„Tolomeo, Re D‘Egitto“ war die letzte Oper, die Georg Friedrich Händel für seine erste Londoner Akademie-Unternehmung komponiert hat, wobei damals allen klar war, dass die italienische „Opera seria“ mit ihren Stars und Kastraten unbezahlbar und ruinös sein musste. Entstanden ist diese Seria unter extrem großem Druck. Und Händel setzte wie immer alles auf die Sängerkarte. Bei der Uraufführung im Mai 1728 standen am Haymarket-Theatre in London auch seine Stars auf der Bühne. Altkastrat Senesino, Francesca Cuzzzoni und Faustina Bordoni. Die Händelfestspiele Karlsruhe eröffnen mit diesem selten gespielten Werk, das Arien vom feinsten serviert, auch wenn nicht nach Handlung gefragt werden darf. (Von Sabine Weber)
(14. Februar, 2020, Badisches Staatstheater, Karlsruhe) Keine Politik, nicht wirklich Geschichte, dieser Tolomeo ist auch noch ein Antiheld, angeblich von der Mutter verraten, vom Thron gestoßen, ganz offensichtlich ist die Verlobte weg, und er ist im Exil. Gleich zwei Mal will er sich das Leben nehmen, wobei Verzweiflung bei Händel natürlich großartige Musik auslöst. Und was daraus zu machen ist, zeigt nicht nur Jakub Józef Orliński, der in Karlsruhe nach einem Recital in dieser Titelrolle sein umjubeltes Opern-Debüt gibt. Das fünfköpfige Gesangsensemble ist exzellent besetzt mit Louise Kemény als Seleuce, Tolomeos Verlobte, Eléonore Pancrazi als Elisa, Schwester des zypriotischen Herrschers Araspe, Morgan Pearse, und Meili Li, ebenfalls ein Alt-Countertenor, secondo uomo in der Rolle Alessandros, Tolomeos Bruder und Thronrivale. Was bei der Aufführung in Karlsruhe sofort wieder Staunen macht, ist die Ökonomie, mit welcher Händel seine Arien – jedesmal anders nuanciert – immer auf den Punkt bringt. Da fällt gar nicht auf, dass im Orchester über weite Strecken nur zweistimmig eingeleitet und begleitet wird! Und doch ist alles da, das beschriebene Naturbild einer zu verpflanzenden Blume, einer Welle, eines Sturms, lieblicher Wind, Wut und Eifersucht vor höllischem Abgrund schickt die Vorboten mit der Einleitung. Es tänzelt oder wiegt sich, dreht sich im Menuett, schreitet voran im Passepied, schmerzt durch Sekundreibung, strudelt in Sequenzen oder stürmt, getrieben von Streichertremoli und wilden Kaskaden im Bass voran. Violonen im 16-Fuss sorgen zumindest für eine Oktaverweiterung in der Tiefe und gutes Fundament. Oboen wie Fagott verdoppeln je Ober- und Unterstimme im unisono, womit sie für französischen Klang sorgen, den die Ouvertüre noch um zwei festliche Naturhörner ausbaut. Die beiden Spieler müssen dann in der Kantine bis zum Lieto fine im 3. Akt auf ihren nächsten Einsatz warten. Zu erwähnen wäre noch, dass die beiden Oboistinnen für eine Traumstimmung auch einmal zu Blockflöten greifen. Maria Federico Sardelli hält die drei Akte über den Ablauf und die Deutschen Händel-Solisten wunderbar zusammen, auch wenn es kleine Wackler bei Einsätzen gibt. Die komplizierten Übergänge zu den Rezitativen mit Chitarrone-, Cembalo- und Violoncellobegleitung funktionieren perfekt.
Regie führt Benjamin Lazar, bekannt für historisch-informierte Inszenierungen. Aber der Barockstar unter den Regisseuren, verzichtet bis auf ein reduziertes Gestenrepertoire völlig auf barocke Anmutung! Adeline Caron hat im Hintergrund der Bühne eine Art blinde Fenstereinfassung mit weißen Streben und mattiert changierenden Flächen hingestellt. Ab dem zweiten Akt scheint im weiten Panoramablick das Meer durch, zunächst sanft im Sonnenuntergang. Im dritten schäumt die Brandung gefährlich. Yann Chapotel hat nicht an Zyperns Stränden gefilmt, Exilort der Handlung, sondern auf einer kleinen Insel in der Bretagne aufgenommen. Vor der Fenstereinfassung ist eine Halle, die angeblich von einem berühmten Hotel im Norden Frankreichs inspiriert ist und wie ein türkisch-aserbaidschanisch-orientalisches Neubau-Foyer aussieht. Hell gekachelt, kühl, leer. Links ein Zweisitzer mit Sessel, rechts ein weiterer Sessel. In der Mitte eine Brunnenvertiefung. Ein Raum, der danach schreit, mit Emotionen belebt zu werden. Alles spielt sich auch in diesem Foyer ab. Wer gerade nicht singt, blickt aufs Meer. Personen, die angesungen werden, geistern als ansprechbare Schatten beteiligt wie in Trance durch den Raum, dann sitzen oder liegen sie irgendwo. Das funktioniert erstaunlich gut. Denn von Phantomen ist in barocken Arien oft die Rede und mit Tolomeos „Ombra cara“ auch in dieser. Jeder leidet sich in dieser Oper mit Sehnsüchten durch seine Rolle. Verzweifelt ist Jakub Józef Orliński von seiner Auftrittsarie an. Hinreißend sein „stille amare“ – bittere Tropfen. Da capos sind bei Händelfestspielen natürlich ein „Muss“. Orliński nutzt sie für geschmackvoll dezente Verzierungen. Dem 29jährigen eilt ein Ruf als shooting-star der Counterszene voraus. Seine Stimme ist für die Opernbühne in jedem Fall eine Entdeckung, weil er einmal über ein kraftvoll und kerniges Mittelregister verfügt, gesunde tiefe Töne hat, die man bei aller Geschmeidigkeit nicht von vielen Countern geboten bekommt. Außerdem entwickelt und gestaltet er Phrasen auf langem Atem, beherrscht das berühmte Messa di voce, ist dazu Koloratur-stark und stemmt die Höhe dieser Mezzopartie mühelos. Dann ist er auch noch ein hinreißender Spieler, auch wenn er sich ein bisschen viel verzweifelt krümmen und hinwerfen muss!
Eléonore Pancrazi als orientalische Prinzessin Elisa im Glitzerpettycoat und mit Pfennigabsätzen hat am Anfang etwas Mühe mit den Koloraturen, wird immer sicherer, stärker, souveräner. Liebesenttäuscht dreht sie im Finale wie Hexe Alcina auf. Sie wütet und schwört Rache, erpresst und spielt aus. Für ihre Racheszene muss dann auch die Unterwelt her. Ins Foyer leuchtet Meeresgrund mit eigenartigen Algenbäumen, und unfreiwillig komisch leuchtende Quallenlampen senken sich. Alessandro, der Vorgeschichte nach Thronräuber, ist ein liebenswürdiger Charakter und erklärt in seiner Auftrittsarie Elisa erstmal rührend seine Liebe. Meili Li, der hier einer der ersten chinesischen Countertenöre sein dürfte, hat ein schönes Timbre, vielleicht noch nicht in allen Registern ganz rund, aber sicher in der Intonation. Er formuliert treuherzig gute Vorsätze, und weigert sich standhaft, im Auftrag Elisas den Bruder zu ermorden. Das politische „Warum“ der Lage interessiert in dieser Oper und folgerichtig auch in dieser Inszenierung ja nicht. Es gibt aber auch keine Wunderdinge, Zauberei oder Dei ex machina. Vermutlich, weil Christoph Pepuschs Beggars Opera kurz zuvor genau das in der Händelschen Seria aufs Korn genommen hat. Im Tolomeo müssen also ein paar Decknamen für Komplikationen sorgen. Und ihre Auflösung nochmals die Fronten verhärten. Ausschließlich
wütig und drohend ist der Part des zypriotischen Herrschers Araspe. Morgan Pearse sorgt im Smoking mit Brillikragen für die einzig dunkle Stimme im Set. Und mit großem Ton, geradezu angsterregend, setzt er seinen Gegnerspieler Tolomeo unter Druck. Louise Kemény hat als hin und her gestoßene Seleuce einen harten Job, wahrscheinlich deshalb auch die unvorteilhaften Gesundheitsschuhe an, damit sie Halt behält. Mit ihrer wunderbar klaren und jugendlichen Stimme beseelt sie ihre Arien und fügt auch mal einen verzierungstechnisch nicht ganz konformen Spitzenton ein. Zauberhaft sind ihre Duette mit Orliński, eines mit
Echo-Effekt, ihre Stimmen harmonieren einfach wunderbar. Auch wenn ihre Zusammenführung schlussendlich mit unglaubwürdigem Hauruck passiert, diese Oper ist ein Arien-Schmuckkasten der besonderen Sorte! Die 43. internationalen Händelfestspiele sind also in jeder Hinsicht mit einem gelungenen Wurf eröffnet worden. Bis zum 28. Februar gibt es noch weiter Aufführungen aber auch Gala-Abende (weitere Infos hier ) und eine Wiederaufnahme der gefeierten Serse-Produktion aus der letzten Saison!
Sehr treffend ist dieses wirklich herausragende Opernereignis beschrieben! Eine für Händel-Inszenierungen doch recht karge Bühnenausstattung bildet dennoch ein schlüssiges Konzept. Die Videoprojektionen von manchmal dahinplätscherndem, zwischendrin blutrotem oder auch stürmischem Meer bilden ein faszienierendes Ambiente. Sie trugen mich auch ein wenig über das vielleicht etwas häufige „Anschnuppern“ des Blumengebindes aus weißen Rosen auf der linken Bühnenseite.
Ein wundervoll engagiert musizierendes Orchester macht ebenso Laune wie natürlich die schon hinreichend beschriebenen Solisten. Allen voran der ausgesprochene Publikumsliebling Jakub Józef Orliński. Sein Salto über das Brunnenbecken, das er als Krönung der zahlreichen Vorhänge vollführt, sowie frenetische „Standing Ovations“ des hingerissenen Publikums sprechen für sich.