Die Lesungen der Dunkelheit – „Leçons de Ténèbre“ – sind besonderes französisches Repertoire in der die Karwoche. Julien Chauvin und sein Ensemble Concerts de la Loge verwandeln mit Marc-Antoine Charpentiers Leçons für den Karmittwoch und Karfreitag das Kölner Philharmoniepodium in einen sakralen Raum. Das Nachtkonzert beginnt um 21 Uhr! (Von Sabine Weber)
(28. März 2024, Kölner Philharmonie) Auch das ist in der Kölner Philharmonie möglich. 12 Kirchenkerzen auf gusseisernen Ständern umrahmen mit sanftem Licht die je zwei Violinisten und Traversflötisten links, das Continuo mit einem Orgelpositiv in der Mitte, Gambist und Theorbist sitzen rechts davon. Schwarz gekleidete Musiker*innen, sanfte Holzfarben des Podiums, Instrumente inbegriffen, intimes Licht, die kantabel fließende Musik, in der sich alles verbindet, nichts bizarr und virtuos herausbricht, sondern dem Vortrag des Wortes demütig dient und rührt. Die rund 200 Zuhörer sind Teil eines nächtlichen Rituals. Zu den Dunkelheitslesungen gehört auch, dass bis auf die letzte Kerze, die für die Hoffnung steht, alle verlöscht werden.
Dunkelheitslesungen rühren bis ins Herz
Marc-Antoine Charpentier war einer der wenigen französischen Komponisten, die im 17. Jahrhundert in Italien studieren konnten. In Rom durfte er bei Giacomo Carissimi in die Lehre gehen. Carissimi galt als einer der wichtigen Komponisten der Gegenreformationsmusik, die in ihren Oratorien mit Musik predigten, sodass man das Wort eigentlich nicht verstehen muss, um bis ins Herz gerührt zu werden. Das hat Charpentier in seiner Kirchenmusik verinnerlicht.
Hebräische Buchstaben
Den Léçons de Ténèbres liegen immer die alttestamentarischen Klagelieder des Jeremia zugrunde. François Couperin hat einige für ein bis zwei Frauenstimmen vetont. Charpentier sieht zwei Tenöre und einen Bass als Solisten vor. Mit dessen Troisième Léçon für den Karmittwoch beginnen Chauvin und sein Ensemble, rekrutiert aus dem Pariser Originalklangorchester Concert de la Loge. Die Klagelieder 1,10-14 werden in lateinischer „Kirchen-“Sprache gesungen, beginnen aber mit JOD. Die einzelnen Versabschnitte werden nämlich mit hebräischen Buchstaben eingeleitet, die die Komponisten zu Präludien, Einleitungen nutzen.
Das zerstörte Jerusalem als Sinnbild
Bei Charpentier trägt wahlweise einer der Tenöre die Einleitung vor oder alle drei Solisten, die auch in den Versen immer wieder anders eingebunden sind, psalmodieren oder aber auch kleine Koloraturen bekommen und in Duetten zu hören sind. In der Karwoche waren in Paris die Opernhäuser geschlossen. Die Sänger*innen wurden also mit Werken beschäftigt, die nicht zu anspruchslos sein durften. Immer anders gestaltet Charpentier die Klagen über das zerstörte Jerusalem, das Sinnbild ist für den Gekreuzigten und tiefe Trauer, Niedergeschlagenheit, aber auch einem zornigen Gott Ausdruck verleiht. Die erste Lesung des Mittwochs, Jeremia 1,1-5 beginnend mit ALEPH, füllt den Mittelteil, die dritte Lesung für den Karfreitag, Jeremia 5,1-11, steht am Ende.
Hoffnungschimmer in der Dunkelheit
Zwischen die drei Lesungen fügt Julien Chauvin zwei der solistischen Mysteriensonaten von Ignaz Franz Biber ein. Da sie skordierte Violinen verlangen, hat Chauvin zwei weitere Geigen bereit gelegt. Die Organistin wechselt zu dem ganz links aufgebauten Cembalo. Biber, im selben Jahr wie Charpentier verstorben, war ein österreichischer Geigenvirtuose, dessen Musik einen Gestus pflegt, der nicht weiter weg von den Franzosen sein könnte. Und doch fügen sich auch diese Geigenwerke in die besondere Mystik des Abends. Die Auferstehung Christie aus Bibers Glorreichen Rosenkranz zelebriert hoffnungsvolles G-dur, immer wieder gleitet der Bogen über die Saiten, als würde die Grabesöffnung beschworen. Eigentlich eine Vorwegnahme des Ostersonntags, wohl ein Hoffnungsschimmer in der Dunkelheit. Die zweite Mysteriensonate verklärt Maria und ehrt ihre Krönung zur Himmelskönigin. Virtuos, aber nie extravertiert spielt Chauvin, und wie selbstverständlich im Klang.
Ausnahmerepertoire am Gründonnerstag in der Kölner Philharmonie
Auch der instrumentale Ensembleklang in den Lesungen harmoniert, die Traversflöten verschwimmen mit den Violinen, die Basse de viole mit der Orgel, keine solistische Attitüde stört. Auch die Sänger zelebrieren konzentrierten Zusammenklang. Ohne Pause versinkt das handverlesene Publikum in der verdunkelten Philharmonie mehr als eine Stunde wie in einer Trance. Und weiß zu schätzen, dass die Philharmonieplanung in Köln nicht nur auf Blockbusterprogramme setzt, die ein volles Haus garantieren, sondern auch Experten für Ausnahmerepertoire wie an diesem Gründonnerstag einladen. Das sind Chauvin und seine Concert de la Loge zweifelsohne, die auch Orchesterrepertoire ihres namensgebenden Vorbildorchester Concert de la Loge Olympique im Programm haben. Hoffentlich hören wir sie bald wieder.