„Written on skin“. Benjamin Lazar gibt sein Regiedebüt an der Oper Köln am 1. Dezember 2020 und erklärt seine Herangehensweise an zeitgenössische Oper!

Eigentlich hätte am 22. November Premiere sein sollen. Die Probenphasen haben sich nach hinten verlagert. Aber die Kölner Oper ist guter Dinge, dass die Premiere von George Benjamins „Written on Skin“ am 1. Dezember auch vor Publikum stattfinden kann. Die Proben laufen auf Hochtouren im Staatenhaus, derzeitige Ausweichspielstätte der Kölner Oper. Und nicht nur zu dieser Probe. Noch zwei weitere Premieren sind in Arbeit. Das Staatenhaus ist ja groß genug. Der Kantinenbereich ist dennoch erstaunlich leer. Geselligkeit ist offensichtlich nicht das Gebot der Stunde. Vor Benjamin Lazar, an einem Stehtisch abseits, fahre ich das Mikrofon aus. Für mein erstes Interview mit Mundschutz. Der Regisseur will es so! (Die Fragen stellt Sabine Weber)

Die Regiearbeit zu Georges Benjamins Written on Skin ist ihre erste Arbeit für die Oper in Köln?

Ja, es ist meine erste Chance, in dieser großartigen Oper und mit der dortigen ungewöhnlich motiviert und professionell arbeitenden Equipe eine neue Oper zu kreieren.

Wer hat Sie für Köln angefragt, ist unser französischer GMD François Xavier Roth an Sie heran getreten?

Regisseur Lazar und GMD Roth vor dem Décor. Foto: Teresa Rothwangl

François Xavier Roth verfolgt meine Arbeiten schon seit Jahren. Wir haben uns persönlich getroffen, als ich Donnerstag aus Licht von Karlheinz Stockhausen an der Opéra Comique in Paris gemacht habe. Mit dem Ensemble Le Balcon, geleitet von Maxime Pascal. Danach hat er mich gefragt, ob ich an der Oper Köln arbeiten wolle. Und Intendantin Birgit Meyer hat mich dann eingeladen und mir einige Titel vorgeschlagen. Written on Skin war dann das Werk, das ich unbedingt mit François Xavier Roth machen wollte.

Ein damaliger theatralische Einsatz kann auch noch in der Moderne einen Schock auslösen

Sie sind als Spezialist für die Rekonstruktion barocker Opernaufführungen bekannt geworden. Haben sich in die Gepflogenheiten von Gestik, Mimik, Bewegung, Raum und Beleuchtung auf barocken Bühnen eingearbeitet und große Erfolge mit historischen Ensembles gefeiert. Le Bourgois gentilhomme von Jean-Baptiste Lully ist als Gesamtkunstwerk 2004 mit Tänzern und Komödianten durch 22 Städte und sieben Länder gereist und auch als CD und DVD herausgekommen. Das Théâtre des Champs-Elysées nennt Sie den falschen Zwilling von Le Poème harmonique und Les Arts florissants. Diese Zeiten sind jetzt vorbei? Sie erobern die zeitgenössische Oper?

Nein. Was mich aber interessiert, sind die Überlagerungen der Zeiten. Wie sich Epochen mischen können und wie ein theatralischer Einsatz von damals mit einem Mal die Moderne anspricht. Und plötzlich sehr stark wirkt. Bezogen auf das barocke Theater, seine Gestik, interessiert mich der Schock, den das heute auslösen kann. Und in Written on Skin haben Martin Crimp (Text) und George Benjamin (Komponist) tatsächlich schockartige Wirkungen zwischen der mittelalterlichen und der zeitgenössischen Welt beabsichtigt. Und das ist etwas für mich!

Sie haben zusammen mit Vincent Dumestre viel Zeit im Kulturzentrum in Royaumont damit zugebracht, um die Bedingungen historischer Aufführungen von barocken Opern zu recherchieren. Wie sind Sie vorgegangen?

Die Arbeit hat viel früher begonnen. Ich habe den Regisseur und Filmemacher Eugene Green kennen gelernt. Das war 1990. Ich war 12 Jahre alt. Also noch ziemlich jung. Das Barocktheater bearbeite ich seit dieser Zeit. Viel später dann habe ich die Ergebnisse meiner Recherchen Vincent Dumestre in Royaumont gezeigt. Und das war ein Jahr bevor wir 2004 Le bourgois gentillhomme gemacht haben. Dann haben wir die Gestik von Sängern, Tänzern und Komödianten zusammen recherchiert. Und in der barocken Zeit gibt es einen Haufen von Übereinstimmungen zwischen der Gestik von Schauspielern und Sängern. Oder der Stimme des Komödianten und der Stimme des Sängers. Die Grenzen zwischen beiden sind durchlässig. Das ist dasselbe Universum. Wir haben um die Air de Cours herum experimentiert. Uns Auszüge von Opern vorgenommen, Auszüge von Schauspielstücken, alles, um die gemeinsamen Gesten herauszufiltern.

Welche Quellen konnten Sie denn plündern?

Die Quellen sind alle zugänglich. Und eine Bibliographie über „barocke Gestik“ würde ziemlich lang werden. Wichtig ist die Basis der Recherche. Und für jedes Werk muss eine spezielle Recherche gemacht werden. Über die Zeit der Entstehung, über die Motivation des Komponisten in seiner Epoche. Das ist am Ende eine jahrelange Arbeit. Welche verschrifteten Anweisungen, welches Tableau mit Gesten verrät etwas, welche Abhandlungen über Gestik erstehen Sie bei einer Auktion und können sie nach Hause tragen. Die Praxis der Musik und ihre Körperlichkeit lehrt auch jede Menge.

„Ich bin von mehr sensibilisiert als vom psychologischen Spiel!“

Also ein Learning by doing. Und ein Zusammenwirken von vielen Bereichen, die in der barocken Oper zusammen kommen. Welche daraus gezogenen Überzeugungen bringen Sie denn in der zeitgenössischen Oper ein? In Written on Skin?

Benjamin Lazar erklärt! Foto: Teresa Rothwangl

Natürlich hat das einen Einfluss. Ich würde aber sagen, es kann keine direkte Übertragung sein. Was sicher ist, ich bin von mehr sensibilisiert als dem rein psychologischen Spiel. Das erlaubt mir, andere Lösungen zu finden und dem Sänger beispielsweise körperlich Vorschläge zu machen, die manchmal etwas mehr stilisiert sind und weniger naturalistisch. Das ermöglicht dem Sänger, in Harmonie mit der Poesie (lyrisme) der Stimme zu kommen. Die Stimme in der Oper ist ja etwas, das zwar natürlich sein muss, aber auch übermenschlich wirkt. Sie kann immense menschliche Emotionen ausdrücken. Der Körper wächst dann über sich hinaus. Und die Normalität des Alltags wird verlassen, um derart starke Sachen auszudrücken! Die Stilisierung von Gesten hat mir geholfen, solche Dinge in der ästhetischen Arbeit zu entdecken, ohne dass ich jetzt barocke Gesten eins zu eins anwende. Da gibt es auch Einflüsse aus dem asiatischen Theater oder dem indischen und japanischen Theater, die sehr anschaulich sind und dennoch jenseits des Alltäglichen.

Clarté und Mystére!

Und jetzt Written on Skin, eine Troubadoursgeschichte aus dem 13. Jahrhundert. Eine Dreiecksliebe, in der der Hausherr seiner Dame das Herz des getöteten Liebhabers serviert. Ziemlich grausam? Was macht die Geschichte attraktiv?

Martin Crimp und George Benjamin haben sich eine Geschichte zwischen Klarheit (clarté) und Rätsel (mystère) ausgedacht. Die Geschichte ist wie ein Krimi, geheimnisvoll und abscheulich. Zum einen ist da der Sieg des Mannes, der sich rächt. Zum anderen eine Frau, die eine perfekte Vereinigung mit ihrem Liebhaber entdeckt und sich emanzipiert. Sie ist eine mittelalterliche Frau, die noch nicht einmal lesen kann, die unpolitisch ist. Dann fängt sie an, ihren Körper wahrzunehmen, entdeckt ihre Stimme, ihr Vergnügen, und sie entdeckt den Freitod. Denn es ist sie, die entscheidet, sich vom Balkon zu stürzen. Das hat Martin Crimp aus dieser Geschichte gezogen, eine Geschichte des 13. Jahrhunderts von Guillem Cabestany. Die Geschichte hat fasziniert. Es gibt viele weitere Versionen, zum Beispiel von Châtelain de Coucy.

Es ist also die Emanzipationsgeschichte einer Frau. Martin Crimp, der Textautor, hat die Geschichte auch insofern verändert, dass er drei Engel eingeführt hat. Welche Rolle haben sie?

Diese Engel sind wie bei Marivaux (Pierre Carlet de Marivaux, Schriftsteller der Frühaufklärung und des Rokoko) inspiriert. Bei Marivaux findet man oft Personen, die Versuche mit anderen Personen anstellen. Sie interessieren sich dafür, was in bestimmten Situationen passiert. Das haben wir hier auch mit den Engeln. Sie entscheiden sich, ein Paar des Mittelalters ins Leben zu setzen, um ihre Aktionen zu beobachten.

Ein Feldexperiment!

Exakt. Einer der Engel wird zu diesem garçon, der als Maler zu diesem Paar kommt.

Der Boy?

Der Boy! Und die anderen beiden beobachten und werden zu komplementären Beobachtern.

Beobachter eines Experiments, das sie auch kommentieren. Was interessiert Sie eigentlich persönlich an dieser Geschichte?

Vieles! Die Mischung aus Klarheit und Folgerichtigkeit im Ablauf, aber dann auch das Geheimnis um diesen harten Mann, den Beschützer (Protector). Und diese Frau, die sich von ihm emanzipiert. Der „Beschützer“ ist übrigens ein interessanter Charakter. Er ist in einer Männlichkeitskrise und geht durch einen Abgrund. Faszinierend, ein großartiger Charakter! Und dann muss ich zugeben, es ist auch die Schönheit der Musik! Sie gefällt mir enorm. Ich empfinde da eine Rivalität der Musik mit dem Bild. Ursprünglich geht es in der Geschichte um ein Buch. Am Anfang der originalen Geschichte geht es um einen dichtenden Troubadour. Jetzt ist es ein Maler. George Benjamin versucht mit seiner Musik zu malen und mit Bildern zu rivalisieren. Benjamin ist ein Schüler Olivier Messiaëns. Messiaën hat Farben gesehen, wenn er komponiert hat. Und in Benjamins Musik gibt es einen Farbenfaden. Das ist sehr faszinierend.

Und es gibt besondere Instrumentenfarben wie die Viola da gamba!

Ja, und sie steuern ganz eigene Farben bei. Die Viola da gamba ist zum Beispiel die Stimme von Agnès, der Frau. Es ist ein Instrument, von dem gesagt wird, dass es die Stimme unvergleichlich imitiert und ist immer mit der menschlichen Stimme verglichen worden. Und diesem Instrument huldige ich in meiner Inszenierung. Das ganze Orchester ist auf der Bühne. Aber die Basse de viole ist in den Handlungsspielraum integriert. Und begleitet sichtbar ein Liebesduett.

Die Bühne soll so etwas wie Haut sein

 

Der Regisseur vor der Bühne. Beim Interview war der Bart schon wieder ab. Foto: Sabine Weber

Was steht im Zentrum Ihrer Inszenierung. Wie erzählen Sie die Geschichte?

Adéline Caron, die Bühnen- und Kostümbildnerin, ist gerade vorbei gekommen, wo Sie mich das fragen! Wir wollen, Adéline Caron und ich, die Sinnlichkeit dieser Geschichte herausstellen und verständlich, sichtbar und fühlbar machen. Written on Skin ist eine Geschichte, die im Mittelalter auf die Haut eines Tieres geschrieben wurde. Die Bühne soll so etwas wie Haut sein. Wir sind darauf gekommen, dass dieses Buch eine Art Buch von Sand sein könnte. Und es geht um eine Liebe und einen Liebesakt. Der Geschichte ist Vergänglichkeit eingeschrieben. Ein Verschwinden. Der Raum ist mit Sand gefüllt wie eine Art Wüste. Die Geschichte wird hier wieder erzählt, aber sie ist schon vergangen. Die Neutralität des Sandraums erscheint wie leere Seiten in einem Buch. Und die Personen hören nicht auf, die Umgebung zu beschreiben, in der sie sind. Sie reden von der Jahreszeit, der Stunde, es sind also sie, die den Zuschauern die Szene illustrieren. Die Idee ist zu zeigen, dass die Geschichte zwar wie ein Eintauchen ins Mittelalter beginnt. Die Engel regen dazu an, sich aller zeitgenössischen Bilder zu entledigen. Es gibt keinen Himmel, es gibt keine Stadt aus Steinen, auch wenn wir ins Mittelalter schauen. Aber dann kommt die Geschichte Schritt für Schritt in die Gegenwart zurück. Auch durch die Darstellung der Personen. Das passiert auch durch die Kostüme. Von mittelalterlichen Kostümen wechselt es zu einer zeitgemäßen Bekleidung.

Die zeitgenössische Bedeutung greifen wir nach und nach auf!

Also ein Spiel der Vergänglichkeit, die sich Richtung Realität im Hier-und-Jetzt entwickelt.

Das ist es! Die Realität dieser Geschichte, vor allem ihre zeitgenössische Bedeutung, greifen wir nach und nach auf!

Hat eigentlich Corona auch ein bisschen Regie geführt? Mussten Sie ihr ursprüngliches Konzept anpassen?

Ich musste nicht die generelle Konzeption verändern. Aber, glücklicherweise bin ich schon seit Juni dabei, ich musste eine Distanz zwischen den Sängern herstellen. Die Sänger dürfen sich niemals berühren. Sie sind drei Meter vom Publikum entfernt und vier Meter, wenn Sie sich ansingen. Ich denke aber, dass man das nicht so sehr sieht. Und war sogar darüber überrascht, dass man das so wenig bemerkt. Ich dachte, ich müsste stilisierter oder symbolischer arbeiten. Aber nein, auch, weil es in dieser Oper nur fünf Personen auf der Bühne gibt. Die Charaktere kommunizieren miteinander ja über Bilder, die sie beschreiben. Es ist wie eine Art Spiel über Umwege mit Bildern. Das sorgt auch dafür, dass es sinnlich bleibt.

Aber die Bilder sind nie reell zu sehen, sie bleiben in der Vorstellung?

Die Charaktere beschreiben sie. Und für mich war es wichtig, dass die Bilder für die Sänger sehr klar sind. Und wenn sie sie klar sehen, können sich auch die Zuschauer etwas vorstellen. Die Bilder sind nie sichtbar. Manchmal gibt es Variationen von Licht auf dem Sand, sehr, sehr leicht. Das Licht scheint wie Wind, der über den Sand streicht. Das begleitet sozusagen den Moment, in dem das Buch mit diesen Bildern entsteht. Es gibt noch etwas in Bezug auf das Buch, aber das verrate ich jetzt nicht!

Wie schade! Gab es denn spezielle Maßnahmen für die Proben in diesem zweiten Lockdown?

Ja, sehr strikt. Jeder hat eine Maske getragen, nur die Sänger auf der Bühne nicht. Jeder hat die Abstände eingehalten. Es gab auch jemand von der Oper, der nachgeschaut hat, ob die Abstände richtig eingehalten wurden. Das hatte sogar etwas humorvolles, wenn der Zollstock ausgepackt und nachgemessen wurde, ob die vier Meter jetzt richtig sind, oder 1,5 Meter… Das hat uns sehr amüsiert und nicht gestört. Nicht zuletzt wollten wir ja auch alle dieses Spektakel unbedingt kreieren.

Und jetzt die letzte Frage, warum Written on Skin? Worauf bezieht sich der Titel genau?

Written on Skin, damit ist zuerst natürlich das Pergament gemeint, auf dem damals geschrieben wurde. Daraus wurden im Mittelalter die Manuskripte hergestellt. Und das war sehr teuer, weil es viele Tiere für ein Buch brauchte. Das war dann auch sehr wertvoll. Und beispielsweise denkt der Protector, dass dieses Buch seine Macht untermauert. Aber noch etwas anderes schreibt sich auf die Haut. Auf die Haut von Agnès. Sie ist dabei, ihren Körper zu entdecken, ihre Stimme, ihr eigenes Dasein, unabhängig von ihrem Ehemann. Und das, weil ihre Haut vom Boy berührt wird, der dabei ist, das Buch für den Protector zu malen.

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