So wird ausgegrenzt! Aribert Reimanns Oper „Medea“ führt vor, wie einer Frau alles genommen wird und wie sie sich rächt!

„Medea“ ist eine never ending story! Von Euripides dramatisiert, von Seneca aufgegriffen, in der Neuzeit von Grillparzer, Jean Anouilh, Christa Wolf, und von Marc Antoine Charpentier, Luigi Cherubini und in einem Melodram von Georg Anton Benda, unter anderen, vertont. Aribert Reimann hat für seine achte Musiktheaterproduktion auf den Medea-Stoff zurück gegriffen. Zu erleben im Aalto-Theater in Essen. (Von Sabine Weber)

(23. März 2019, Aalto-Theater, Essen) So Aribert Reimann vor der Premiere. Von Wien bestellt und in Wien 2010 uraufgeführt, kürt die Kritikerumfrage der Opernwelt Reimanns Medea zur Uraufführung des Jahres! Für eine neues Opernwerk schon gar nicht selbstverständlich, erlebt Reimanns Medea neun Jahre später in Essen bereits seine fünfte Produktion!

Wer das Glück hatte oder noch hat, die aktuelle Produktion am Aalto -Theater zu erleben, wird diesen Repertoire-Erfolg sofort nachvollziehen. Reimann rückt dem antiken Drama der aus Rache Kindermordenden Mutter mit einer faszinierend eigenen Tonsprache zu Leibe. Reimanns Musik ist kultisch-archaisch und zugleich psychoprogrammatisch, ohne Pathos aufzubauen und je die Grenze zum Manipulativen zu überschreiten. Wie im Mythos bleibt alles fern und rückt doch schaurig nahe. Regisseur Kay Link erfindet für die sechs Dramatis personae auf der Essener Opernbühne immer wieder andere Kräfteparallelogramme. Medea, ihre Amme, Jason, König Kreon, Tochter Kreusa, Herold, nebst der beiden stummen Rollen der beiden Kinder werden im abstrakt leeren Raum (erstes und letztes Bild) aber auch in einer von Bühnenbildner Frank Albert entwickelten futuristischen Palastabstraktion auf Säulen und Treppen in immer wieder neuen erschütternden Gruppenbildern gezeigt, die sinnfällig machen, wie Dazugehören und Ausgestoßensein funktionieren. Last but not least: das Ensemble ist großartig besetzt, allen voran mit Claudia Barainsky, als Medea, die nicht nur gesanglich, sondern auch schauspielernd alles gibt.

Es musste für Reimann übrigens die Medea aus der Trilogie Das goldene Vlies des österreichischen Dramatikers Franz Grillparzer sein! Das erklärt der inzwischen 83jährige Komponist vor der Premiere in einem lebendigen Gespräch mit Dramaturg Christian Schröder seinem Publikum. Auch, dass er, als Wien 2006 um ein neues Werk anfragt, er den Medea-Stoff bereits im Kopf hat. Sozusagen als Pendant seiner Erfolgs-Oper Lear von 1978 – jetzt eine tragische Frauengestalt in den Mittelpunkt zu stellen! Es ist die Medea, wie er sie in der Tragödien-Fassung von Hans Henny Jahnn kennt. Dann trifft er den Freund und Dramaturgen Klaus Schultz. Der fordert ihn auf, sofort Grillparzers Medea zu kaufen und zu lesen. Das geschieht in der Nacht vor der Abreise zu den Vorgesprächen nach Wien. In dieser Nacht fällt die Entscheidung für Grillparzer.
Reimann gefällt Grillparzers Medea, die extrem ausgegrenzt, ihr Schicksal aber in die Hand nimmt, die kämpft und sich zum Schluss nicht einfach umbringt. Sie bringt das Vlies zurück und stellt sich als Barbarin verunglimpft in Delphi dem Richterspruch der Kulturnation der Griechen. Eine mutige Medea, so Reimann, die hochaktuell ist:

Die Barbarin Medea heilt sogar etwas in der kulturellen Hochwelt, so Reimann. Seinen Lear-Librettisten Claus Henneberg konnte Reimann nicht mehr anfragen. Also macht er sich selbst an die Textarbeit. Reimann kondensiert auf die wichtigen Stationen hin, die die Verwandlung zwischen Medea und Jason vom asylsuchenden Liebespaar in eine Gegnerschaft von Verräter und Rächerin bringt. Angefangen beim Versuch Medeas, sich „anzupassen“, heißt, als Barbarin aus Kolchis sich dem kultivierten Griechentum zu unterwerfen, und von Jason, der gegenüber Kreon darauf besteht, Asyl auch für seine Frau und die Kinder zu bekommen, bis er mit der Königstochter Kreusa im Asylland Korinth anbändelt und sich zu seinem Vorteil von Medea lossagt. Die „Gastgebende“ Gesellschaft spielt dabei eine wichtige Rolle. Jasons Diebstahl des Goldenen Vlieses, um die verlorene Herrschaft in Iolkos wieder zu erlangen, wird von einem Herold ins Spiel gebracht. Jasons Oheim Pelias hat die Herrschaft usurpiert. Ohne Medeas Hilfe wäre der Diebstahl nicht möglich gewesen. Todesfälle begleiten die Tat „aus Liebe“, wie Medea sagt, die ihre gemeinsame Flucht als böses Omen begleiten. Die Argonautensage ist wie die Orestie verstrickt und verworren. Bei Reimann teilt sich die Einengung und Ausgrenzung vor allem Medeas‘ auch ohne ein komplettes Detailverständnis mit: Vorwurf, Verteidigung, Beleidigung, Kompromittierung, und das immer schon vorweg durch die Musik. Die Essener Philharmoniker unter Robert Jindra lassen es aus dem Theatergraben wie aus einem Hexenkessel brodeln. Das eröffnende Zwiegespräch zwischen Medea (Claudia Barainsky) und ihrer Amme Gora (Marie-Helen Joël) wird eingeleitet von Gong-ähnlichen Tempelklängen verschieden großen Tamtams und einer seltsam archaischen Melodie aus extremer Tiefe von Bassflöte und Bassklarinette. Durch Kopplung weiterer Holzblasinstrumente wird sie intensiver, bis sie sich in einen plötzlich auffächernden transparenten Streicherklang auflöst. Das ist „die Zeit der Nacht“! Medea und ihre Amme stehen im Schwarz der leeren Bühne, in der sich das goldene Vlies als riesige Folie von Geistergestalten aufwirft und in einer Kiste verschwindet. Medea ist mit Jason bereits in Korinth angekommen und versenkt in einem Ritual ihre Zaubergaben, um eine ordentliche Griechin zu werden! Aber sie bleibt: Medea! Nach fast zwei Stunden wird sie die Kiste wieder öffnen und sich mit Hilfe des Zauberwerkzeugs darin rächen. Als Verstoßene, auch der Kinder beraubt, die von Kreusa unbedarft weggelockt und manipuliert wurden. Das ist nur möglich, weil Jason sie verrät, um den Preis, dass er aufgenommen wird.

Rainer Maria Röhr (Kreon), Sebastian Noack (Jason), Liliana de Sousa (Kreusa), Claudia Barainsky (Medea)
Foto: Karl Forster

Die Regie symbolisiert diesen Prozess durch Farben. Jason, zunächst in grüner Uniform, übernimmt die Farbe blau der gehobenen Griechen! Zwischenzeitlich stülpt sich auch Medea ein blaues Kleid über, das sie sich aber bald wieder vom Leib reißt und wieder in grellem rot da steht, wie ganz zu Anfang. Das ist die Farbe, die alle aufregt. Die Fremde macht Angst, weil man sich nicht mit ihrer Kultur auseinandersetzen möchte. Dennoch geraten alle Personen durch Medea in „Vibrationen“, wie Reiman das beschreibt, was er mit kleinen Aufregungs-Melismen am Ende von gesungenen Phrasen deutlich macht. Und je mehr Medea eingeengt wird, um so koloraturenhafter wird auch ihre Gesangslinie.

Rainer Maria Röhr (Kreon), Sebastian Noack (Jason), Liliana de Sousa (Kreusa), Claudia Barainsky (Medea) Foto: Karl Forster
Rainer Maria Röhr (Kreon), Sebastian Noack (Jason), Liliana de Sousa (Kreusa), Claudia Barainsky (Medea)
Foto: Karl Forster

In der Palastvision, die sich eindrucksvoll von hinten nach vorne schiebt und auch rotiert, agieren die kultivierten Griechen von oben „herablassend“. Die Asylsuchenden hausen unten oder verstecken sich im Schutz von Treppen, bis Jason und die Kinder dann doch gern aufsteigen, um von oben die Raubtiere mit Fleischstückchen zu füttern. Kreon regiert als eine Art Thomas Gottschalk-Verschnitt im Samtanzug. Kreusa ist ein „Luxusweibchen“ – so Reimann – mit Lila-Blondföhnfrisur im engen Blauen mit glitzernden Highheel–Stiefeletten, die mit den Kindern im Hintergrund ausgelassen Ball spielt. Bevor Kreusa auftritt, trällert sie immer schon im Hintergrund herum. Das steht so in der Partitur.

Immer wieder entwickeln sich Melodien aus verschiedenen Orchestergruppen heraus, die mit den in Quintolen und Sextolen notierten fließenden Gesangslinien korrespondieren oder sich abwechseln. Gleich am Anfang ist die Tonfolge e-e-d-e-a deutlich hörbar, mit der Reiman die Buchstaben Medeas‘ musikalisiert. Irisierende Orchesterflächen wuseln in großer Tiefe oder Höhe in den verschiedenen Stimmgruppen. Der Orchesterklang bleibt immer transparent, verdeckt nie den Gesang. Dennoch ist ihm das grauenvolle Finale des Mythos‘ wie eingeschrieben. Tomtom-Schläge fahren heftig hinein. Oder Streicherbögen hauen auf den Korpus der Instrumente. Das Archaische des Mythos bleibt immer spürbar. Nach einem längeren Zwischenspiel beginnen Kreusa und Medea mit gemeinsamen Vokalisen ein Duett. Diese „Liedszene“ ist auch bei Grillparzer Dreh und Angelpunkt im Drama. Jason kommt dazu, und erinnert sich von pizzicati begleitet an seine gemeinsame Kindheit mit Kreusa am Korinther Hof. Dabei ignoriert er das Bemühen Medeas, ihm wie eine Griechin mit einem Lied zu gefallen.

Claudia Barainsky (Medea), Liliana de Sousa (Kreusa) Foto: Karl Forster
Claudia Barainsky (Medea), Liliana de Sousa (Kreusa) Foto: Karl Forster

Aus Frust zertrümmert Medea eine Harfe, in Essen eine Geige, und schreit, dass sie doch noch lebe! Die gesamte Dramatik entwickelt sich in Reimanns Drama aus der gesungenen Konfrontation. Sie werden durch Erzählungen gespeist, die immer wieder durch andere Instrumentenzusammenstellungen charakterisiert sind. Gesungen wird in Essen übrigens trotz enormer Sprünge und Verzierungen in den Partien mit großer Textverständlichkeit. Aribert Reimann, weiß ja auch als Sohn einer Sängerin, Pianist und Liedbegleiter, dessen erste Kompositionen Klavierlieder waren, mit Stimmen umzugehen. An der Hochschule der Künste Berlin hat er das Fachgebiet Zeitgenössisches Lied unterrichtet, und dort auch Claudia Barainsky als Studentin kennengelernt. Barainsky hat schon die Hauptrolle in Reimanns Melusinen-Oper übernommen und erweist sich auch hier als perfekte Reimann-Interpretin. Sebastian Noack ist ein kraftvoll auftrumpfender Jason, wie er Reimann gefallen müsste. Rainer Maria Röhr ein insistierender, teilweise larmoyanter und geldgieriger Kreon. Liliana de Sousa jubiliert ahnungslos virtuos als Kreusa. Und mit Countertenor Hagen Matzeit tritt nach besagter Liedszene ein widerlicher Bannverkünder auf den Plan, der mit seiner Ankündigung seine Handschuhe genüsslich auf Spieße steckt, wie die Barbaren Köpfe der Feinde! Am Ende schließt sich ein Kreis. Die Bühne ist wie zu Anfang wieder schwarz und leer. Durch eine Brand-Nebelwolke wird ein gebrochener Jason herein getrieben. Die Kinder umgebracht, Kreusa verbrannt. Und er beschwört die Liebe zu Medea… Die glaubt ihm nicht mehr. Obwohl an dieser Stelle zumindest die Streicher einmal gefährlich emotionsgeladen aufspielen. Zwischen hohen Piccoloflöten und tief grummelnden Kontrabässen holt Medea die Goldene Vlies-Folie aus der Kiste, legt sie sich – schwarz geworden – um und geht einer ungewissen, aber wohl nicht hoffnungslosen Zukunft entgegen. Die Utopie dieser Hoffnung muss allerdings, ebenso wie im Reimann-Grillparzer-Drama so auch in unserer Gesellschaft, noch realisiert werden.

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