Im charmant-verstaubten Teatro Goldoni von Bagnacavallo findet das Geburtstagskonzert der Accademia Bizantina statt. Eines der ältesten italienischen Alte-Musik-Orchester feiert dort vor den Toren Ravennas sein 40jähriges Bestehen und präsentiert unter der Konzertüberschrift „Gestern, heute und morgen“, womit es anfing, was aktuell und in der Zukunft den roten Faden liefert. Ein Blick zurück erklärt, warum alles mit Neuer Musik begann! (Von Sabine Weber)
(22. Juni 2024, Teatro Goldoni, Bagnacavallo) In dem kleinen malerischen Städtchen Bagnacavallo hat die Accademia Bizantina ihre Residenz und ihren Probenort. Zu römischen Zeiten befand sich hier der Kurort für Pferde der römischen Militärbasis Ravenna. Damals ist Ravenna noch eine Lagunenstadt und Stützpunkt der adriatischen Flotte Kaiser Augustus’. Vom 4. bis zum 8. Jahrhundert ist Ravenna Spielball oströmischer (ostgotischer), byzantinischer oder weströmischer Machtansprüche, was der Kunstentfaltung keinen Abbruch tut. Im Gegenteil. Sogar häretischer Arianismus und orthodox-christliches Dogma fördern in Konkurrenz eine einzigartige byzantinische Mosaikkunst. Die Kirchen San Apollinare Classe, San Apollinare Nuova, San Vitale, das arianische sowie christlich-orthodoxe Baptisterium oder das Grabmal der byzantinischen Kaisertochter und römischen Kaiserin Galla Placidia zählen heute zum Unesco Weltkulturerbe.
Als sich Anfang der 1980er Jahre junge Studenten des ravennatischen Konservatoriums in einem Kaffee treffen, ist diese Kunstgeschichte natürlich nicht im Blick. Sie wollen ein Orchester gründen. Die Pioniere denken an Neue Musik, an Luciano Berio. Gründungsbratschist Angelo Nicastro – heute künstlerischer Leiter der Festspiele in Ravenna – kennt ihn persönlich. Nicht von ungefähr ist Carlo Chiarappa der erste Konzertmeister. Ihm hat Berio 1976 die Sequenza VIII. für Violine solo gewidmet. Sie gehört ebenso in erste Programme wie der Corale für Violine und Orchester, die mit der Sequenz kompositorisch konnotiert ist. (Ebenfalls von Chiarappa uraufgeführt mit dem Collegium Zürich unter Paul Sacher)
Zwischen Neuer und Alter Musik besteht eine Verbindung
Zu Berio fügt sich Johann Sebastian Bach, dessen Violinkonzerte Chiarappa ebenfalls im Fokus hat. Neue und Alte Musik haben schon immer eine Verbindung. Und der erste Cellist, Mauro Valli, puscht noch in anderer Hinsicht in Richtung historischer Aufführungspraxis. Einer der aufregendsten italienischen Komponisten des Settecento entstammt nämlich der Provinz Ravenna! Arcangelo Corelli! Pfründe…
Kollektives Quellenstudium in der Corelli-Heimat
Die Szene der Alten Musik ist in Italien noch jung. Die Streicher der Accademia Bizantina kommen alle aus Ravenna und studieren im Selbstversuch. Sie experimentieren zunächst mit barocken Bögen. In Konzerten werden bald auch die Instrumente nach der Pause ausgetauscht. 1989 ist es endlich soweit und das Opus Magnum Corellis im Visier. Corellis Concerti grossi Opus 6 haben die damalige musikalische Welt Europas revolutioniert. Mit der Violine im Zentrum erster Instrumentalkonzerte. Was für ein Omen. Und die Accademia-Streicher beschließen, in der Corelli-Heimat Fusignano gleich um die Ecke ein kollektives Quellenstudium im dortigen Archiv.
Ottavio Dantone gewinnt als erster Italiener in Brügge
Die Gesamtaufnahme von Corellis 12 Concerti ist 1989 der Wendepunkt. Denn ein Musiker sitzt als Continuo-Cembalist bereits im Ensemble, der gerade als erster Italiener den Brügge Wettbewerb auf den Tasten gewonnen hat: Ottavio Dantone. Er macht die Wende perfekt. Aber es dauert noch, bis er 1996 endgültig als künstlerischer Leiter die Geschicke der Accademia Bizantina schultert. Eine Erfolgsgeschichte, die bis heute andauert und viele Facetten hat. So sitzt 1999 die Accademia Bizantina erstmals im Orchestergraben und legt am Teatro Alighieri in Ravenna eine völlig unbekannte Oper frei, Giuseppe Sartis Giulio Sabino. Mit Wiederentdeckungen weniger bekannter Titel, sprich: modernen Erstaufführungen, tourt die Accademia Bizantina bald bei den wichtigsten Festivals und Theatern der Welt, dem Teatro alla Scala in Mailand, beim Glyndebourne Festival, dem Teatro Réal in Madrid, der Opéra Royale Versailles, in Zürich und bei den Londoner Proms.
Feiner Ton – einfühlsame Spielweise
Eine ganz andere Facette sind die poetischen Kantaten der römischen Arcadia, zu denen Alessandro Scarlatti eine der schönsten beigetragen hat. Sehnsuchtswelten – auch mit Weltersteinspielungen beschworen – die einen feinen Ton und einfühlsame Spielweise verlangen. Dazu sind die Accademia-Bizantina-Streicher nämlich wie kein anderes italienisches Ensemble in der Lage. Geschult natürlich am italienischen Repertoire des Settecento.
Das ist übrigens die erste Zusammenarbeit mit Andreas Scholl (CD Arcadia, DECCA 2003). Mit dieser CD lerne ich die Accademia Bizantina 2003 auch erstmals kennen und bin sofort charmiert. Klar landet die nächste Scarlatti-CD mit dessen Sinfonien und Cembalokonzerten, zu denen Dantone den Orchesterpart rekonstruiert hat, ebenfalls bei mir. (CD Il Giardino di Rose, DECCA, 2004) Die CD Arias für Senesino bilden die zweite Zusammenarbeit mit Scholl (DECCA 2005), der weitere folgen und die mit der aktuellen CD Invocazione mariane eine Fortführung in diesem Jahr bekommen hat. (NAIVE, 2024)
Mit dem „Exciting Sound of Baroque Music“ wirbt die Accademia bizantina derzeit in den Social Medias. Soll heißen: Klänge und Effekte italienischer Barockkomponisten legen sie in ihrer Musik frei, setzen auf den aufregenden Klang. Also surfen Skateborder, wirbeln Balletttänzer oder Eiskunstläufer, schreiten Moonwalker durch Clips zur Musik, damit der aufregenden Sound sichtbar ist. 15.000 Followers hat die Bizantina angeblich. 5000 Clips seien ja auch zu streamen. Die Accademia geht mit der Zeit.
Kernreperotoire italienisches Settecento
„Akademie“ ist übrigens immer ernst gemeint gewesen. Es wird gelehrt, Dantone hat eine Methode des Spiels entwickelt, vielleicht sogar eine Philosophie, die die Familie über die Grenzen Ravennas hinaus hat wachsen lässt. Die Accademia Bizantina ist längst europäisch. Aber im Herzen der Romagnia treu geblieben. Zwei der Gründungsmusiker sind immer noch dabei. Und natürlich ist das Kernrepertoire das konzertante italienische Settecento geblieben.
Corelli steht am Anfang
Das Geburtstagskonzert in Bagnacavallo musste also mit Corelli beginnen, was die Accademia aus dem ff beherrscht. Das Opus 6 hat sie zum 40. Geburtstag noch einmal im eigenen Label HDB Sonus aufgenommen und aufgelegt. Und Corellis Opus 6 Nummer 4 in D-dur ist in diesem Konzert der perfekte Starter, nachdem der Bürgermeister mit italienischen Farben auf einer umgebundenen Schärpe das Ensemble herzlich begrüßt hat.
Alessandro Tampieri, seit 2011 Konzertmeister der Accademia Bizantina, und Liz Ojeda Hernandez, zweite solistische Geigerin, stürzen sich nach einer Adagio-Einleitung in ein derart virtuoses Gefecht, dass das Publikum nach dem ersten Allegro in Bravorufe ausbricht. Dabei folgen noch vier Sätze. Ottavio Dantone leitet von seinem Cembalo aus.
Konzertmeister Alessandro Tampieri ist ein Multi-tasking-Musiker
Das anschließende Concerto op 3 Nr. 6 von Francesco Geminiano, möglicherweise ein Schüler Corellis, sucht dezentere Farbgebungen, lässt harmonisch neapolitanische Einflüsse hören. In einem Sonaten-Larghetto von Johann Christoph Friedrich Bach, dem sogenannten Bückeburger, zelebrieren Dantone und Tampieri empfindsames Lied. Und lassen hören, wie sehr sie aufeinander bezogen und eingespielt sind. Dantone begleitet Tampieri mit zarten Akkordbrechungen. Und Tampieri „singt“ auf einer Viola, die er gegen die Violine ausgetauscht hat. Tampieri ist ein Multi-tasking-Musiker, jedenfalls was Saiten angeht. Je mehr desto besser, sagt er lachend. Er hat als Solist mit der Accademia eine CD auf der Viola d’amore aufgenommen und greift angeblich ab und zu zur Laute und Gitarre.
Bach, immer wieder Bach!
Es kommt, was kommen muss. Bach! Das 5. Brandenburgische Konzert nehmen die Byzantinischen Akademisten mit Dantone als Solisten gerade für ihre nächste CD auf, auf der auch das Tripelkonzert BWV 1044 für Traversflöte, Violine und Cembalo, zu hören sein wird. Nicht absoluter Bach, ein Zwitterwerk, weil die Außensätze auf Präludium und Fuge BWV 894 für Tasta solo basieren, die der Bachschüler Johann Gottfried Müthel orchestriert hat, so vermutet Dantone. Ebenso wie der lyrische Mittelsatz, der auf dem Mittelsatz der Orgelsonate BWV 527 basiert. Klingt aber absolut nach Bach, ist ja auch Bachschule. Dantone hat diesen Bachschulen-Bach schon mit 15 Jahren entdeckt und studiert.
Jeder Bach fordert den Cembalisten. Und diese Herausforderung sucht Dantone, der leider in der Akustik nicht so gut zu hören ist, weil sein flämisches, wunderbar klingendes zweimanualiges Instrument ins Orchester hinein gestellt ist. Dantone leitet ja, den Musikern zugewandt mit dem Rücken zum Publikum. Auch für die Traversflöte, Marcello Gatti, der jünger Bruder von Enrico Gatti und exzellenter Solist, ist die Akustik nicht ideal. So spitzen die Zuhörer eben ihre Ohren. Die drei Solisten lassen ein filigranes Gleichgewicht schon hören!
Bach, immer wieder Bach. Für einen Cembalisten steht Bach immer im Zentrum. Auf der nächsten CD wird auch ein Tripelkonzert vom Bachzeitgenossen Georg Philipp Telemann zu hören sein. Mit eben diesen drei Solisten. Und liefert heute einen Satz als Konzertzugabe.
Danach treffen sich die Musiker im Garten eines mittelalterlichen Palazzos in Bagnacavallo. Und nicht nur Ehepartner und Kinder sitzen mit an den Tischen, auch Oma und Opa. Die Eltern von Stefano Montanari sitzen an meinem Tisch. Stefano Montanari war vor Tampieri, nach Chapparelli, Konzertmeister der Accademia. Derzeit tourt er als Operndirigent und Spezialist für italienisches Belcanto-Repertoire an deutschen und französischen Opernhäusern. Er ist natürlich nicht da, aber seine Schwester Valeria Montanari, die als Cembalistin bei der Accademia auch mitspielt. Neben mir sitzt Geiger Paolo Zinzani, mit Paolo Ballanti Musiker, die von Anfang an mitgespielt haben und noch immer dabei sind. Ob denn auch mal ein „Gastdirigent“ eingeladen würde? „Er dirigiert! Oder es ist nicht unser Repertoire!“, so Zinzani.
Wichtige Mentoren prägen die Entwicklung der Accademia
Dass Riccardo Muti ein wichtiger Mentor des Anfangs war und die Streicher enthusiasmiert hätte, erzählte schon Angelo Nicastro. Und Nicastro erinnert sich, dass die Accademia sogar einmal nur nach Salzburg gefahren sei, um sich vor Maestro Muti hören zu lassen. Aber der Pianist Jörg Demus sei ebenso wichtig gewesen, so Zinzani. Er hat in Italien gelebt, wohin es ihn wohl nach dem ersten Preis beim Ferruccio-Busoni-Wettbewerb gezogen hat. Wie immer kommt auch er über persönliche Beziehungen zur Accademia. Demus ist in den ersten Jahren immer wieder als Solist zu Gast, erinnert sich Zinzani. Demus interessiert sich für historische Spielweisen, ist einer der ersten, der auf historischen Hammerflügeln spielt. Und sicherlich zeichnet Demus mitverantwortlich für den Sog in Richtung der Alten Musik.
Accademia „bizantina“
Ohne Jörg Demus wäre jedenfalls die Accademia nicht die, die sie heute dem Namen nach ist. Denn zunächst nannten sich die Pioniere Accademia Concertante. Demus interveniert: „Bizantina“ klänge besser, schaffe Verbindung, sei ein Bekenntnis zur kulturellen Vergangenheit, zudem eine Zuordnung zum Ort. Alle Musiker kamen damals aus Ravenna.
Und heute kommt der wichtigste Mäzen aus der Provinz Ravenna. Ein Liebhaber der Musik wie er im Buche steht, der noch nicht einmal namentlich genannt werden will! Äußerst unterhaltsam und charmant erzählt er, wie es ihm Freude mache zu erleben, wie etwas entstehe. Noch viel lieber als Konzerte besuche er also Proben. Einmal sei Dantone zu ihm gekommen und habe ihm auf den Tasten die Rheinische von Schumann vorgespielt, ihm die Spuren in Schumanns Werk in Bezug auf die Vergangenheit und deren Vorbilder – Bach natürlich – offen gelegt. Und so sei es dann zu einer ziemlich ungewöhnlichen Jubiläumsproduktion gekommen, zu der er nicht hat „nein“ sagen können. Mit Mendelssohns Italienischer und Schumanns Rheinischer. Im hauseigenen HDB-Sonus Label aufgenommen, das der Mäzen für die Accademia gegründet hat. Und es soll irgendwann mit Beethovens Fünfter und Schuberts Vierter weitergehen… Aber die nächste CD ist wieder Settecento!