Dijon präsentiert eine neue Kafka-Oper, für die Brice Pauset detailreiche Hörassoziationen erfindet

Kafkas Gedankenwelt sei antidramatisch, hat Hans Heinz Stuckenschmidt einmal behauptet. Dennoch haben Komponisten Kafka-Werke auf die Opernbühne gebracht. Gottfried von Einem Kafkas Roman „Der Prozess“ 1953. Hans Werner Henze hat die Erzählung „Ein Landarzt“ 1951 zu einer Rundfunkoper verarbeitet und 1996 revidiert. Gunter Schuller hat 1966 „Die Heimsuchung“ zu einer Jazz-Oper in den Südstaaten weiterentwickelt, Roman Haubenstock-Ramati im gleichen Jahr „Amerika“ durch eine den Interpreten Raum gebende graphische Notation. „La porta delle legge/ Vor dem Gesetz“ hat Salvatore Sciarrino 2009 aufgegriffen. Philip Glass hat zweimal Kafka mit minimalistischen Musikklängen erfasst: „In the Penal Colony/ In der Strafkolonie“ 2000 und „Der Prozess“ 2015. Was treibt sie an, die surrealen Szenarien mit schuldlos Schuldigen, Ausgestoßenen, Abgewiesenen, Ausgelieferten und mit kalter Grausamkeit und Sadismus konfrontierten Söhnen, jedenfalls sind es zumeist Männer um die es geht, Stimmen zu geben und Bühnenräume zu öffnen? Für den französischen Komponisten Brice Pauset ist es die prophetische Kraft hinter den zumeist auch noch beklemmend kalt und nüchtern erzählten Begebenheiten. Die drei Erzählungen, die er jetzt aktuell für die Oper Dijon zu einer dreiaktigen Oper gefügt hat, verhandeln seiner Meinung nach brennend aktuelle Themen. In „Das Urteil“ den Generationenkonflikt, die ältere Generation beharrt auch um den Preis, dass sie die Kinder opfert, in „Die Verwandlung“ geht es darum, was passiert, wenn ein Familienmitglied nicht mehr der Norm entspricht, der Sohn wird ja zum Käfer und erlebt, wie ihm die Menschlichkeit abgesprochen wird. „In der Strafkolonie“ geht es um eine sadistische Tötungsmaschine, von der ein Offizier seine Daseinsberechtigung ableitet. Diese Erzählungen hat Kafka zwischen 1912 und 1915 verfasst. Er wollte sie als Trilogie oder Erzählband unter dem Titel „Strafen“ zusammen veröffentlichen. Strafen – Les châtiments – hat Brice Pauset jetzt seine Oper überschrieben, und verwirklicht das Vorhaben nach mehr als 100 Jahren. Am 12. Februar war die Uraufführung. (Von Sabine Weber)

(12. Februar, 2020, Auditorium, Dijon) Und das war für das deutsche Publikum sehr angenehm. Das Libretto ist auf deutsch! Und weil sich die Erzählungen dialogisch entwickeln, hat Brice Pauset einen Parlandostil entwickelt, der den Gesangslinien der zwei bis vier Protagonisten pro Akt einen natürlichen Sprachrhythmus garantiert. Ausnahmen sind Momente, wo Gefühle unverhofft ausbrechen. Stephen Sazio, Dramaturg der Dijoner Oper, hat das Libretto eingerichtet und an die Textvorlage angelehnt. Er hat weitestgehend nur gekürzt oder mal einen Gedanken in den Mund eines anderen gelegt, wie das Vorhaben Gregors, seiner Schwester ein Geigenstudium am Konservatorium zu ermöglichen. Da er als Käfer nicht kommunizieren kann, formuliert oder lebt Grete diesen Wunsch in einer Arie aus. So wichtig Pauset, der übrigens fließend deutsch spricht und an der Freiburger Musikhochschule eine Komponistenklasse leitet, das „Prager Deutsch“ ist, so auch die Prager Atmosphäre. Die Vibraphon-, Crotale-, Klangschalen- und Klangstäbeklänge sollen an das omnipräsente Glockenschlagen in Prag erinnern. An die 20er Jahre wird mit einer Kabarettsongmelodie erinnert, die sogar aus Prag stammt. Insgesamt ist die Partitur ein Wunderwerk und das Ereignis des Abends. Pauset entfesselt detaillreich Hörbilder und Hörassoziationen. Ein Orchester von der Größe Bruckners Siebter Sinfonie ist im Einsatz. Drei der acht Hornisten greifen auch zu Wagnertuben. Es gibt Bassklarinetten, Kontrabasstuba, ein Klavier, fünf Perkussionsgruppen mit extra gebauten Holzkisten und Platten für besondere Effekte. Besondere Spielanweisungen füllen zwei Seiten im Vorwort. Alles minutiös festgehalten und „berechnet“. Dazu gehört auch, dass die Klänge transparent bleiben. Immer neue, rhythmisch genauestens definierte Klangaktionen bilden dennoch ein typisches Klangbild, das die drei Akte verbindet. Manche Schlageffekte sind sogar komisch. Wischen als Krabbeleffekt, es gibt ein wildes slapstickartiges Apfelbombardement in Kaskaden oder verschobene Harfentöne und Glockenklänge als traurige Seufzer für den Käfer, der gerade „krepiert“. Wenn Pauset lautmalerisch ist, dann nie vordergründig oder spannungsheischend. Und den Humor versucht er in Kafkas Geschichten heraus zu hören. Es gibt für die drei Zimmerherren in der „Verwandlung“ ein äußerst komisches Herrenterzett, besetzt mit Sängern des Dijoner Opernchores. Außerdem sitzt ein sechsstimmiges Ensemble, ebenfalls mit Chorstimmen gefüllt, im Graben, um Gregors Stimme mit Geräuschen zu verfremden.

Herr Samsa (Michael Gniffke), Frau Samsa (Helena Köhnen), Prokurist (Ugo Rabec), Gregor (Allen Boxer), Grete (Emma Posman). Foto: Gilles Abegg

Zu dieser Klang- und Ideenfülle arbeitet die Regie von David Lescot diametral entgegengesetzt. Puristisch werden die Szenen realistisch nachgestellt. Lesoct verzichtet auf Anspielungen und Verfremdungseffekte. Die beiden ersten Akte spielen also in Prager Wohnräumen der Kafkazeit. Alwyne de Dardel hat sie als Zimmerflucht aufgebaut. Die Kostüme von Mariane Delayre sind ebenfalls dem frühen 20. Jahrhundert verpflichtet. Die Tötungsmaschine im letzten Akt erinnert mit Zahnrädern und Keilriemen, Kurbel und der „Egge“ mit den riesigen Nadelspitzen an eine naive Nachbildung eines Tinguely-Kunstwerks. Da sich die Szenen zumeist dialogisch entwickeln, gibt es kaum Handlung, daher über weite Strecken statisches Singen. Es erfordert ja auch schon einiges, dem Text zu folgen! Dennoch ermüdet der Blick auf die Standbilder. Als ob die musikalischen Einfälle zünden, rund um die Szenen, ihre Starrheit aber nicht durchbrechen würden. Meine Geschichten sind in einer Art und Weise, „dass man die Augen schließen muss“, hat Kafka mal behauptet. Ob eine konzertante Darbietung empfehlenswerter wäre? Dennoch, das Sängerensemble spielt in den kargen Möglichkeiten vorzüglich, singt absolut textverständlich. Und die Akustik scheint im Auditorium, der modernen Spielstätte der Dijoner Oper, nicht ganz ideal für Sänger zu sein. Emma Posmann als Frieda und Grete mit klarem Sopran und Helena Köhne als Mutter mit weichem Alttimbre sind kleinere Rollen. Denn allen voran stemmt Allen Boxer in den zentralen Partien eine unglaubliche Textmenge. Er ist Kafkas ewig Scheiternder, zweimal Sohn und einmal Offizier, bei Pauset eine Baritonpartie. In ein Käferkostüm muss er nicht, hier ist er eine mit Knubbeln und Hautlappen

Offizier (Allen Boxer). Foto: Gilles Abegg

verunstaltete Kreatur. Und bewegt sich mehr als er singen muss, allerdings kriechend und verkriechend ist das eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Als kahlköpfiger Offizier scharwenzelte er weißgeschminkt wie ein Pierrot-lunaire-Wiedergänger über ein Treppengestell und um seine geliebte Maschine. Nach französischer Lesart ist das natürlich keine kalte technokratische Angelegenheit. Die Maschine ist eine Geliebte, von der sich der Offizier schlussendlich orgiastisch selbst exekutieren lässt. Hört man da etwa verliebte Klänge?

Reisender (Michael Gniffke), Offizier (Allen Boxer), Soldat (Ugo Rabec), Verurteilter (Grégoire Lagrange). Foto: Gilles Abegg

Szenisch der erste wirkliche Schockmoment. Der Offizier schwebt nackt und blutig in den Nadeln hängend nach oben. Dazu schallt es gewalttätig aus dem Graben. Das ist die lauteste Musik des ganzen Abends. Tenor Michael Gniffke, zuvor zweimal die Vaterfigur, jetzt der Reisende beziehungsweise Gutachter, stellt nur noch fest, dass der Offizier seine Erfüllung wohl nicht gefunden hat. In einem instrumentalen Nachgesang, perkussiv dominiert, endet ein zweieinhalb Stunden – mit Pause gerechneter – deutscher Kafka-Abend in Dijon. Und es überwiegt ein anerkennendes Stauen auch für das Orchestre Dijon de Bourgogne, das sich unter Emilio Pomarico als ein Neue-Musik-Orchester par excellence hören lässt. Zwischenspiele und Überleitungen sind auf den Punkt musiziert. Und auch die vielen solistischen Aktionen, beispielsweise die Violinsoli. Dass die Oper in Dijon, in der öffentlichen Wahrnehmung der französischen Opernhäuser hinter Paris, Lyon und Straßburg stehend, so ein anspruchsvolles Werk stemmen kann, zeugt für einen Anspruch, den dieses Haus seit Jahren hochhält. Das beweisen auch die Besucherzahlen, vor allem unter den Jugendlichen. Das ist dem Engagement von Operndirektor Laurent Joyeux zu verdanken, dem allerdings der Vertrag nicht verlängert wurde. Der Bürgermeister von Dijon plane, einen Jugendfreund ins Amt zu hieven, der, so wird derzeit vor vorgehaltener Hand gemunkelt, keine Musik, geschweige denn Opernerfahrung hätte. Eine reale kafkaeske Geschichte für Dijon!

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