Rhetorik oder Romantik. Ein Vergleichsversuch von Beethovens drei letzten Klaviersonaten auf Hammerflügel mit Paul Badura-Skoda und auf dem modernen Steinway mit Fabrizio Chiovetta

Die letzte Klaviersonaten-Trias sind ein Höhepunkt in jedem Pianistenleben! Ob im Konzert oder als Aufnahme. Insgesamt kommt der Wiener Pianist Paul Badura-Skoda, im letzten Jahr verstorben, sogar auf mehrere Aufnahmen aller 32 Sonaten. Auf Steinway oder Bösendorfer Imperial – mit erweiterter Tastatur und mehr Klang in der Tiefe. 1955 erstehen seine ersten Beethoven-Einspielungen. 1989 vollendet Badura-Skoda einen letzten Zyklus – auf originalen Hammerflügeln! Das Label ARCANA hat Badura-Skodas sämtliche Originalklangeinspielungen in einer Box zum Beethovenjahr im Januar erstmals veröffentlicht. Und die fördert Badura-Skodas Rhetorik und zupackende Dramatik im Spiel hervor, die staunen lässt, wenn man die letzten drei Sonaten hört! Der Schweizer Fabrizio Chiovetta, 1976 in Genf geboren, hat sich unter anderen von Badura-Skoda den letzten Interpretationsschliff geben lassen. Und hat jetzt aktuell und erstmals die letzten drei Beethoven-Sonaten aufgenommen. Chiovetta wirbt damit, sie „ganz in der Tradition der Wiener Klavier-Ikone Paul Badura-Skoda eingespielt!“ zu haben. Im September sind sie bei APARTÉ herausgekommen. (Von Sabine Weber)

(CD-Veröffentlichungen 2020 bei den Labels ARCANA und APARTÉ) Können Interpretationen auf einem historischen Hammerflügel und einem modernen Flügel überhaupt miteinander konkurrieren? Oder werden hier Äpfel mit Birnen verglichen? Der Vergleich reizt, zumal beide Aufnahmen auf dem Schreibtisch liegen! Und vielleicht zeigen sie die zwingende Unterschiedlichkeit der Herangehensweise aufgrund der unterschiedlichen Instrumente. Und was bedeutet „ganz in der Tradition der Wiener Klavier-Ikone“? Es heißt doch, der gute Schüler lerne von seinem Meister nur, was er braucht!

Fabrizio Chiovetta. Foto LiLiCROZE

Bei Fabrizio Chiovetta ist – man möchte fast sagen „natürlich!“ Romantik im Spiel. In medias res: Opus 109, die erste der drei späten Klaviersonaten, beginnt mit alternierenden Sechszehntel in Zweiergruppen zwischen rechter und linker Hand. Harmonisch entwickeln sie eine geläufige Quintfallsequenz. E-H/ cis-gis/-A-E… Das pendelt leicht charmant dahin. Auch noch, als es nach H-dur moduliert, in die dominante Tonart von E-dur, nichts Ungewöhnliches. Aber… ein verminderter Akkord ruft „Stopp!“ So geht es nicht weiter! Adagio espressivo steht über dem folgenden rezitativischen Abschnitt. Piano/ leise – crescendo/ lauter bis forte, wieder pcresc bis f… Kaum hat es angefangen, ein Tasten, Suchen, Zurück und dennoch weiter, bis natürlich wieder etwas Unvorhergesehenes die Karten neu aufmischt.
Badura-Skoda artikuliert den Anfang der sich spielerisch pendelnden Sechzehntel deutlich. Sie sind bald schon im Sog des Stoppschildes (im Takt 9), sie treiben darauf zu. Dem Harmlosen ist das Unausweichliche bereits eingeschrieben. So nicht! Der oberste Melodieton im Stoppschild-Arpeggio kommt sogar wie ein Aufschrei!
Chiovetta konzentriert sich auf die dolce Vortragsangabe. Verträumt, zurück gelehnt fließen die Sechzehntel. Das Stoppschild steht eher zufällig im Weg und erklingt wie eine plötzliche Nebelwand. Und es träumt sich weiter, freilich mit den dynamischen Angaben etwas anders, aber ohne eingeschriebenen fragend oder suchenden Gestus wie bei Badura-Skoda.

Dreiklangsbrechungen mit Durchgangsnoten reagieren ohne Dämpfer auf dem Hammerflügel anders als auf dem modernen Flügel

Seite 1 von Opus 109. Henle Urtextausgabe

Was dann kommt, wohlgemerkt alles noch auf der ersten Notenseite dieser ersten Sonate (Henle-Urtextausgabe), sind harmonische und rhythmische Entwicklungen nach, ja wohin denn? Über Fis-dur/ Gis-dur nach cis-moll? Dann Toccata-artig aufgezogene Irritierung. Wieder nebulös verminderte Akkorde. Diesmal mit Haltepedalvorschrift Ped unter dem Orgelton fis – Oktave in der linken Hand – über dem sich Dreiklangsbrechungen mit Durchgangsnoten in der rechten ergießen. Auf Chiovettas Steinway (D-Flügel Nr. 594457) werden die Dreiklangsbrechungen durch das von Beethoven geforderte Aufheben der Dämpfer von den Saiten, das geschieht mit der Niederdrückung des Haltepedals, zu einer vermischten Klangwolke. Chiovetta nimmt den Klang daher zurück, obwohl f da steht. Auf dem Hammerflügel bleiben die Brechungen samt Nebennoten in der rechten Hand deutlich und vertragen die Forteschärfung. Trotz gehobener Dämpfer.

Rhetorik, Klangrede und Mondscheinsonaten-Effekt

Der Hammerflügel hat insgesamt weniger Klangfülle. Es kann und muss daher mehr in einer kleineren Bandbreite geschehen. Mehr Artikulation. Mehr Binnendifferenzierung. Mehr Rhetorik oder Klangrede, wie das im Barock genannt wurde. Das Adagio ma non troppo, der Anfang von Opus 110 in As-dur, beginnt wie ein persönlicher Trauermarsch. Er steht in (!) es-moll und beginnt una corda. Una corda kann der Lisztflügel gar nicht. Denn selbst, wenn die Dämpfer, durch Niederdrückung jetzt des Dämpferpedals verschoben werden, klingen beim modernen Flügel immer noch zwei Saiten. Fahle Farben zaubert Badura-Skoda mit diesem ‚Mondscheinsonaten-Effekt‘, die in den Verzweiflungsruf auf einem Ton (!) „a“ -wie „Ahh“ nach einer enharmonischen Verwechslung von Ces-dur nach H-dur münden. Jetzt tutte le corde. Mit allen Saiten! Mehrmals wiederholt sich der Aufschrei! Der Abgesang, das Niedersinken: wieder una corda! Das klingt wie Verzweiflung. Die Fuge bringt mit ihrer melodisch-motivischen Bewegung Erlösung – wieder in As-dur – die mit ihren trotzig stampfenden Oktaven in der linken Hand auch Befreiung fordert. Das poi a poi tutte le corde in der Reminiszenz der Fuge in Umkehrung zum Schluss ist auf dem Hammerflügel ein unerhörter Schleiernebel, der sich langsam aufhebt. War das ein Traum?

Die letzten drei Beethovensonaten hat Badura-Skoda auf einem Conrad-Graf-Flügel aufgenommen

Paul Badura-Skoda. Foto: Don Hustein

Spätestens in der letzten Sonate Opus 111 wird hörbar, was Badura-Skoda am Klang originaler Tasteninstrumente wohl fasziniert hat. Die historische Aufführungspraxis ist für ihn kein Selbstzweck an neuen Ufern. Sondern das, was der Klang dieser Tasteninstrumente aus der Beethovenzeit über Rhetorik für die Interpretation lehrt. Badura-Skoda hat für seine historischen Aufnahmen insgesamt sieben verschiedene Flügel aus der Beethovenzeit verwendet. Für die drei letzten Sonaten einen Conrad-Graf-Flügel von 1824. Vergleichbar mit dem Grafmodell von 1826, das für Beethovens verbürgt heute im Bonner Beethovenmuseum steht. Dieses Modell hat ihm zuletzt zur Verfügung gestanden. Der hat es gespielt und gekannt, freilich nicht mehr gehört, sondern nur noch gefühlt beim Spiel. Es muss im Graf-Gebälk geknarrt haben, so wie es bei Badura-Skoda ächzt. Die Mechanik der Pedale ist manches Mal nicht zu überhören. Es macht Nebengeräusche und lebt mit! Ein Klavierkritiker sprach mal von „säuerlicher Scheckigkeit“. Der Hammerflügel klingt in extremen Höhen sogar erschreckend dünn im Vergleich zum modernen Lisztflügel! Das ist nicht für jeden Geschmack! Die melodischen Ausbrüche in die Höhe und das Auseinanderdriften mit der Begleitung in der Tiefe sind für Beethovens späte Sonaten aber typisch. Auf dem Hammerflügel ist die Tiefe teilweise wie rumpelnder Lärm, den Badura-Skoda aber dosiert entfesselt. Aber wie extrem Beethoven das Instrument seinem Gestaltungswillen bis hin zur beinahen Grenzüberschreitung unterworfen hat, fährt einem in die Knochen. Man fühlt Beethoven wüten!

Die Aufnahme von Fabrizio Chiovetta klingt ausgewogener, „anhörlicher“, aber weniger dramatisch

Das ist alles auch auf dem Lisztflügel möglich. Aber der runde, schön-klare, bei Steinway brillant für Virtuosität ausgebaute und romantisch-volle Klang ächzt nicht mehr, wenn er, wie Beethoven es fordert, traktiert wird. Sein eiserner Gußrahmen ist konstruiert für weit gewaltigere Spielansprüche. Und die Registerbrüche des Hammerflügels sind weitgehend ausgemerzt.
Die Aufnahme von Fabrizio Chiovetta klingt daher auch ausgewogener, „anhörlicher“. Aber um einiges weniger dramatisch. Und einiges mehr darf willkürlich klingen, was auf dem Hammerflügel unverzeihlich wäre. Jede Dynamik muss sich da aus dem Vorherigen logisch ableiten. Dann sind auch die rhythmischen Akzente weniger deutlich. Beispielsweise der thematische Triolenauftakt bei Opus 111 gleich zu Anfang klingt weniger aggressiv als auf dem Hammerflügel. Die Kette der doppelten Punktierungen in der Einleitung über fünf Takte wirken bei Chiovetta auch nicht wie eine Phrase, sondern nachdenklich unterbrochen. Deutlich wird der Unterschied zwischen Rhetorik und Romantik in diesem ersten Satz des Opus 111 an einer „kleinen“ Quintolen-Verzierung. Badura-Skoda spielt sie auch als Verzierung mit Betonung auf die erste schwere Zählzeit der fünf Verzierungstöne. Chiovetta interpretiert sie als Melodiemotiv mit Betonung der Zielnote. Wenn in der Durchführung des ersten Satzes Beethoven dann plötzlich einfällt, diese kleine Verzierung aufzuwerten und tatsächlich motivisch zu verarbeiten, dreht Badura-Skoda die Betonung um und macht so etwas wie plötzliche Spielwut, die auch vor einer Verzierung nicht halt macht, sinnfällig (Takt 127 ff).

Chiovetta spielt technisch perfekt. Aber mit zu wenig rhetorischem Impetus

Vieles bleibt in der Chiovetta-Aufnahme leider zu namenlos. Vielleicht weil er technisch perfekt spielt, meint er auf rhetorischen Impetus verzichten zu können. Die Dynamiken sind auch nicht immer im Verhältnis aufeinander bezogen. All das fällt auf, wenn im Ohr ist, wie Badura-Skoda alles ins Verhältnis setzt und unerbittlich aus- und zu-entwickelt. In der berühmten, aber doch sehr langen Arietta des Opus 111 mit den unendlichen Trillerketten über Notenseiten weiß er immer wieder etwas zu konturieren und zu gestalten. Seine letzten drei Beethovensonaten-Aufnahmen sind laut Box-Booklet zwischen 1978 – 80 entstanden und ein besonderes Vermächtnis. Sie sind die frühesten Aufnahmen in dieser Gesamtaufnahme aller 32 Sonaten auf Hammerflügeln, die vom ARCANA-Gründer Michel Bernstein angeregt wurden. Badura-Skoda hielt diese ersten Aufnahmen für so gut, dass er sie nicht wiederholt hat. Trotz eines kleinen Aussetzers in einer Trillerkette. Er hätte 11 Jahre Zeit gehabt. Die letzten Aufnahmen entstehen 1989.
Rhetorik oder Romantik, das bleibt letztendlich dem Geschmack überlassen. Die Booklet-Texte sind übrigens zu beiden Aufnahmen nur auf Französisch und Englisch. Das ist im Falle Badura-Skodas, einem Wiener, natürlich ärgerlich. Zumal Outhere Music, zu der das Label ARCANA gehört, eine deutschsprachige Version hätte, aber aus Kostengründen wohl nicht drucken ließ! Die ebooklet-Version mit deutscher Übersetzung ist über die Netzseite von Outhere Music auch nicht herunterzuladen!

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