Kriegerische Amazone, arme Bauerntochter, besessene Jungfrau oder visionäre Heilige … Wer sie wirklich war, wissen wir auch nach den 100 Minuten in der Brüsseler Oper nicht. Regisseur Romeo Castellucci kratzt zwar an den Schichten, die sich im Laufe der Geschichte auf ihren Mythos, beziehungsweise um die inzwischen heilig-gesprochene Patronin Frankreichs gelegt haben. Er legt aber auch neue Projektionsflächen an. Erlebbar macht er vor allem einen Menschen, der einsam ist. Jeanne hat es in Konfrontation mit den Autoritäten gehörig mit der Angst zu tun bekommen. Und dass sie, wenn auch hier kontrolliert Amok läuft, weil sie politisch benutzt wird und dafür kläglich im Feuer sterben muss, ist nachvollziehbar. Ein Hauptverdienst des Abends geht auf das Konto der großartigen Schauspielerin Audrey Bonnet. Die Partie der Jeanne ist eine reine Sprechrolle. Audrey Bonnet durchlebt das in Jeannes kurzem Leben so tief gesunkene Hoffnungsbarometer bis in ein vorweg geschaufeltes Grab hinein mit hohem körperlichem Einsatz. Das sorgt für Kontrapunkte zu den über weite Strecken mystisch-magischen verklärenden Klangflächen. (Von Sabine Weber)
(5. Oktober 2019, La Monnaie/ De Munt, Brüssel) Der Mythos keimt überall! Dieser steckt zu Anfang in einem hinkenden Hausmeister, bei dem – typisch Castellucci – den Zuschauer ganz allmählich ein Unbehagen überkommt. Erst reinigt er gemächlich eine nach der Pausenklingel sturmartig verlassene Schulklasse. Räumt Tische und Bänke zusammen, und das immer aggressiver, bis alles plötzlich aus dem Raum in einen Nebengang fliegt. Selbst die Tafel wird heruntergerissen. Der Linoleumboden wird aufgerissen, in den Kacheln darunter gewühlt. Im Erdreich angekommen, fliegt Erde in Fontänen hinaus. Die Tür hat er zuvor noch von innen verschlossen. Der jetzt kahle Raum wird zum archäologischen Ausgrabungsraum von Erinnerungen in 11 Szenen. Die Musik drängt gurgelnd dräuend aus dem Graben. Und wenn der Chor vom vierten Balkon aus, ganz oben unter dem Dach, „Dunkelheit“ und „Ah!“ dazu stöhnt, spürt jeder, dass der Tragödie Tiefpunkt noch nicht erreicht, sondern dass dies erst der Ausgangspunkt ist. Ganz zum Schluss wird allerdings erst begreiflich, dass mit dem Erdloch auch bereits der Scheiterhaufen auf der Bühne errichtet ist, auf dem Johanna unter sinnbildlichen Erdfontänen begraben wird.
Romeo Castellucci zeigt sich wieder einmal als Meister einer subtil dramatisierten Enthüllungstechnik. Vorausnehmend erklären sich die Bilder, die Symbole oder die zum Teil eruptiven Handlungen zum Leben dieser Heiligen sukzessiv. Erkennungspfade sind subkutan angelegt, bis das unbekannte ES im Scheinwerferlicht schockierend da steht. Gleich in der ersten Szene nach dem Prolog rufen Stimmen aus dem Raum Jeannes Namen. Wer ist sie? Bereits auf Castelluccis Spur, hat man sich die Frage längst selbst gestellt! Und wie ein Alien mutiert der Hausmeister, bekommt lange Haare und formuliert
murmelnd die Rufe des Chores zu Fragen um. Sie sind an Beichtvater Dominique gerichtet, der im Nebengang an der verschlossenen Tür in einer Doppelrolle steckt. Als Schulleiter versucht er den Amoklauf unter Kontrolle zu halten. Jeanne – immer im Gespräch mit Bruder Dominque – folgt hinter der Tür aber unbeirrt ihrer eigenen Seins-Archäologie. Mit Tüchern verkleidet sie sich wie die Jungfrau Maria, jagt auf dem Besen wie eine Hexe durch den Raum. Dieser Vorwurf wird ja gegen sie erhoben. Oder sie schreitet, eine verblichene Trikolore um sich geschlungen und ein riesiges Schwert in der Hand als Ex-Heldin
der französischen Geschichte von 1429 durch den Raum. Der Gaul, den sie hinter dem Vorhang vorzieht, ist nur mehr Kadaver. Jeanne muss sich für ihre einstigen Triumphe rechtfertigen. Hat sie wirklich das Pferd des Königs beim Zügel nach Reims zur Krönung geführt? Arthur Honegger und Paul Claudel haben einen von Tieren
geführten falschen Prozess hinein konzipiert. (Szene IV – Jeanne, den Tieren ausgeliefert) Unter dem Vorsitz eines Schweins, französisch Cochon, eine Anspielung auf Bischof Pierre Cauchon, der den Prozess in Rouen damals gegen Jeanne tatsächlich geführt hat, werden ihr die Worte im Mund herum gedreht. Honegger begleitet das mit frecher Zirkusallüre und erinnert daran, dass er als Mitglied der Groupe de Six schon einmal ganz programmatisch allem musikalischen Pathos den Krieg erklärt hat. Überhaupt ist seine Stilistik vielfältig, von Marschallüre bis zu protestantischem Choralgesang, gregorianischem Gesang bis hin zur Blechfanfare und jazziger Allüre. Im Graben sitzen Saxophonspieler, und ein elektronisches Ondes Martenot jault einige Male. Aber vor allem ist der mächtige Chor omnipräsent, einmal auch ein Kinderchor, der während des ganzen Stücks ohne Pause im oberen Balkon unsichtbar gewaltig einwirkt. Mal mit Tierlauten und auch schon mal mit textlosen Vokalisen. Die visionären Stimmen der heiligen Katharina und der heiligen Margareta, sowie der heiligen Jungfrau, die Johanna hört, kommen solistisch hinter einem schwarzem Gazevorhang versteckt aus den Proszeniumslogen über dem Orchestergraben rechts und links. Dazu die männlichen Prozessführer. Das hat etwas Gespenstisches, so als würde sich alles im Kopf von Johanna abspielen. Die Bühne gehört den Abend über nur ihr und ihren existentiellen Metamorphosen. Audrey Bonnet hat schon vor zwei Jahren in Lyon in dieser Inszenierung diese Rolle ausgefüllt. Und sie geht mit viel Haut in dieser auf. Stellenweise nackt, nur mit Mehl bestäubt, wenn Kinderlieder über das Backen aus Jeannes Heimat Lothringen angestimmt werden. Was Maria Falconetti in dem legendären Historienfilm Die Passion der Jungfrau von Orléans von 1928 ist, das ist Audrey Bonnet für Castelluccis Inszenierung. Ihr widmet Castellucci auch die Initialen auf dem Vorhang A B! Der Film von 1928 in der Regie von Carl Theodor Dreyer, vor allem die Hauptdarstellerin, hat Honegger nachweislich dazu angeregt, sein Oratorium zu erschaffen. Dabei hat er sich kongenial vom musikalischen Wortfluss seines engen Mitstreiters Claudel antreiben lassen. Für deren Jeanne d‘Arc au bûcher – Johanna auf dem Scheiterhaufen – ist die Titelrolle natürlich auch prominent fokussiert worden. Für die Tänzerin Ida Rubinstein, die Johanna bei der Uraufführung in Basel im Mai 1938 auch verkörpert hat. Das alles ist in dem wie gewohnt sehr ausführlichen Programmheft in Brüssel nachzulesen, allerdings nur auf französisch und flämisch. Auch wird am La Monnaie/ De Munt das Libretto immer mitgeliefert! Bei der Premiere zu diesem sprach- und klanggewaltig beeindruckenden Abend fügt sich alles. Und der musikalische Kitsch in der letzten Szene wird Gott sei Dank szenisch wieder aufgeraut, sodass er sich nicht zur göttlichen Liebes-Apotheose versteigt. Ein Double der viel zu früh ins Grab steigenden Johanna, eine alte nackte Frau, erscheint und tröstet die, die Angst hat und nicht sterben will. Die beschworene Liebe Gottes hat also ein faltiges Antlitz! Es hat übrigens im Vorfeld Proteste gegen diese Inszenierung gegeben. 14.000 Unterschriften der Fédération pro Europa Christiana seien eingereicht worden, um die Aufführung dieser Produktion zu verhindern, hieß es. Das Brüsseler Opernhaus hat natürlich seine künstlerische Freiheit behauptet.