Zwei Mal Ausnahmezustand! Und dennoch ein finaler Saison-Paukenschlag der besonderen Art. Mit geplant natürlich von und zugeschnitten auf den Mann und Dirigenten, dessen Name derzeit nicht über die Lippen geht. Auch wenn das Gürzenich-Orchester durch dessen künstlerische Ausnahmeleistung das erreicht hat, womit es genau an diesem Wochenende punktet. Was für ein Mist. Denn ein Image-Schaden muss abgewendet werden. So zählt der Rap/Hardrock-Ausflug samstags mit DJ, Beatboxing und einer Hevy-Metal-Partitur von Bernhard Gander („Melting Pot“) im Club Carlswerk-Victoria und die Uraufführung der Atomkatastrophen-Oper „INES“ von Ondřej Adámek am Tag danach eben als Befreiungsschlag. Titus Engel und der Komponist Adámek haben sehr gern die Leitung des Gürzenich-Orchesters samstags und sonntags übernommen. (Von Sabine Weber)
(15. Juni 2024, Carlswerk-Victoria, 16. Juni 2024 Oper Köln im Staatenhaus) Die vom Österreicher Bernhard Gander konzipierte Partitur ist vor allem laut, schräg, Bienenschwarm-mäßig und gewaltig! Mikrotonal verschobene Riesenblöcke oder Klangflächen schwemmen in den schowmäßig lichtbunt durchfluteten, ansonsten Höllen-schwarzen Saal. An zwei Stellen ist das Orchester auch nur allein zu hören. Denn DJ HulknHodn wirft seine Turntables an, die Rapper Retrogott und MC Rene melden sich im Duo zu Wort, Retrogott führt auch durchs Programm, und intoniert seine Ansagen wie bei Boxwettkämpfen in großen Melismen.
Riesenblöcke und Klangflächen schwemmen in den Saal
Florian Cieslik liest seine Poetry-Slam-Worttiraden vom Blatt ab, die beiden Beatboxer Ruben Michalik und Wole Crüsemann spucken links ins Mikro ohne Partitur und vier Streetdancerinnen tanzen und turnen Gesten-reich mit erstaunlich abgehackten und pathetischen Bewegungen vor dem Orchester. Von hinten ist die Bühne von hochgehaltenen mitfilmenden Mobilbildschirme durchbrochen, sind die Bildausschnitte begrenzt. Wie gut diese Minibildschirme filmen! Die Stimmung ist jedenfalls unglaublich gut. Es hat sich auch ein völlig anderes Publikum hier eingefunden. Deutlich jünger und nicht-klassisch. Das johlt, und jubelt, wie von vorne aufgefordert, wirft die Arme hoch und wedelt im Takt.
Im Rockbeat gehämmerte Worte
Hier geht es um „wir sind gemeinsam“ – „Haltung ist Verhalten, bis niemand mehr weint!“, so Florian Cieslik, oder die beiden Rapper beschwören eine Welt, wie sie noch nie war. Nämlich gut! Ja, wir glauben an diese Utopie und positiven Messages. Jedenfalls in diesen 50 Minuten, die übrigens mit 20 Minuten Verspätung anfangen, weil 200 aus dem Publikum zu spät kommen. Das Orchester wartet brav auf der Bühne. Und das Publikum bekommt all seine Getränke, die auch zwischendurch mit in den Saal dürfen! Die im Rockbeat gehämmerten Worte sind nicht immer leicht zu verstehen. Und es schleicht sich zwischendurch auch ein ungutes Gefühl ein, dass nämlich der hämmernde Beat auch ebenso leicht Hass-Parolen einhämmern könnte. Aber nicht an diesem Abend. Titus Engel hat einen ewigen 4/4 Takt, oder scheint es nur so? Der Schweizer hat sich nicht nur in Deutschland einen Ruf für Neue Musik und Grenzüberschreitende Projekte erworben. Am Ende fordert er eine improvisierte Zugabe aller, und wie die beiden Rapper improvisieren und dichten ist dann schon sehr lustig. Es folgt die After-Show-Party im Club Volta!
Das Kölner Gürzenich-Orchester zeigt seine staunenswerte Bandbreite in der Oper INES
Musiker aus dem Carlswerk sitzen auch wieder im Staatenhaus in Saal 3 am Tag danach im Orchester. Die Bandbreite der Kölner Gürzenich-Orchestermusiker ist schon staunenswert. Neues Musiktheater hat in Köln wieder einen Stellenwert. In jeder Saison eine Uraufführung zu stemmen, war die Ansage zur letzten Spielzeit, an die sich die Kölner Oper nicht nur mit kleinen Kammeropern hält. INES in einem Prolog und fünf Bildern ist ein opulentes Werk mit großem Chor, großbesetztem Orchester und 11 solistischen Partien nebst Statisten (INES steht für International Nuclear Event Scale, die Internationale Bewertungsskala für nukleare Störfälle).
Tonal und Affekt-genau
Ondřej Adámeks Tonsprache ist tonal, allenfalls freitonal, in der Geste stets Affekt-genau konzipiert. Das Orchester schmiegt sich in homophonen Gesten an deklamierte Gesangslinien, führt sie fort, verdoppelt oder enerviert sie, wirft sich aber in Zwischenmusiken und Überleitungen auch zu wuchtiger Geste auf. Immer in klarer rhythmischer Struktur. Auch wenn die Kontrabässe mit den Bögen auf die Seite schlagen. Das Staccato der Wortsilben steht im Vordergrund, das wiederum sogar an die mittelalterliche Hoquetus-Technik erinnert. Im letzten Teil wird dann wörtlich Henry Purcells Cold Genius zitiert, aus der ersten Staccato-Arie der Operngeschichte überhaupt. Gesprochen wird insgesamt viel und immer deutlich. Auch der Chor hat große Sprecheinsätze. Sobald das Publikum auf der längs einer Panoramabühne aufgebauten Tribüne Platz genommen hat, geht es bereits aus dem Lautsprecher los. Die acht Stufen von Reaktorunfällen laut der INES-Skala werden herunter gebetet.
Die INES-Skala klassifiziert Störfälle in Kernkraftwerken in 8 Stufen
Der erste Orchestereinsatz wirkt mit seinen auf Quinten und Quarten aufgebauten Klängen brachial archaisch. Katharina Schmitts Libretto greift ja auch auf einen antiken Mythos zurück. Orpheus und Eurydike sind hier O (mehr Bariton als Countertenor und mit großen Sprechpassagen: Hagen Matzeit) und E (Kathrin Zukowski aus dem Ensemble mit klar geführter Stimme, auch mit Koloraturähnlichem Gesang), wobei der Tod von E durch eine atomare Katastrophe verursacht wird. Sie wird verstrahlt. Die Beschreibung von verstrahlten Körpern, die Haut wirft Blasen, bis sie sich ablöst…, bis hin zum Tod wird bis in alle Einzelheiten von ihrer Ärztin (Dalia Schächter) diagnostiziert. Ein toter Körper strahlt immer noch, wie wird er bloß beerdigt, fragt man sich.
Die weite Bühne lässt in ein Meer von strahlenden Atommüll-Säcken blicken
Die Bühne ist voll mit weißen Plastiksäcken und erinnert an die Mengen radioaktiv verseuchten Materials, für deren Endlagerung noch immer keine Lösungen gefunden sind. Durch Lichteinfärbung verwandelt sich die Bühne zu einem geisterhaft strahlenden Inferno. Der Chor steigt in Arbeits- oder Schutzanzügen immer wieder durch. Zwischen die Säcke werden Vitrinen mit ausgestopften Tieren geschoben. Oder eine Vitrine mit der Affe-wird-Mensch-Reihe. Auf das Hiroshima-Friedensmuseum wird angespielt, in dem ja auch die Schadenwirkung der Atombombe veranschaulicht wird. In diesem Sinne liegt E später in einer hereingeschobenen Krankenzimmervitrine, die – etwas geschmacklos – ein Bild mit einem Atompilz ziert. (Bühne und Kostüme: Patricia Talacko)
Eine in den antiken Mythos eingebundene gegenwärtige Handlung
Die Verbindung von aktuellem Weltuntergangsszenarium mit alter Mythe gab es übrigens schon zu Beginn der Spielzeit. Bernard Focroulle hat in seinem Musiktheater Cassandra den Untergang von Troja mit dem Klimawandel gekoppelt. Beziehungsweise die ungehörte Mahnerin und Warnerin Kassandra mit einer Wissenschaftlerin gedoppelt, die sich gegen Klimawandel-Gegner vergeblich Gehör zu schaffen versucht. Die Atomkatastrophe wiederum hat 2017 Philippe Manoury zusammen mit Elfriede Jelinek auf der Ruhrtriennale realisiert. Und an Kein Licht – siehe klassikfavori – muss man unwillkürlich denken. Das Wort „Licht“ taucht in Katharina Schmitts Libretto verdächtig häufig auf.
Schmitts Inszenierung hält das Werk immer in Bewegung
Katharina Schmitt ist übrigens nicht nur Librettistin sondern führt auch Regie. Und sie hält die fast zwei Stunden immer in Bewegung. Da hilft, dass die Figur von E in noch in drei weitere Doubles aufgespalten ist (Tara Khozein, Alina Rannenberg, Olga Simenczuk), die gleich gekleidet, strenger Rock, weiße Bluse, rote Jacke, den Raum einnehmen und im Quartett oder Terzett miteinander auch auf Entfernung singen. Später treten sie als die drei Hiroshima-Girls auf, die sarkastisch fröhlich, jedenfalls irritierend von ihren Strahlenverletzungen erzählen. Die Weite des Raums wird ausgenutzt. Wer ganz links beim Orchester sitzt, fast nicht zu sehen ist, ist aber ganz rechts zu hören, was teilweise geisterhafte Wirkung entwickelt. Das Ensemble ist verstärkt. Auch einzelne Chormitglieder in Solorollen wie der Bass Boris Djuric. Einzelne Streicher sind auch um die Tribüne verteilt. Die drei Männer im Schutzanzug erscheinen wie archaische Erzähler der Geschichte. Neben George und Lasha Ziwiziwadze ragt David Howes hervor, dessen Vortrag im letzten Teil sogar an slawisch-orthodoxe Kirchenmusik erinnert. Adámek lässt zu den Hiroshima-Girls und ihrem Volksliedähnlichen Gesang sogar Big-Band-Riffs vom Stapel.
Es gibt auch Längen
Immer wieder neu setzt die Musik an. Berückend ist das eine Duett zwischen Matzeit und Zukowski. Zum Ende hin gibt es aber doch Längen. Man meint mehrmals, jetzt sei es zu Ende. Und noch einmal setzt es an. Dass der Orpheus-Mythos nicht wirklich thematisch entwickelt ist, stört nicht, aber man fragt sich schon nach der zentralen Botschaft des Stücks. Ist es die atomare Katastrophe an sich? Die atomare Müllfrage, für die noch keine Lösung gefunden ist? Warum die Aufzählungen, beispielsweise von den verschiedenen Homo xyz? Weil der Homo sapiens, der angeblich wissend verstehende Mensch auf der letzten Entwicklungsstufe unwissend geblieben ist, bezogen auf die von ihm selbst verursachten Strahlungsunfälle, auf die der Titel INES anspielt? Weil der Mensch sich vernichtet, wie O zum Schluss in einer unbarmherzigen Cold-Genius-Arie sogar fordert? Vielleicht stellt man sich all die Frage aber auch nur, weil die Nuklearkatastrophen gerade nicht politisches Hauptthema sind, obwohl Fukushima nicht wirklich der „Turning Point“ war, auf den viele gehofft haben. Klimawandel und Atomkatastrophe sind jedenfalls auf der Opernbühne angekommen. Und in Köln in einem rundum gelungenen Spektakel!