packt sie trotz glücklichem Ausgang die Koffer und zieht aus. Im erdrückend engen Spießermilieu eines schottischen Highland-Clans – nur in einer Steinhütte wird gespielt – ist das für Regisseur Richard Johnes eine zwingende Notwendigkeit.
In der Zauberflöte lässt die Männergesellschaft die Frauen insgesamt sehr alt aussehen. Die Königin der Nacht trällert im Rollstuhl – treffsicher und klangewaltig trotz Koloraturenzirkus, Kathryn Lewek. Oder die Frauen geben sich militant, wie die drei Damen in Tarnanzügen. Diese Deutung offenbart nichts Neues. Regisseur Simon McBurney erobert aber etwas vom Stegreifspiel der Uraufführungsbühne – dem Theater an der Wien – zurück. Neben dem beweglichen schwarzen Bühnenboden gibt es ein spontan improvisiertes Bilder und Geräuschkabinett. Mit allerlei Gerätschaften zur Hand kreieren und projizieren ein Bild-, beziehungsweise Geräuschkünstler zum laufenden Geschehen Effekte, die das Bühnenbild ersetzen und auch die Sprechdialoge begleiten.

Mari Eriksmoen als Pamina im Videostrudel. Foto Pascal Victor
Mari Eriksmoen als Pamina im Videostrudel. Foto Pascal Victor

Die Sänger sind auch hier durch die Bank vorzüglich. Da nimmt man hin, dass die meisten mit Akzent und Stütze die Singspieldialoge verkünsteln. Überrascht haben die drei kleinen Solisten vom Knabenchor der Chorakademie in Dortmund. Trotz Glatze und Gehstock gebeugt hutzelig – Kinder gehören hier auch auf die Verliererseite – sind sie spitzenmäßig und wirklich singende Weltklasse!

Foto: Pascal Victor
Foto: Pascal Victor

An den Dirigenten gäbe es schon etwas herumzukriteln. Pablo Heras-Casado scheint die Sänger mehr oder weniger alleine lassen zu wollen. Und ein verschlepptes Tempo wie in Paminas Arie Ach, ich fühl’s im zweiten Akt ist alles andere als ein Garant für mehr Ausdruck. Immer nur vorwärts und noch schneller stürmende Tempi sind bei Marc Minkowski angesagt. Den zwar seltenen aber dennoch vorhandenen besinnlichen Momenten in Gioacchino Rossinis Il Turco in Italia will er nicht nachgeben. Bewundernswert packen die Sänger an Parlandogeschwindigkeit, kurz vor dem Endspurt, auch eins drauf. Olga Peretyatko als launisch-volante und in den Höhen Koloraturfeste Fiorilla. Ihre Verzeiharie zum Schluss ist der Höhepunkt des Abends. Lawrence Brownlee, Fioriallas „offizieller Geliebter“, ist man tags zuvor in den Gassen von Aix vor sich hin trällernd begegnet. Alessandro Corbelli, ein gehörnter Ehemann, wie man ihn sich vorstellen mag, und nicht zuletzt Pietro Spagnoli ist ein witziger Schriftsteller, der in diesem emotionalen Beziehungsdurcheinander den Kick für eine Story zu finden hofft, als eine türkischer Ausländer sich einmischt und von Fiorilla angebaggert wird oder umgekehrt.

Zwei weitere inszenierte Premieren der besonderen Art sind die Winterreise von Franz Schubert mit Video-Animationen vom südafrikanischen Künstler William Kentridge. Die bewegten, zumeist schwarz-weiß lavierten Tusche- oder Kohlezeichnungen mit afrikanischen Landschaften, Bäumen, Steppen und Menschensilhouetten bleiben aber ein Medium für sich und ohne Interaktion zu dem Bariton Matthias Goerne und seinem Begleiter Markus Hinterhäuser. Katie Mitchells inszenierte Trauernacht im Rokokotheater du Jeu de Paume, mit Auszügen aus dem Leipziger Kantatenwerk Johann Sebastian Bachs, aus seinem Orgelkonzert und späten Chorälen blieb optisch reduziert auf ein lähmendes Kammerspiel am Tisch mit vier Gesangssolisten in slow motion. Begleitet hat ein Ensemble aus Mitgliedern der Accadémie européenne de musique des Festivals, und auch die Sopranistin des Abends, die Irin Aoife Miskelly, ist eine ehemalige Teilnehmerin aus der das Festival seit Jahren begleitenden Akademiearbeit. Aus diesem Pool sind auch Olga Peretyatko aus Il turco, die Pamina Mari Eriksmoen oder Luca Tittoto der Schottenkönig aus Ariodante hervorgegangen. Die Akademie scheint ein funktionierender Umschlagplatz oder Treffpunkt zu sein, wo sich nicht nur junge Künstler für zukünftige Produktionen perfektionieren oder empfehlen. Jedes Jahr werden Regisseure, Sänger, Instrumentalisten oder ganze Ensembles eingeladen, hier mit gestandenen Künstlern zu arbeiten. Bis zum Ende des Festivals gibt es auch Konzerte der Teilnehmer. Im letzten Jahr hat der in Düsseldorf lehrende Komponist Manfred Trojahn die Festivalakademie geleitet. Dieses Jahr stellt er einen im Auftrag des Festivals komponierten Zyklus auf Texte des in der Provence geborenen Dichters René Char vor.
Für das provenzalische Festival sich der Ästhetik eines zu den Surrealisten und der Résistance zählenden französischen Autors zu bedienen, habe in mehrerlei Hinsicht nahe gelegen. Char habe in der rauen Umgebung, damals alles andere als eine Ferienlandschaft, Sinnbilder seines eigenen künstlerischen Überlebenskampf gefunden. Eine Form der Résistence sei das gewesen, die auch darauf abgezielt hätte, gesellschaftlich erwarteten Normen zu widersprechen. In einer solchen Positionierung erkennt Trojahn sich durchaus als Komponist Neuer Musik wider. Denn er hat nie zur Speerspitze einer Moderne gezählt, wollte kein Erfüller radikaler Normen sein. Bereits 2012 hat er im Auftrag vom Frankfurter Ensemble Modern eine Komposition an René Chars zentraler Aussage zünden lassen: „Vor dem Tod bleibt uns nur eins: Kunst zu machen.“ Mit Contrevenir – was soviel wie Entgegnung durchaus im kontroversen Sinne bedeutet, hat er das Stück überschrieben und es dem Andenken Hans Werner Henzes gewidmet, dem er sich künstlerisch eng verbunden fühlt. Contrevenir – im neuen Festivalzyklus ins Zentrum gestellt – für die französische Erstaufführung ist auch das Ensemble Modern angereist – hat Trojahn den Prosatext L’Éternité de Lourmarin für lyrischen Sopran und Ensemble neu ergänzt, ein imaginierter Gedankenaustausch Chars mit dem tödlich verunglückten Freund Albert Camus. Im provenzalischen Lourmarin hatte Camus einen Wohnsitz. Und dann einen der vielleicht provokantesten Sentenzen, für Sopran und Klavier, als bissigen Kommentar hinzu gefügt: „Gehorcht ihr euren Schweinen, die existieren. Ich unterwerfe mich den Göttern, die nicht existieren.“ Das und zum Ausklang ein Text, wieder für Sopran und Ensemble, mit dem irritierenden Titel L’Allegresse – er handelt nämlich von geistiger Entbehrung und Tod – fügt sich zu einem fast 40 minütigen duchlaufenden Gesamtwerk. Es gibt leise, sich aufbauende Klänge, die Bratsche spielt oftmals die erste Geige, opulente und feinherbe Klangnuancen, heftige Schlagzeugaktionen, ein Altposauenensolo. Sabine Devieilhe überzeugt mit einer in höchsten Tönen treffsicheren und mit pianissimo Dynamiken bezaubernden Stimme. Sie gehört ebenfalls zu den in der Akademiearbeit entdeckten Stimmen.
Dass sich auf diesem „Opern“-Festival ein auf Neue Musik neugieriges Publikum zeigt und in Konzertangeboten auf seine Kosten kommt, ist auch in dem Kammermusikkonzert mit dem jungen Belà-Quatuor zu erleben gewesen. Das neue Streichquartett von Jerôme Combier wartet nicht nur mit reibenden Microintervallverschiebungen auf, ein präparierter Steg auf den Streichinstrumenten sorgt für unerhört neue Klänge und eine gespenstische Atmosphäre. Zum Schluss werden die vier Streicher sogar von elektronischen Klängen aus der Ferne zum Schweigen gebracht. Parler longuement de fantômesUm von den Geistern zu sprechen lautet der Titel. Die Geister, die den Komponisten schon einmal verfolgen können, seien damit gemeint, erklärt der Primarius vor der Uraufführung. Das dritte Streichquartett von Béla Bartòk zum Schluss beweist dann wieder, wie radikal modern Bartok bereits 1934 komponiert hat.
Zu erwähnen wären auch noch die hochkarätigen Orchesterkonzerte, unter anderem mit dem Orchestre de Paris unter Paavo Järvi mit Waltraut Meier als Solisten in Richard Wagners Wesendonckliedern. Und die vielen Ereignisse, die man nicht mitbekommt, aber an den abendlichen Warteschlangen erkennen kann, beispielsweise vor dem Hôtel Maynier D’Oppède, direkt vis-à-vis zum erzbischöflichen Palast. Auch hier hat das Festival Musik im Angebot und noch bis zum 24. Juli! Zweifellos die musikalische Kultur boomt hier in Aix – Dank dieses Festivals, das hoffentlich zukünftig ungestört bleibt!
Sabine Weber

Über Streik, Politik und menschliche Krisen in der Kunst! Regisseur Patrick Kinmonth über seine Inszenierung von Richard Strauss‘ Oper „Daphne“

Patrick Kinmonth ist Ausstatter und Regisseur. Seine Regiearbeit in Frankreich stand unter keinen guten Vorzeichen.
Seine Regiearbeit in Frankreich stand unter keinen guten Vorzeichen.

Ein Juwel nennt Regisseur Patrick Kinmonth diese Oper. Seine Augen leuchten, wenn er auf die eher selten aufgeführte vorletzte Oper von Richard Strauss zu sprechen kommt. Intensiv hat er sich in den letzten zwei Jahren mit diesem Werk auseinandergesetzt. Das Théâtre du Capitole de Toulouse wollte am 15. Juni 2014 dieses Werk in seiner Neuinszenierung herausbringen. Dass die Premiere in Toulouse wegen eines Streiks abgesagt wurde, hat den gebürtigen Iren künstlerisch tief getroffen – bei allem persönlichen Verständnis für die Notwendigkeit des Streiks. (Die Fragen stellt Lina-Marie Dück)

Diese Premiere zum 150. Geburtstag von Richard Strauss sollte nicht nur für den Jubilar, sondern auch für Sie ein großer Moment werden. Dann hat der Streik der Intermittents, der befristet Beschäftigten des Théâtre du Capitole, zur Absage der Premiere in Toulouse geführt. Wie haben Sie sich letzten Sonntag gefühlt?

Ich war absolut am Boden. Entsetzt darüber, dass ein großer Moment für mich zerstört wurde. Nicht nur, weil einige Vertreter der Musikszene zur Premiere angereist waren, die für mich und meine Karriere wichtig gewesen wären. Aber auch, weil diese Neu-Inszenierung für mich die Gelegenheit war, Frankreich, diesem wunderbaren Land, dem ich schon durch zahlreiche kleinere Projekten künstlerisch verbunden bin, und seinem wunderbaren Publikum etwas zurückzugeben. Aber ich bin ja nur eine Person, die betroffen ist. Natürlich ist es sehr wichtig, dass die Leute sich in der Öffentlichkeit in Form des Streiks ausdrücken und äußern. Das ist ein unglaublich wichtiger Dialog. Gerade weil sich Frankreich und auch Europa insgesamt in einer sehr schwierigen und auch gefährlichen Zeit befinden. Man muss ständig Politik, Kunst, Geld, Kultur und auch soziale Gerechtigkeit gegeneinander abwägen.

Was passiert, wenn eine Premiere abgesagt wird?

So etwas wirkt unglaublich destruktiv. Wenn du eine Produktion planst, entwirfst du auch immer eine genaue Strategie, für jeden einzelnen beteiligten Künstler. Und wir haben alle konzentriert auf den einen Moment hingearbeitet. In der ersten Aufführung sitzen zudem alle Kritiker. Für mich waren das fast zwei Jahre Vorbereitung. Ich habe ja auch die Kostüme und das Bühnenbild entworfen. Das alles konzentriert auf diese anderthalb Stunden. Wird die Premiere dann abgesagt, ist das als ob plötzlich der Teppich unter den Füßen weggezogen wird. Die gesamte angestaute Energie entlädt sich ohne den erhofften Erfolg im Gegenzug. Das ganze Ensemble fühlt sich irgendwie verloren. Die Künstler dann nachträglich wieder in die Strategie, den Plan zurückzugewinnen, ist fast unmöglich.

Wie haben Sie versucht, Ihr Team wieder zu motivieren?

Ich versuchte den Prozess, die Geschichte wieder aufzubauen. Daran zu erinnern, wohin unsere Reise führen sollte und wie wir es ins Ziel geschafft haben. Die Oper Daphne wird nicht oft aufgeführt und ist extrem schwer zu singen. Sie ist eines der gesanglich am meisten herausfordernden Werke von Strauss.
Meine Mission war eine Neu-Inszenierung, die es erlaubt, von der ersten Note an in eine Zauberwelt einzutauchen, so, wie Strauss sich das vorgestellt hat. Wie in einem Film. Ich musste also die Künstler daran erinnern, was für eine großartige Welt wir doch geschaffen haben. Ich habe versucht, sie wieder darin eintauchen zu lassen und dabei die widersprüchlichen Emotionen – durch diesen Vorfall ausgelöst – vergessen zu machen.

War es das erste Mal, dass Sie die Absage einer Premiere erlebt haben?

Streiks habe ich schon oft erlebt. In Italien, in Frankreich. Aber dass meine individuelle Arbeit so behindert wurde und eine Premiere abgesagt wird, das noch nie!

Sollte Ihrer Meinung nach denn überhaupt eine Beziehung zwischen Kunst und Politik bestehen? Muss ein Künstler als Person und mit seiner Arbeit auch politisch Position beziehen?

Natürlich sollten Kunst und Politik in Beziehung zueinander stehen! Es ist unmöglich, in der Kunst nicht politisch zu sein. Alles was Kunst macht, insbesondere in Opern, handelt von Liebe, Leben und Tod. Das sind Dinge, die die Politik auch tangieren. Wie wir lieben, leben und sterben bestimmt letztlich die Regierung mit!

 Was ist mit Strauss und seiner Oper Daphne? Spielen da nicht auch politische Dimensionen hinein? Ab 1933 nahm Strauss ja zunächst als Präsident der Reichsmusikkammer ein öffentliches Amt im Regime der Nationalsozialisten wahr, dann fiel er in Ungnade, weil er mit Stefan Zweig zusammenarbeiten wollte, der ihm das Libretto zur Oper Die schweigsame Frau geliefert hat. Daphne entstand dann 1936-37.

Daphne ist tatsächlich eine sehr politische Oper. Strauss komponierte sie zu einer Zeit, in der er unter ziemlich komplexen Umständen mit den Nazis in Deutschland interagierte. Als Präsident der Reichsmusikkammer arbeitete er mit diesen – heute – „Personae non gratae“ täglich zusammen. Er selbst war erwiesenermaßen weder Antisemit, noch Rassist und auch nicht Teil einer Propaganda-Maschine. Er dachte, dass seine Musik, seine Kunst und sein Leben wichtiger seien und am Ende gewissermaßen das Geschehen überleben würden. Damals war auch noch nicht klar, was passieren würde. Dann wurde er als Neurotiker und Hysteriker aus seinem Amt entlassen und blieb nur unbeschadet, weil er bereits zu berühmt und angesehen war. Vor diesem Hintergrund ist Daphne also aus einer politisch heiklen Situation heraus geboren.

Welche politische Stellungnahme bestimmt Ihre aktuelle Inszenierung in Toulouse?

Die Oper an sich und auch diese Inszenierung ist eine Darstellung gewaltiger Themen: Es geht ja auch um Gewalt, Frieden, Liebe und Tod und deren Verbindungen. Da ist zunächst ein Gott, Apollo, der Macht hat. Er ist der Gott der Weissagung, aber auch ein Todesbringer und ein Gott der Plagen. Als Sonnengott verkörpert er im gewissen Sinne auch Zerstörung – die Sonne spendet Leben. Ihre Hitze ist aber auch verheerend. Leukippos dann ist ein einfacher Junge, ein Schäfer. Daphne ist kein gewöhnliches Mädchen. Ihr Vater ist ein Flussgott, also trägt sie auch etwas Göttliches in sich. Sie steht zwischen dem Gott und dem Mann, die sie beide lieben. Ein Liebes-Dreieck! Aber Daphne will keinen von beiden. Sie ist eine Waldnymphe und im gewissen Sinne asexuell, allein mit der Natur, dem Wasser und Blumen verbunden. Mit physischer Liebe will sie nichts zu tun haben. Damit verleugnet sie natürlich auch sich selbst. Das ist eine Verweigerungshaltung – wie sie zu der Zeit, in der die Oper entstanden ist, für viele Deutsche typisch war. Dann verliert Apollo die Nerven und auch die Kontrolle. Strauss drückt damit aus, dass die eigentliche Gefahr darin liegt, sich wie ein Gott zu verhalten, wenn man weitreichende und absolute Macht für persönliche Zwecke missbraucht. Das Gespür für die eigene Verantwortung zu verlieren, den Weg der Gewalt zu wählen und schließlich einen Menschen zu töten, weil man die Macht dazu hat, das korrumpiert den Sinn für Recht und Unrecht. Das führt zum Desaster! Liebe, Frieden und Glück werden der Welt genommen. Im Kontext von 1936 ist das eine sehr prophetische und auch pazifistische Aussage. Eine Warnung!
Damit wollte ich mich in meiner Inszenierung unbedingt auseinandersetzen. Aber der politische Bezug sollte nicht erdrückend sein. Er ist da und muss erkannt werden.

In der Vorphase des Zweiten Weltkriegs war für Strauss die Auseinandersetzung mit der Mythologie ja auch eine Art Weltflucht…

Unbedingt! Das ist auch sehr wichtig. Daher wollte ich eine völlig glaubhafte Märchenwelt schaffen. So, wie Strauss es meinem Verständnis nach auch beabsichtigte. Die Gefühle sind real, aber die Situation ist es nicht. Ich glaube, das ist auch ein Grund, warum Strauss sich mit diesem Mythos beschäftigt hat.

Der letzten Verwandlungsszene gilt ja seit je her eine besondere Aufmerksamkeit. Pünktlich zum Geburtstag von Strauss am 11. Juni wurde auch in der Dresdner Semperoper Daphnes Schlussgesang als Höhepunkt in einem Galakonzert gebracht. Was die Umsetzung in Bilder betrifft, müsste dies doch eine der größten Herausforderung sein, oder nicht?

Ahh – die Verwandlung… Mir ist völlig bewusst, dass die Leute manchmal besessen sind von der szenischen Umsetzung. Bei Wagners Ring zum Beispiel davon, wie man Riesen darstellt, Rheintöchter, das Wasser, den Rhein auf der Bühne. Und bei Daphne ist es ihre Verwandlung in einen Baum. Das sind 25 Minuten reine Musik, die sich am Ende der Oper nur dieser Verwandlung widmen. Das baut natürlich eine Erwartungshaltung bei den Zuschauern auf. Letztlich findet man immer irgendeine Lösung.
Jedenfalls wollte ich die Oper nicht in die moderne Zeit versetzen. Das wäre nicht mehr das Märchen, das Strauss erzählen wollte. Aber ich wollte natürlich auch zeigen, dass die Verwandlung nicht das einzige ist, was in dieser Oper passiert. Ja gut, Daphne endet als Baum. Aber im Grunde ist das nur eine sehr schöne, aber auch sehr einfache Auflösung. Die Musik zur Verwandlungsszene ist atemberaubend, und man muss sich ihr angemessen widmen. Aber es ist eben nicht die ganze Geschichte! Was ich viel interessanter finde ist der Konflikt zwischen den Protagonisten, ausgelöst durch Leukippos’ Tod. Ich wollte sichergehen, dass ich mich ausreichend mit dieser Krise auseinandersetze. Diese Schwerpunktsetzung habe ich dann natürlich auch bewusst auf die Bühne übertragen.

Auch Daphnes Bewusstwerdung ihrer Rolle in diesem Konflikt scheint für Sie wichtig zu sein…

Ja genau. Was sie für sich entdeckt, ist die mögliche Tiefe von Emotionen! Und diese Spur legt auch die Musik. Bis zu dem Moment, in dem Leukippos stirbt, hat Daphne wunderschöne aber eher oberflächliche Musik. Sein Tod zwingt sie zu erkennen, dass sie erwachsen ist und auch Verantwortung hat. Sie muss ihn gebührend betrauern. Sie wird mit dem Faktum konfrontiert, dass ihre Passivität und das Nicht-Handeln vorwerfbar sein können. Was ebenfalls eine bedeutsame politische Implikation im Kontext von 1936 ist.

Das Gespräch führte Lina Marie-Dück unmittelbar nach der abgesagten Premiere am 15. Juni 2014. Sie wurde am 19. Juni 2014 in Toulouse nachgeholt. Siehe Kritik von Lina Marie-Dück.

Arkadien unter Polizeischutz! Daphne von Richard Strauss feiert in Toulouse endlich Premiere!

(Das Arkadien von Patrick Kinmonth. Andreas Schager und Claudia Barainsky als Apollo und Daphne. Foto: Patrice Nin)
Vier Tage nachdem die eigentliche Premiere aufgrund eines Streiks der sogenannten „intermittents“, der nicht festangestellten, sondern nur auf Produktionsdauer Beschäftigten des Kulturbetriebs wie Bühnenarbeiter, Maskenbildner, etc. abgesagt wurde, sammeln sich an diesem Donnerstagabend erneut Opernbesucher vor dem Théâtre du Capitole in Toulouse. Uniformierte Polizeibeamte stehen allerdings breitbeinig links und rechts des Eingangsportals. Diesmal gibt es keine Demonstranten. (Von Lina-Marie Dück)

(Théâtre du Capitole de Toulouse, 19. Juni 2014) Eine Viertelstunde vor dem offiziellen Beginn spielt sich das Orchester ein. Die Bühne lockt bei geöffneten Vorhängen die Zuschauer in ein Zauberreich. In eine Felsenlandschaft. Alles grau. Ein mächtiger Gesteinsbrocken in der Mitte und einige Darsteller steinzeitlich gekleidet auf ihm sitzend, liegend, umherwandernd, geben eine erste Ahnung von der Fabelwelt, in die die Reise führen wird. Rundherum Wasser. Aus einer Amphore fließt ein Rinnsal. Hinten rechts ein Grabmal mit der Inschrift „Et in arcadia ego“, lateinisch für „auch ich in Arkadien“. Die Inschrift findet sich in Literatur und Malerei bereits seit dem 17. Jahrhundert und ist in ihrer Interpretation umstritten. Von naheliegenden Mahnungen der Gegenwärtigkeit des Todes bis zum Verständnis als „Grabschrift aller Lebendigen in der sich immer wieder verwandelnden, wiedergebärenden Schöpfung“.

Dann geht doch noch einmal der Vorhang hinunter. Ein Vertreter des Théâtre betritt die Bühne und kommt auf die prekäre Lage der „intermittents“ zu sprechen. Aufgrund einer angestrebten Gesetzesänderung stehen massive Kürzungen der Sozialleistungen bevor. Das Théâtre du Capitole de Toulouse als zweitgrößter Arbeitgeber im kulturellen Bereich nach der Opéra de Paris stehe voll hinter den Forderungen seiner Mitarbeiter und ebenso beunruhigt einer ungewissen Zukunft gegenüber. Nach dem Abgang des Redners lauter Applaus und sogar einige Bravo-Rufe von den Zuschauern.

Nach dem politischen Intermezzo öffnet sich der Vorhang wieder. Wir tauchen erneut ein in eine andere, aber ebenso wenig sorgenfreie Welt. Schritte plätschern durchs Wasser. Bevor die Musik einsetzt noch einmal völlige Dunkelheit im gesamten Saal. Stille. Zur Ouvertüre und ihrem Thema, so eindrücklich von der Oboe vorgestellt, tritt Daphne auf die Bühne, ein kleines Bäumchen bei sich. Liebevoll pflanzt sie es ein und begießt es, das Wasser mit bloßen Händen schöpfend. Dann legt sie sich im Vordergrund der Bühne nieder und schlummert ein. Die Traumwelt kommt in Bewegung. Ein Alphorn wird auf den Felsen getragen, ruft zum Fest und wird sinnbildlich zum Füllhorn.
Die schon jetzt spannungsgeladene Musik von Strauss findet ihr Gegenüber auf der Bühne in kleinen Schubsereien und Tritten. Erste Anzeichen der Gewalt auch in diesen arkadischen Welten. Ein Ensemble von Tänzern belebt das Bühnenbild mit fließenden Bewegungen. Die Choreographie wird im Laufe der Darstellung immer intensiver. Dann Daphnes erster Sologesang. Wobei Claudia Barainsky in der Titelrolle mit etwas zu scharfem Timbre irritiert, vor allem in den höchsten Lagen.

Das bukolische Fest zu Ehren des Dionysos beginnt. Das Grau der Felsen wird durch gelbes Licht erwärmt, die Schäfer bringen grüne Zweige. Mit Liebe zum Detail hat Regisseur Patrick Kinmonth auch die Kostüme gestaltet. Daphnes Vater beispielsweise, trägt ein Fischernetz als Umhang. In seinem Haarkranz schimmern kleine Fischchen. Als Apollo auftritt wird er von der Menge verspottet.
Tänzer in nun leuchtend roten Kostümen vollführen Paarungsrituale im umherspritzenden Wasser. Sie enden stets mit der Zurückweisung des Mannes durch die Frau. Daphnes und Apollos Konflikt kündigt sich an. Eine Steinigung wird angedeutet. Plötzlich liegt ein Toter im Wasser wie im Dreck. Der Grabstein im Hintergrund wird zum Altar, wo der Leichnam aufgebahrt wird. Das Schicksal von Leukippos, Daphnes Jugendfreund und zweiter verschmähter Liebhaber, wird hier vorweg genommen. Weiterer Vorbote des drohenden Unheils ist ein Gewitter auf der Bühne mit Donner und Blitz samt aufwirbelnden Blättern. In der anschließenden Liebeszene gibt Apollo sich Daphne gegenüber als ihr Bruder im Geiste, ihr Seelenverwandter. Ihre Naivität ausnutzend wirft er sich schließlich über sie. Die (fleischliche) Liebe erkennend und doch dafür unempfänglich weist Daphne ihn brüsk zurück. Andreas Schager besticht als Apollo mit klarem, kräftigem Tenor. Barainsky bleibt ihm stimmlich unterlegen. Regisseur Kinmonth setzt bereits hier deutliche Akzente auf die Beziehung der Personen zueinander: Ein blauer Mantel bleibt als leere Hülle zusammengeknuddelt auf der Bühne liegen. Daphnes rote Gewand wird ohne männlichen Partner bleiben. Es folgen die Höhepunkte dieser Neu-Inszenierung: die Auseinandersetzung der beiden enttäuschten eifersüchtigen Liebhaber gipfelt im Mord Leukippos durch Apollo. Daphne wird sich ihrer Naivität und Unbedarftheit bewusst, sieht sich mitschuldig am Schicksal ihres Jugendfreunds, den sie ebenso wenig wie Apollo lieben konnte. Auch der Mörder selbst erkennt das Unrecht, dass er nicht nur dem Rivalen, sondern auch seiner Geliebten angetan hat. Durch die Verwandlung in einen Baum will er sie von ihren Mühen mit ihresgleichen erlösen. Das Bühnenbild spiegelt diese innere Entwicklung der Protagonisten wider und verändert sich auf drastische Weise. Gesteinsbrocken und Felswände verschwinden hinter einer hellen Sandstein-Mauer mit den großformatigen Lettern „APOL“. Nur ein kleiner Türdurchgang verbindet das Geschehen noch mit der Menschenwelt. Leukippos wird aufgebahrt auf einem sich aus dem Boden hebenden Altar.

Barainskys gesangliche Stärke erreicht ebenfalls ihren Höhepunkt, jetzt auch mit schönen kräftigen Stellen, bleibt aber indisponiert in den Höhen. Fantastisch dagegen Schagers Ausdruckskraft bei gleichzeitig reinem Ton in seiner letzten Arie. Auch das Orchester gibt in den großen ausschweifenden majestätischen Bögen in Straussens Musik noch einmal alles. Schließlich die Verwandlungsszene. Die Felslandschaft erscheint wieder. Daphne nun im weißen Kleid blickt aus einem Loch im Gesteinsbrocken gen Himmel. Ein Akrobat, kunstvoll gehalten im breiten Stoffband, wird von eben jenem „Himmel“ herabgelassen und bringt erneut das Göttliche auf die Bühne. Wer aber jetzt noch eine Steigerung erwartet, wird enttäuscht. Regisseur Kinmonth entscheidet sich für eine sehr pragmatische Lösung: Nach den letzten gesungenen Worten sinkt Daphne in den Felsen hinab. Die Gesteinswände im Hintergrund verschieben sich zu Paukenschlag und tiefen Fagottklängen. Ein beeindruckendes Geschehen, bei dem die göttliche Macht durch eben jene Bewegung des Elementes Erde verdeutlicht wird und die verwaiste Bühne beherrscht. Ein erneutes Auseinanderfahren der Wände eröffnet nun den Blick auf einen schlanken wohlgeformten Baum auf der Spitze des Felsens. Mitten im Bühnenbild und vom Scheinwerferlicht zum Leuchten gebracht. Dass Kinmonth für eine Verwandlung Daphnes unmittelbar auf der Bühne einfach keine zündende Idee gekommen ist, möchte man diesem vor Kreativität überquellenden Geist nicht unterstellen. Seine Wahl ist konsequent, in dem Sinne, dass für ihn der Schwerpunkt der zu erzählenden Geschichte auf den zwischenmenschlichen Entwicklungen liegen soll und nicht im Bühnenzauber.
Was auf der Bühne nicht passiert spielt sich dennoch im Ohr ab. Die schlichte Darstellung der Verwandlung ermöglicht es, sich voll und ganz auf die unwirklich ätherische Musik von Strauss zu konzentrieren. Für entsprechende Bilder in der eigenen Fantasie sorgen die sich nach oben zwirbelnden Läufe der Streicher, die verhaltene doch immer vorangetriebenen Steigerung, mündend in großen harmonischen Zirkeln und Bögen zwischen Streichern und Hörnern. Ein letzter Kraftakt für die Musiker des Théâtre du Capitole, der zum Glück gelingt. Nun ertönt auch der vokalisierende Schlussgesang Daphnes aus dem Off, ein letztes Mal begleitet von der Oboe. Schließlich der schillernde, oszillierende Schlussakkord. Der Traum, unsere Reise endet. Applaus, Applaus, Applaus und Standing Ovations.
Wirkliche Premierenstimmung kommt dennoch in diesem zweiten Anlauf nicht mehr auf. Die meisten Musiker verlassen beinahe fluchtartig den Orchestergraben. Noch ehe der Applaus verebbt ist. Auf den Gesichtern der Sänger beim Verbeugen lässt sich nicht wirklich Euphorie erkennen. Dirigent Hartmut Haenchen scheint mehr erleichtert denn zufrieden und auch Regisseur Kinmonth zeigt ein eher gequältes Lächeln. Nur Apollo genießt den Moment mit strahlender Mine – passend, sein Gesang war auch herausragend. Gleiches kann man leider nicht vom Orchester sagen. Das Orchestre National du Capitole hat sich mit starken Momenten, doch auch mit deutlichen Schwächen präsentiert.
Die Soloinstrumente, mit Ausnahme der Oboe, spielten über Passagen hinweg schief. Vor allem die Daphne begleitende Geige versemmelte die so wunderbar gedachten verspielten, verzierten Läufe, die eigentlich sogar mehr Ergänzung denn Begleitung der Arien sein sollten. Da war es wohl kein Zufall, dass sich zwei Cellistinnen immer wieder zum Einsatz der Solovioline Blicke zu warfen und ein Lachen unterdrückten. Auch Cello und Hörner fielen durch Unsauberkeiten auf.
Im Tutti hatte das Orchester dennoch glänzende Momente. Die dynamische Bandbreite dieses Orchesters ist beindruckend. Punktgenau sind die Einsätze. Der Klang bleibt stets transparent, sodass die einzelnen Instrumentengruppen mit ihren teilweise gegenläufigen Bögen und Läufen immer herauszuhören sind. Dies ist natürlich das Verdienst von Hartmut Haenchen, der mit präzisen Anweisungen die Musiker immer wieder abholt und stets bemüht ist, das Beste aus ihnen herauszuholen. Exakt koordiniert er auch das Zusammenspiel von Sängern und Orchester. Das ist harte Arbeit, die von Zeit zu Zeit erfordert, den Schweiß von der Stirn zu wischen. Für die Schlussszene legt Haenchen den Taktstock weg und leitet nur noch mit seinen delikaten aber kräftigen Handbewegungen.
Herausragend schließlich aber die Regie, die in dieser Inszenierung wirklich sämtliche Register zieht. Chor, Sänger, Tänzer, zwischenzeitlich bewegen sich an die 100 Personen auf der Bühne. Doch nie ungeordnetes Gewusel. Kulisse, Bewegungen, Kostüme, alles ist perfekt aufeinander abgestimmt. Alles am rechten Platz. Göttliches Gelächter kommt vom Lautsprecher aus dem Zuschauerraum. Eine Donnermaschine ist im höchsten Balkon untergebracht. Blitze zum Gewitter und dem tödlichen Schuss auf Leukippos. Soundeffekte und Beleuchtung kommen in genau der richtigen Dosierung und untermalen das eh schon mitreißende Spektakel. Das Werk Kinmonth, unterstützt vom Choreographen Fernando Melo, ergänzt von der Lichtregisseurin Zerlina Hughes ist ausdrucksstark und durchdacht, wie man es selten erlebt.
Dennoch verlaufen sich die Opernbesucher allzu schnell. Ohne gebührende Würdigung dieser Ausnahme-Inszenierung endet der Abend. (Keine) Premiere bleibt keine Premiere.

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