Am 30. November 1920 – also vor genau 100 Jahren – wurden „Die Vögel“ von Walter Braunfels am Münchner Hof- und Nationaltheater uraufgeführt. Nun wären sie in fünf Vorstellungen endlich wieder am selben Ort zu erleben gewesen – in einer Neuinszenierung von Frank Castorf. Doch die vierte vollendete Oper des 1882 geborenen Komponisten – nach „Falada“ (1905), „Prinzessin Brambilla“ (1908) und „Ulenspiegel“ (1913) – konnte am 30. Oktober nur einmal vor gerade mal 50 Zuschauern gezeigt werden. Die applaudierten am Ende mit einer Intensität, als müssten sie für die nicht erlaubten, über 2000 möglichen Besucher mitklatschen. Aber via kostenlosem Livestream konnte ein zahlreiches, internationales Publikum die Premiere vor dem PC verfolgen. (Von Klaus Kalchschmid)
Die Produktion unter der musikalischen Leitung von Ingo Metzmacher ist bis zum 5. Dezember als Video on demand für den Preis einer Kinokarte (9,50 €) über die Website der Staatsoper zu sehen, und es lohnt sich. Allein schon wegen des famosen Koloratursoprans Carolin Wettergreen als Nachtigall. Dieser Vogel mit dem schönsten und komplexesten Gesangs seiner Art ist die eigentliche Hauptpartie der Oper. Mit ihr beginnt und enden die zweieinhalb Stunden des „lyrisch-phantastischen Spiels in zwei Aufzügen“ nach der Komödie Die Vögel des Aristophanes, uraufgeführt 414 v. Chr. Schon im Prolog singt Carolin Wettergreen ein traumhaft schönes hohes es und vermag auch sonst ihrem Singen ein zauberisch leuchtendes Gepräge geben, irgendwo zwischen Naturhaftigkeit und größter Kunstfertigkeit angesiedelt. Außerdem gelingt es ihr mit feiner Andeutung Kopfhaltungen und stoische „Mimik“ eines Vogels nachzuahmen. Außerdem hat sie ein wunderbares, fast halbstündiges Duett mit Hoffegut (der reife, ebenso herbe wie sanfte Tenor Charles Workman), der zu Beginn des 2. Akts, also in der Mitte der Oper, ihre Sinnlichkeit zu erwecken sucht. Er ist einer der beiden Menschen-Männer, die in die Welt der Vögel eindringen. Der halb smarte, halb derb-männliche Michael Nagy ist als Ratefreund der andere.
Wildes Rotieren und feiner (Theater-)Regen
Beide setzen dem Wiedehopf, der einst Mensch war und in Gestalt des erotisch-präsenten, kernig-virilen Baritons Günter Papendell noch volltrunken eine guten Figur macht, und damit allen Vögeln einen Floh ins Ohr: Gegen Zeus aufzubegehren und sich eine eigene Stadt zu bauen. Das geht natürlich gründlich schief, provoziert den Zorn des Göttervaters und lässt ein zerstörerisches Unwetter heraufziehen. Es bringt die Drehbühne von Aleksandar Denić und die darauf montierte riesige Satelliten-Schüssel, die auch als Film-Leinwand dienen kann, zum wilden Rotieren und löst sehr feinen feuchten (Theater-)Regen aus.
Eine Paradiesvogel-Bühnenschau
Dieser zweite Teil verweist im Bühnenbild, das auch dank des Lichts nicht mehr so überladen wirkt, und mit filmischen Ausschnitten prominent auf Alfred Hitchcocks Die Vögel, ohne dass irgendeine plausible Verbindung zur Oper hergestellt würde. Hier hat auch Wolfgang Koch als Prometheus seinen großen Auftritt. Er hat einst Zeus herausgefordert und wurde dafür gemartert. Davon erzählt er nun wortreich und pathetisch. Auch ihn hat Kostümbilderin Adriana Braga Peretzki mit übertrieben glamourösem Rauschebart ausgestattet, wie sie aus all den gefiederten Wesen, darunter Drosseln, Zaunschlüpfer, Adler, Rabe und Flamingo die (Paradies-)Vögel eine opulente Bühnen-Show der 1920er Jahre macht.
Freilich mit viel Frauenfleisch, das voyeuristische Bedürfnisse des Machomannes bedient.
Das kennt man aus vielen Castorf-Inszenierungen, hier passt es aber aus verschiedenen Gründen gut. Ganz andere Optik hat da die Produktion von Braunfels‘ Die Vögel 2009 für DVD und BluRay in Los Angeles mitgeschnitten. Regie führte damals Darko Tresnjak, auf der Bühne von David P. Gordon und in den Kostümen von Linda Cho. Diese Inszenierung kommt naiv und malerisch-märchenhaft daher. Und zur Hochzeit eines Vogel-Paares – bei Braunfels eine veritable Ballettmusik – werden auch jede Menge TänzerInnen eingesetzt. Da wird bei Castorf allerdings nur wüst gezappelt und im Kreis gerannt, wie der Regisseur insgesamt an einer schlüssigen Personenregie wohl weniger interessiert scheint und ganz auf die Bühnenpräsenz seiner SängerInnen vertraut.
Gläsern durchsichtig – üppig aufrauschende Musik von Braunfels
Walter Braunfels‘ Musik schwelgt oft in Richard-Strauss’schen Harmonien, musste Corona-bedingt aber in den Streichern etwas reduziert werden, damit alle Musiker mit dem gebührenden Abstand in den überbauten und ins Parkett erweiterten „Graben“ passten. Das verschiebt die Balance des Klangs etwas, macht die Partitur aber auch an Stellen fast gläsern durchsichtig, die sonst üppig aufrauschen. Das betont Ingo Metzmacher am Pult des Bayerischen Staatsorchesters zudem und legt Wert, dass auch der melodische Reichtum des Werks nicht zu kurz kommt.
„Die Vögel“ sind als Video on demand noch bis 5. Dezember abrufbar. Am 30. November (20.15 Uhr) gibt es außerdem „La Bohème“ mit Jonas Kaufmann aus der Bayerischen Staatsoper als Aufzeichnung vvom 27. November und am 2. Dezember die nachgeholte Premiere von „Falstaff“ (mit Wolfgang Koch in der Titelpartie) jeweils als kostenlose (Live-)Stream ohne Publikum zu erleben. Danach sind beide Vorstellungen 30 Tage lang als VOD für jeweils 9,50 €uro zu erleben.