Hoffnung und Friedensutopie in Magnards „Guercœur“ weiten sich in Strasbourg ins Kosmische

Stéphane Degout muss sich in der Titelrolle unter Regisseur Christoph Loy in einem kargen Setting hart an himmlischen Mahnerinnen und menschlichen Widerständen abarbeiten und bleibt dabei bis zuletzt stimmlich überragend. Das Orchestre Philharmonique Strasbourg dreht unter Ingo Metzmacher gewaltig auf und erklimmt die vielen dramatischen Gipfel Alberic Magnards, während der Chœur de l’Opera national du Rhin mit mystischen Botschaften aus dem Off hinter dem Parkett das Publikum entrückt. (Von Sabine Weber)

(28. April 2024, Opera du Rhin, Premiere) Am Ende gewinnt in dieser erst dritten Produktion von Alberic Magnards Guercœur, nach Paris 1931 und Osnabrück 2019, die Partitur! Magnard hat ein musikalisch exquisites bis dramatisches, in jedem Moment überwältigendes Werk geschaffen. Die Musik ist hochromantisch. Aus herzzerreißender Klagemusik entwickelt Magnard rasant schnell wütige Aufschwünge und setzt immer wieder gefährliche Walzen in Gang. An Wagner denkt man auch wegen leitmotivischer Wiederholungen. Manchmal sogar an Minimal Music. Es gibt aber auch öfters Anklänge an Trauermarschmusik, mit der im nachrevolutionären Paris die Helden zu Grabe getragen wurden. Arien gibt es keine. Es wird in großen Bögen gesungen, so, wie die durchweg packende, berührende und mitreißende Musik in großen Bögen durchkomponiert ist.

Magnards freie Dichtung wirkt nie verschwurbelt

Die Geschichte hat übrigens keine Vorlage. Magnard hat sie erfunden. Das Libretto hat Magnard auch selbst geschrieben. Es besteht vor allem aus menschlich betroffen machenden, meist dramatischen Auseinandersetzungen, Argumentationen, Verhandlungen. Die freie Dichtung fließt und wirkt nie verschwurbelt. Man ist gespannt auf die immer neuen schlüssigen Einwände.

Drei Akte lang, auch wenn der erste und letzte im Himmel spielen, nur der mittlere auf der Erde, stehen erstaunlich moderne Fragen im Raum. Kann der Mensch auf Erden einer gerechten Überzeugung leben und glücklich werden? Ist Freiheit des Menschen höchstes Gut und wahre Liebe unsterblich? Um sich ein „Nein” einzuhandeln, kehrt der verstorbene Guercœur nochmals zur Erde zurück und begräbt seine Utopie. Im letzten Akt wird sie dennoch wieder beschworen. Es muss Hoffnung geben.

Auf der Bühne gibt es eine handfeste Schlägerei

Für Guercœur ist das erst einmal eine schmerzliche Lektion. Seine Geliebte Giselle hat ihn zwar nicht vergessen, aber sie liebt inzwischen seinen ehemaligen Schüler Heurtal. Auch ihn hat Guercœur geliebt. Und ausgerechnet der verrät die Ideale seines einstigen Meisters und will sich zum Diktator aufschwingen. Heurtal zettelt dafür einen Aufstand an. Das ist die tumultuöseste Szene der Oper, mit getrennten Frauen- und Männerchören großartig aufgezogen, letztere schmettern typisch französisch simple Siegeshymnen. Man wähnt sich in einer Verschwörung der Dritten Republik. Natürlich gibt es auf der Bühne eine handfest inszenierte Schlägerei zwischen ihren Anhängern und Gegnern. Guercœur will das Blutbad verhindern, wirft sich zwischen die Fronten und wird ermordet…

Von der ersten Minute an Sogwirkung

Magnards Ideendrama, Mysterienspiel – wegen der himmlischen Begegnungen mit den weiblichen Allegorien der Weisheit, Güte, Schönheit und des Leides auch eine Parabel – ist ziemlich klar organisiert. Und entwickelt in Strasbourg von der ersten Minute an Sogwirkung. Zur seismografisch perfekt wuchernden Musik kommt nämlich die klar abgezirkelte Regie von Christoph Loy. Es sind heutige Personen, die er bewegt. Guercœur und Heurtal tragen Anzug und Krawatte. Der Chor ist sowohl im Himmel wie auf Erden in feine Casual Wear gekleidet. Auch der Himmel erscheint mitsamt den Göttinnen menschlich. Allein die Allegorien tragen göttliches schwarz. (Kostüme: Ursula Renzenbrink)

Damenchor, Stéphane Degout (Guercœur), Adriana Bignagni Lesca (Souffrance)
Damenchor, Stéphane Degout (Guercœur), Adriana Bignagni Lesca (Souffrance). Foto: Klara Beck
Die Regie entwickelt passgenaue Haltungen, Gestik und Mimik

Schon die geometrische Anordnung mehrerer Personen oder Stühle, einzige Requisiten des Abends, erzeugt Spannungsfelder. Mit genau entwickelten Haltungen, Gesten und Mimik begegnen sich die Protagonisten. Auch wie auf dem Stuhl gesessen wird, hier ist alles bis ins Detail genau überlegt.

Filmreif ist die erste Wiederbegegnung mit Giselle. „Sind die Toten unter uns“, sinniert sie hellseherisch. Sie muss immer wieder an Guercœur denken. Hört Schritte, hofft, Heurtal käme zurück, dreht sich um und stößt einen Schreckensschrei aus. Der geht durch Mark und Bein. Da steht Guercœur. Im Film könnte das nicht besser gespielt sein.

Ein Wandelement als teilende Diagonale

Die Bühne von Johannes Leiacker gibt den Begegnungen und Konstellationen Raum. Ein schwarzes Wandelement dreht sich als teilende Diagonale in den Raum, schwarz für den ersten und letzten Akt als imaginärer himmlischer Raum. Auf der anderen Seite ist die Wand für den mittleren irdischen Akt weiß. Es blättern sich auch noch zwei eng gesetzte Wandelemente auf, die mit einer impressionistischen Landschaftsdarstellung Natur andeuten. Der zweite Akt beginnt mit einem sinfonischen Landschaftsprelude.

Großartiges Gesangsensemble

Der Abend lebt von der grandiosen Musik und dem alle überragenden Bariton Stéphane Degout. Schonungslos wirft er sich in jede Enttäuschung Guercœurs hinein, wütet im Fortissimo und gibt irritiert Kommentaren eine besondere Farbe. Bewegend klingt sein „Si cruelle, si touchante“ auf die Bitte Giselles hin, ihr doch zu verzeihen. Mezzo Antoinette Dennefeld ist eine optisch schöne Giselle, der man nichts versagen kann, und sie klingt wunderbar in der Mittellage, etwas angestrengt  manchmal im Fortissimo. Tenor Julien Henric gibt den jugendlich draufgängerischen Heurtal, der sich eitel den Kamm durch die Haare zieht. Eugénie Joneau als Bonté, die Güte, formt ihre Töne rund und warm. Beeindruckend ist Altistin Adriana Bignagni Lesca als gestrenge Souffrance, Leiden, die während Guercœurs Erdenabenteuer immer mal wieder an seiner Seite auftaucht und aufpasst. Trotzig und widerständig, mit den Händen in der Hosentasche, hat sie die irdischen Leiden Guercœurs vorhergesagt.

Wesen sind vergänglich, ihre Bemühungen bleiben unsterblich

Catherine Hunold als korpulente Verité, Weisheit, ist eine mächtige Institution, klingt im Fortissimo manchmal zwar etwas scharf. Aber großartig ist ihr Schlussmonolog über eine zukünftige Friedensutopie kosmischen Ausmaßes. Ein Sternenhimmel zieht auf. Irgendwie lässt das an Isoldes Schlussauftritt denken. Allerdings gibt es allenfalls in der Musik Rauschhaftes. Prophetisch überhöht klingen ihre Lobesworte „Ehre sei denen, die ihrer Zeit voraus sind. Wesen sind vergänglich, aber ihre Bemühungen bleiben unsterblich“. Und doch, man denkt darüber nach.

Seliges Damen-Quartett über das Vergessen

Zum Ende bilden die Allegorie-Göttinnen ein Gruppenbild, die Schönheit mit Gabrielle Philiponet gehört noch dazu. Sie beschwören im Quartett seliges Vergessen. Guercœur liegt schlafend am Boden und wird mit Blumen bedeckt. Der Chor kündet aus dem Off von der Hoffnung. Das ist zwar ziemlich kitschig, aber nach all den Kämpfen und Auseinandersetzungen schon auch akzeptabel. Außerdem hat die Musik längst süchtig gemacht. Großer Applaus für die Solisten, den engagiert agierenden Chor, für Dirigent Ingo Metzmacher, der bereits nach der zweiten Pause zum dritten Akt mit Bravorufen wieder begrüßt wurde, und nicht zuletzt für das Regieteam.

Zu erwähnen ist unbedingt auch das Programmbuch mit interessanten Artikeln, Interviews und dem gesamten Libretto, einschließlich der markierten gekürzten Stellen. Welches Opernhaus in Deutschland leistet sich noch diesen informativen Luxus?

Weitere Termine:
Opéra du Rhin Strasbourg: 30. April, 2./ 4./ 7. Mai
Opéra du Rhin Mühlhausen: 26./ 28. Mai
Übertitel in Französisch und Deutsch

Ein Mitschnitt von France Musique wird am 25. Mai ab 20 Uhr ausgestrahlt. Ab dem 25. Mai ist „Guercoeur” auf ARTE Concert  ein Jahr abrufbar.

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