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Ruhrtriennale! Absurdes, groteskes, großartiges Musiktheater! Romeo Castelluccis spektakulär experimentelle Sicht auf Morton Feldmans Oper Neither in der Bochumer Jahrhunderthalle

Der Librettist bleibt meistens eine Schattengestalt. Der Komponist geht in die Annalen ein. Im Fall der Oper Neither von Morton Feldman, 1977 in Rom uraufgeführt, ist der Librettolieferant Samuel Beckett vielleicht der bekanntere. Der Protagonist des absurden Theaters (Warten auf Godot aus dem Jahr 1953) lieferte allerdings nicht mehr und nicht weniger als 16 Zeilen mit 87 Wörter! Absurd? Grotesk? Sicherlich! Aber die aphoristisch angerissenen abstrakten Bilder, die mit Paradoxien der Wahrnehmung spielen, korrespondierten exzellent mit der Idee einer abstrakten Musik von Morton Feldman. Klänge im Fluss, die immer in neuen Möglichkeiten aufscheinen, die weder so noch so, immer gleich sind und doch anders aufscheinen. (Von Sabine Weber)

(6. September 2014, Bochumer Jahrhunderthalle) Becketts Wörter, die von „inneren Schatten“ sprechen, die „äußere“ sind, von „undurchdringlichem selbst“, die zu einem ebensolchen „selbst“ durch das Wörtchen „weder“ finden wollen oder von Türen, die sich schließen, wenn man sich ihnen nähert und öffnen, wenn man sich entfernt – dieses Bild diente meistens als Rettungsanker bisheriger Inszenierungen – hat Morton Feldman in einer Sopranpartie so verarbeitet, dass sie unverständlich bleiben, und als Vokalisen oder Tonrepetitionen über den Orchesterklängen schweben. Der 1960 in Cesena geborene italienische Theatermacher Romeo Castellucci braucht aber keine Rettungsanker. In seinen Bildern stechen sich Männer gegenseitig ab, fahren Autos und Lokomotiven aus einer schwarzen Giebelwand heraus, lauern Gangster in Mäntel und Hüten einer Frau (die Sopranstimme) auf, entführen ein Kind, das von Ärzten auf einem Op-Tisch ausgeweidet wird, verschwindet die Frau auf mysteriöse Weise und ist im Raum nur noch als Stimme zu hören, bis sie am Ende nur noch mit einem Bein auf dem Boden sitzt und den Mund zu einem wortlosen Schrei geöffnet hat.

Castellucci entwirft einen Krimi in Film noir Ästhetik

In seinem Krimi in Film noir Ästhetik der 1940er Jahre geht es nicht wirklich um Tatmotive, auch nicht um die Erzählung einer tatsächlichen Geschichte. Es geht um Assoziationen, die ausgelöst das eben Wahrgenommen sofort wieder anders scheinen lassen. Übrig bleibt der Schauer und die Spannung im Erlebnis dessen, was immer wieder Überraschungen bietet. Das Unvereinbare einer vieldeutigen Wahrnehmung, der wir oft genug ausgesetzt sind, wenn wir vernunftgeleitete Regelkorsette abwerfen. Das bringt der radikale und innovative Regisseur in anschauliche Bilder! Dass er dabei auch die Jahrhunderthalle mit ihrem unglaublichen Hallentief und auch noch die Oberlichter – mittels eines außen aufgestellten Krans und darüber gehievten Scheinwerfern mit einbezieht, die ins Dunkel fahren und die einmalige Eisenkonstruktion ausleuchten, ist großartig. In der Halle gerät alles unter Verdacht und in bewegte Unsicherheit! Die Möbel, die von der schwarzen Giebelwand vor sich hergeschoben und wie von Geisterhand bewegt tanzen, bis hin zur Tribüne, die von einer Lok in schwenkenden Lichtkegeln nach hinten geschoben wird, bis die vorderen Reihen aufbrechen, sie in die Tribüne hineinfährt und sich und die Zuschauer mit Dampf einhüllt.

Feldman klingt stellenweise wie eine Bernard Herrmanns Psycho-Musik

Da muss man dann an das Bild der Lok denken, die 1885 in Paris die Wand des Gare Montparnasse durchbrach, ein Bild, das den Surrealisten als Fanal für einen möglichen Durchbruch in andere Realitäten diente. Beindruckend ist, wie Castellucci auch einzelne Textaussagen visualisiert. „Ungehörte Tritte einziger Laut“: graue Kumpels mit Stirnlampen marschieren mit einem fleischrosaroten Bein lautlos nach vorne und stellen es vor ein Mikrofon. Ein unglaubliches Schlussbild. „Dann kein Laut“ heißt es ja auch in der viertletzten Zeile von Becketts Libretto. Unglaublich auch, wie die Musik Feldmans stellenweise wie Bernard Herrmanns Musik zu dem Hitchcockfilm Psycho mit Castelluccis Bildern verschmilzt. Und der Psychozustand, der sich in dem Wort „Neither“ verbirgt, in einem nie sich gewiss sein können, „weder so noch so“ oder „weder noch“ zitiert Castellucci ganz am Anfang als Prolog vor dem Beginn der Oper Erwin Schrödingers Katze. Das war eine Versuchsanordnung von 1935 mit Kiste und einer Katze drin, die eine philosophische Erkenntnis der Quantentheorie veranschaulichen sollte. Nämlich die, dass unvereinbare Zustände, festgemacht an Beobachtungen von Atomen, übertragen auf das Beispiel von tot und lebendig, gleichzeitig möglich sind. Und sowohl eine tote wie auch eine lebendige Katze geistern durch den Abend! Zu erwähnen ist auch unbedingt, dass die Sopranistin Laura Aikin ihre hohe Sopranpartie bravourös gemeistert hat. Begleitet haben die Duisburger Philharmoniker unter der Leitung des Neuen Musik Spezialisten Emilio Pomarico, die den differenzierten Klängen und Motivspielen Morton Feldmans Leben eingehaucht haben.

Ein weiteres Theater der Abwesenheit – Goebbels Überthema seiner letzten Ruhrtriennale

Natürlich ist Neither keine Oper, in der es um menschliche Konflikte, tränenrührige Liebesgeschichten oder Eifersuchtsdramen oder Tugenden geht, die herausgestellt werden. Aber das hatte Ruhrtriennale-Intendant Heiner Goebbels ja auch für sein letzten Jahr angesagt, eine Art Theater der Abwesenheit. Also Oper mal ohne die ewig abgehandelten emotionalen Auseinandersetzungen. Und das kann funktionieren! Mit diesem Opernereignis ist jedenfalls dass Alleinstellungsmerkmal des Ruhrtriennalen-Konzepts als ein Festival mit unkonventionellen Bühnenumsetzungen unter Einbezug der einmaligen Industriedenkmäler, man müsste besser Industriekathedralen sagen, dick unterstrichen worden. Und so konsequent wie kaum ein Intendantenvorgänger vor ihm, hat Heiner Goebbels sich dem Avantgarde Musiktheater verschrieben – ohne gemütliche Zugeständnisse zu machen. Das ist mutig und großartig zugleich.

Die Ruhrtriennale 2014 hat begonnen!

Die Ruhrtriennale hat am Wochenende die Industriekathedralen im Nordrhein-Westfälischen Ruhrgebiet geöffnet. Einen Monat lang machen Künstler und Performer in den einstigen Industriebrachen auch in diesem Jahr wieder mobil. Die Kraftzentrale im ehemaligen Industriegebiet Duisburg-Nord (um 1900 für zehn gichtgasbetriebene Großmaschinen zur Stromerzeugung und Gasgebläse zur Hochofenwinderzeugung errichtet) ist der stattlichste Veranstaltungsort. 170 Meter lang, 35 Meter breit und 20 Meter hoch! Hier hat Intendant und Regisseur Heiner Goebbels seine dritte und letzte Spielzeit eröffnet, mit Louis Andriessens Musiktheater De Materie, von ihm selbst opulent inszeniert.
Von Sabine Weber

(Duisburg, 15.08.2014) Die Ruhrtriennale will Werken ihren Industrieraum öffnen, die an herkömmlichen Spielstätten keine Chance haben. Dazu zählte John Cages Opernpersiflage Euoroperas 2012, auch das mit eigenem Instrumentarium ausgestattete Konzerttheater Harry Partchs aus dem letzten Jahr und sicherlich das vierteilige Bühnen-Werk des Niederländers Louis Andriessens, das am 15. August die letzte Spielzeit unter Intendant und Regisseur Heiner Goebbels eröffnet. 1989 in Amsterdam in der Regie von Robert Wilson über die Bühne gegangen, hat niemand De Materie seitdem mehr angefasst. Mit nicht weniger als 144 gezählten massiven Orchester-Schlägen in drei Sekunden-Abständen von dem zu einem Orchester aufgerüsteten Ensemble modern unter Peter Rundel durch die Riesenhalle gejagt, meldet es sich in deutscher Erstaufführung gewaltig zurück. Heiner Goebbels wartet in dieser Ideen-Oper ohne Handlung, in der auf einer abstrakten Ebene der uralte Kampf von Geist und Materie angestoßen wird, mit imposanten Bildern auf. Eine Halle wie die Kraftzentrale wirkt ja schon an sich. Erst recht, wenn leuchtende Zeppeline – bis auf minimal fiepende Steuergeräusche abgesehen – lautlos wie von Geisterhand gesteuert durch die dunkle oder farbig ausgeleuchtete Halle schweben. Oder wenn während eines Intermezzos eine Schafherde in geheimnisvoll kreisenden Schwarmbewegungen sich unter einem je nach Perspektive wie ein Vollmond leuchtender Zeppelin bis nach vorne schiebt. Wiederum zu unendlich wiederholten Orchesterklangschlägen, die leider irgendwann das meditative Bild zu stören beginnen. Es hatte den Anschein, die Schläge müssten ad libitum wiederholt werden, bis die Herde sich wieder nach hinten verzogen hat. Die farbmächtig ausgeleuchteten abstrakt gehaltenen Bühnenbilder – der in senfgelb durchleuchtete Wolken-durchzogene imaginäre Kadethralraum für die Vision einer niederländischen Nonne – sind eindrucksvoll und ästhetisch schlüssig. Aber Staunen über Bilder ist kein Spannungsgarant für anderthalb Stunden. Dass ein Chor (Chorwerk Ruhr) Auszüge aus der Freiheitserklärung der spanischen Niederlande rezitiert oder aus einem originalen Bekenntnis einer mittelalterlichen Nonne, die eine Unio mystica in erotisch anspielenden Worten überliefert hat, sind noch lange kein Bühnendrama. Unterhaltsam sind die Jazzklänge im vierten Kapitel über Piet Mondrian und theoretische Stilüberlegungen über Linienperspektiven im Libretto, wiederum rezitiert vom Chor, aber durchzogen von einer schmissigen Boogie-Woogie-Einlage. Mondrian habe den Jazztanz geliebt, erklärt das Programmheft. Also dürfen auch zwei Tänzer in 20er Jahre Hosen sich akrobatisch auslassen. Das im letzten Teil die Nobelpreisträgerin Marie Curie auf der Bühne dargestellt wird, hat wohl den Grund, dass sie eine Materie mit besonderen immateriellen (geistigen) Eigenschaften entdeckt hat, nämlich radioaktives Plutonium. Musikalisch ist die Durcharbeitung der wie eine Sinfonie in vier Sätzen aufgebaute Musik mit Stilformen wie der Toccata (Schläge!) oder Passacaglia und auch eingewobenen Zitaten durchaus intellektuell anregend. Dennoch sind das keine Bühnentheatralische Pluspunkte. Das ganze bleibt ein Ideentheater, das ohne menschliches Drama emotionslos bleibt. Also ein musikalischer Essay mit theatralen und durchaus spektakulären Illustrationen, wie es in einem Programmhefttext beschrieben wird.

Vorbereitungsarbeiten in der Duisburger Gebläsehalle für den Knochenstaubtanz. Foto: Wurzbacher
Vorbereitungsarbeiten in der Duisburger Gebläsehalle für den Knochenstaubtanz. Foto: Wurzbacher

Spektakulär ist auch der von Romeo Castellucci mittels 40 Maschinen inszenierte Knochenstaubtanz auf Igor Strawinskys Sacre du printemps in der Duisburger Gebläsehalle gleich nebenan. Sechs Tonnen Knochenstaub rieselt aus den an Gestängen besfestigten Trichtern, die gesteuert von Zeituhren, erkennbar an den rot blinkenden Zahlen auf den Geräten, zu den Akzenten der Musik sich drehen, wirbeln, hoch und runter fahren, auch spucken und einmal sogar gegen die das Publikum schützende durchsichtige Isolierfolie schießen! Auch Knochen fallen! Die Idee dieses Maschinenballetts: Knochenstaub soll eine Metapher für Ritus, für die Erde und vieles Archaisches mehr sein. Das staubige Ritual in der „antike“ Gebläsehalle bleibt dennoch ein rein ästhezisitisches und hat nichts mit der Idee der Wiedergeburt des Frühlings durch ein blutiges Opfer zu tun! Aber das Maschinenballett lockt das Publikum! Wegen der starken Nachfrage, mussten schon zusätzliche Aufführungstermine gefunden werden. Und man ist schon gespannt auf Romeo Castelluccis Inszenierung von Morton Feldmanns Oper Neither, die am 6. September ihre Premiere in der Bochumer Jahrhunderthalle erleben wird. Wer ins Ruhrgebiet aufbricht, sollte sich Zeit nehmen, die Industriebrachen zu besichtigen, zu entdecken und zu erleben. In Duisburg-Nord gibt es in der Hochofenstraße von dem brasilianischen Künstlerduo cantoni-crescenti eine 70 Meterlange begehbare und auf Federn vibrierende Metallplatte, die je nach Masse und Bewegung enorm lärmt, aber vor allem dem Publikum ein Lächeln auf die Lippen zaubern soll.
Auch einige Museen in den Stadtzentren sind in diesem Jahr wieder mit einbezogen. Eine Video-Installation im Folkwangmuseum in Essen zieht besonderes Interesse auf sich. Unter dem Titel Eine Einstellung zur Arbeit ist dort das letzte Projekt von Harun Farocki zu erleben, das er in mehrjähriger Arbeit mit Antje Ehmann entwickelt hat. Der deutsche Kult-Videokünstler ist am 30. Juli plötzlich verstorben. Seit Mitte der 1990er hat Farocki seine Filmarbeiten zunehmend vom Kino in den Kunstraum verlegt. Mehr als 120 Filme werden weltweit in Galerien, Museen und Biennalen gezeigt. Die Ruhrtriennale ist unverhofft Gastgeberin seiner letzten von ihm kuratierten Ausstellung geworden. Kurzfilme – nicht länger als zwei Minuten und aufgenommen aus einer Perspektive ohne Schnitte, Schwenks und Kamerafahrten – zeigen Arbeiter aus zehn Metropolen dieser Erde. Ein gelegtes Gnu wird am Straßenrand beschlagen, ein Glasbläser feuert mit einem Handbunsenbrenner auf eine Glasröhre, OP-Besteck wird sortiert, oder ein Kehrmännchen sammelt Müll in einen rostigen Handkarren. Das alles wurde gefilmt von jungen Dokumentarfilmern, die Farocki und Ehman in Workshops rund um den Globus betreut haben. In Endlosschleifen laufen die Filme auf Bildschirmen, die von der Decke eines Raumes wie ein Blätterwald hängen. Sie dokumentieren, wie auch Farocki gefilmt hat. Auf Augenhöhe, um mit lebensechten Bildern zum Nachdenken anzuregen über soziale, kulturelle und auch politische Themen.

Weitere Informationen zu allen Veranstaltungen noch bis zum 28. September 2014 unter www.ruhrtriennale.de