Enorm war die Vorfreude auf die erste Premiere unter dem neuen Intendanten Serge Dorny aus Lyon und seinem neuen Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski. Kein bekanntes Prunkstück der „Hausgötter“ Mozart, Wagner oder Strauss, sondern erstmals überhaupt am Nationaltheater „Die Nase“ des 24jährigen Dmitri Schostakowitsch: schrilles, schräges, expressionistisches Musiktheater des frühen 20. Jahrhunderts. Und die Oper eines Russen in der Produktion eines rein russischen Teams! Der großartige, so ungemein fantasievolle und umtriebige russische Film-, Theater- und Opern-Regisseur Kirill Serebrennikov inszenierte nach Musiktheater-Geniestreichen in Zürich („Così fan tutte“), Hamburg („Nabucco“) und zuletzt Wien („Parsifal“) erstmals eine Produktion an der Bayerischen Staatsoper. Wieder konnte er nicht vor Ort sein. Denn auch wenn sein Moskauer Hausarrest nach Aussetzung einer mehrjährigen Strafe wegen angeblicher Veruntreuung von Steuergeldern zur Bewährung mittlerweile aufgehoben ist, besitzt er keinen Pass und kann Russland nicht verlassen. (Von Klaus Kalchschmid)
(24. Oktober 2021, Staatsoper München) Seine Inszenierung und Ausstattung (Mitarbeit Bühne: Olga Pavluk, Kostüme: Tatyana Dolmatovskaya) von Schostakowitschs frechem, explosivem, genialem Frühwerk von 1930 nach der berühmten Erzählung von Nikolai Gogol (1836) spielt im eisig kalten Sankt Petersburg von heute. Die Stadt ist voll von riesigen (Alt-)Schneehaufen mit jeder Menge Eiszapfen an den Dachrinnen. Panzer und Polizei-Fahrzeugen werden als Pappkameraden hereingetragen wie auch das berühmte Reiterstandbild Peters des Großen, der hier ersetzt wurde durch – eine Nase!
Hauptfigur ist ein Polizist namens Major Kovaljev. Sein Mitarbeiter Ivan Jakovlevič (Sergei Leiferkus) schneidet neuen Inhaftierten auf dem Revier routinemäßig die Nasen ab, denn laut Serebrennikovs Inhaltsangabe sind möglichst viele Nasen ein Statussymbol. Kovaljov kommt dagegen seine Nase abhanden. Doch sie erweist sich in der Neudeutung als Fat Suit, also als Auspolsterung seiner Uniform, um ihn vor der Kälte zu schützen, aber auch um ihn mächtiger und gefährlicher wirken zu lassen. Gleichsam er selbst geworden, macht sich freilich große Unsicherheit in ihm breit und er fahndet panisch nach dem verlorenen „Körperteil“. Als er sich ihm leibhaftig gegenüber sieht, erweist sich „die Nase“ als Apparatschik mit roter Krawatte, sozusagen als die unverstellte Essenz der Macht.
So schön, so kompliziert und nicht wirklich theatralisch gedacht ist das, zumal das Volk offensichtlich kollektiv Schönheits-Nasen-operiert ist und eine Art Pflaster trägt, das alle, aber auch wirklich alle gleich aussehen lässt. Das erschwert die Identifikation der mehr als zwei Dutzend Rollen, teilweise in Mehrfachbesetzung, ist man doch permanent gut beschäftigt, den wortreich russisch gesungenen Text dank Übertitel einigermaßen zu verstehen. Kommen noch eine Reihe Choristen und Statisten hinzu, die weder Co-Regisseur Evgeny Kulagin noch der via Zoom inszenierende Serebrennikov in den Griff bekommen.
Bleibt also die beißend-ironische Kritik des Regisseurs am Polizeistaat Russland, ohne dass dies glücklicherweise auf der Bühne allzu plakativ gezeigt wird. Denn POLIZEI steht auf dem Rücken der zahlreich den Raum bevölkernden uniformen Beamten beiderlei Geschlechts. Identifizierbar ist noch nicht einmal eine Laura Aikin als Praskovja Osipona/Mutter und Ehrwürdige Dame, aber dafür trotz mehrerer Schichten Make-up und ebenfalls einer Maske Doris Soffel als wunderbar schrullige Alte Dame! Deshalb sei hier ein pauschales Lob an alle Sängerinnen und Sänger ausgesprochen, auch an die zahlreichen jungen Mitglieder des Ensembles und des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper! Herausragend singend und spielend ist Boris Pinkhasovich als der zentrale Major Platon Kusmič Kovaljov erkennbar und Anton Rositskiy als zutiefst (un)menschliche „Nase“ ohne Maske. Daneben ist er auch Altes Männlein/ 1. Neuankömmling/Verdienter Oberst und Pförtner des Polizeichef. Das kann man zumindest dem Programmzettel entnehmen.
Ein retardierendes Moment gibt es kurz vor Schluss bei all dem Tohuwabohu, in dem man auch ein in allen Farben blinkendes Weihnachtskonzert mit buntem Balalaika-Orchester auf der Bühne bestaunen darf und einen veritablen Teufel mit Hörnern. Da wird das 1926 entstandene Bild „Der Ballon fliegt davon“ von Sergei Lutschischkin auf der Bühne Wirklichkeit. Darauf ist zwischen Häuserschluchten ein einsames kleines Mädchen zu sehen, dem der Luftballon davongeflogen. Das Gemälde ist für Serebrennikow Inspiration gewesen als „Metapher des einsamen Lebens und Sterbens“ und „Vorwegnahme der Verzweiflung und des Horrors, die für viele Menschen im stalinistischen Regime ab den 1930er Jahren spürbar wurden“. Dazu erklingt der mürbe Anfang des berühmten Streichquartetts Nr. 8 c-moll von Schostakowitsch. Und am Ende gibt es zum Zerplatzen des Ballons einen Knall und – Blackout. Dieses Bild ist das schönste und beziehungsreichste als das geheimnisvoll verhaltenste der ganzen zweistündigen, pausenlosen Aufführung.
Anders als Serebrennikov ist Dirigent Vladimir Jurowski mit dem exzellenten Bayerischen Staatsorchester äußerst erfolgreich bemüht, die Partitur behutsam aufzuschlüsseln und die vielen Volten und Grellheiten nicht extra zu betonen, sondern sie mit ganz feinem Skalpell freizulegen. So ist die musikalische Seite uneingeschränkt zu loben, während die szenische Umsetzung leider an Überambitioniertheit und allzu viel Deutungshoheit leidet.
Am Mittwoch, 27. Oktober 2021 (19:30 Uhr), überträgt BR Klassik die Vorstellung live. Gleichzeitig ist sie als kostenloser Video-Livestream auf der StaatsoperTV zu sehen. Ab Anfang November für 30 Tage als Video on demand (VoD) abrufbar.