„La Bête dans la jungle“ – Ein Egotripp in die einsame Männerseele…

Weder mit dem Dschungelbuch hat Arnaud Petits Oper „La Bête dans la jungle“ etwas zu tun. Noch mit „La Belle et la Bête“ und ist auch keine Kinderoper, wie einige irrtümlich annahmen. Der Titel verleitet zu solchen Assoziationen. Dies ist ein Tripp in eine vereinsamte Männerseele. Denn „The Beast in the Jungle“ (1903) – „Das Raubtier im Dschungel“ ist eine Kurzgeschichte von Henry James. Und wie in seiner Novelle „The Turn of the Screw“ (1898), die ja Britten vertont hat, geht es um die Undurchdringlichkeit des Inneren – der Dschungel , den Spiegel, in dem sich Menschen selbst erkennen. Und mit Schauereffekt dürfen  auf der anderen Seite auch gern Geister erscheinen. Unter François-Xavier Roth ist Arnauds „La Bête dans la jungle“ in der Regie von Frederic Wake-Walker am 14. April uraufgeführt worden. In dieser Aufführung leitet Arne Willimiczik das Gürzenich-Orchester. Kein Nachteil, denn Willimiczik zeichnet verantwortlich für die komplette Einstudierung in Zusammenarbeit mit Emily Hindrichs, Miljenko Turk, den beiden Hauptdarstellern, und dem anwesenden Komponisten. (Von Sabine Weber)

(20. April 2023, Kölner Oper im Staatenhaus) Seit der französische Komponist Arnaud Petit (*1959) „The Beast in the Jungle“ in der französischen Übersetzung von Jean Pavans gelesen und in einem Schauspiel von Marguerite Duras auf der Bühne erlebt hat, begleitet ihn der Wunsch, daraus Musiktheater werden zu lassen. 2011 stellt Arnaud eine konzertante Kammeroper vor. Durch die Aufrüstung des Orchesterparts und Hinzufügung eines neuen Finales füllt er in Köln jetzt einen Opernabend, der weiterhin nur um die Hauptfiguren John und May kreist. Im Finale landet in der eindreiviertelstündigen Aufführung ohne Pause der Kölner Coup. Ein Spiegel, der bisher am Rand stand und in dem sich die beiden Hauptfiguren John Marcher und May Bartram immer wieder zusammen gespiegelt haben, steht zwischen ihnen. Eine Figur ist auf einer Seite des Spiegels leibhaftig und tanzt im Spiegel mit dem schattenhaften Bild der anderen Figur, projiziert durch die andere Seite.

Der Schattentanz im Finale. Foto: Sandra Then
Das Nichts ist Johns Raubtier

May ist gestorben, und John begegnet ihr noch einmal in einer Vision. Seine Liebe zu ihr zu Lebzeiten zu gestehen, hat er nicht vermocht oder aus unbekannten Gründen nicht gekonnt. Er hat das große Ereignis vorgeschoben, das ihn wie ein Raubtier anspringen sollte. Das erklärt sich durch biografische Bezüge. „Sie helfen mir, als Mann wie alle anderen zu gelten”, heißt es im Libretto. James war homosexuell und sein Protagonist wohl auch. Schlussendlich entlarvt John das Nichts als sein Raubtier, das an ihm frisst. Und die Einsamkeit. Ein effektvoller Geisterchor, elektronisch verfremdete Stimmen wie sie Alan Parsons Project in seinem berühmten „Raven“ nach Edgar Alan Poe erfunden hat, tönt immer wieder durch den Raum.

Erzählertexte: originaler James auf Englisch – das Libretto auf französisch

Es gibt viel Text an diesem fast literarischen Abend in Saal 3 des Staatenhauses. Frederic Wake-Walker liest die verbindenden, erklärenden und deutenden Erzählertexte im Original auf Englisch. Diese auktorialen Texte sind stark – originaler James, aus der Erzählung The Altar of Death ist hier zudem die Venedig-Episode eingeflossen. Und so hat sich Frederic Wake-Walker auch in die Handlung eingemischt.

Wake-Walker ist Playmaker

Miljenko Turk (John), Frederic Wake-Walker (Erzähler und Playmaker). Foto: Sandra Then

Die Oper eröffnet damit, dass Wake-Walker dem Hauptdarsteller gegenüber sitzt. Die ausgestreckten Hände berühren sich wie in einer spiritistischen Sitzung. Wake-Walker hat die beiden Stühle aufgestellt, an denen sich später die Protagonisten an einer imaginierten langen Tafel weit entfernt gegenübersitzen, die Wake-Walker später auch mal wütend hinwirft. Dann steht er außen an einem Overheadprojektor, der Bilder projiziert von einem 19. Jahrhundert-Wohnzimmer, von einem Frauengesicht, auf das Blutstropfen regnen, oder von einem zerknirschten Männergesicht mit Backenbart, das entfernt Abraham Lincoln gleicht, aber nicht Henry James. John (Miljenko Turk) und May (Emily Hindrichs) sprechen übrigens auf französisch. Denn Arnaud hat die französische Übersetzung vertont.

Unerwiderte Frauenliebe

Es gibt natürlich Obertitel, aber das Lesen fordert große Aufmerksamkeit und lenkt auch von der Bühne ab. Vielleicht hätte eine deutsche Übersetzung es auch den beiden Protagonisten leichter gemacht. Höchste Konzentration von Lesen, Schauen und Hören ist gefordert, um bei der philosophisch bis spirituell angereicherten Innenschau von John mitzukommen, um den die Frau geistert, mit der John seit Jahrzehnten wie Bruder und Schwester zusammenlebt.

Biografische Bezüge der unerwiderten Frauenliebe

Das Thema der unerwiderten Liebe zu einer Frau taucht bei James auch in den Aspern Papers (übrigens auch schon als Oper vertont) auf und hat biografische Bezüge. Henry James’ Homosexualität war ein „No go“ im Viktorianischen Zeitalter. James, in New York geboren, lebte in London. Eine Freundin von ihm hat sich in Venedig wegen nicht erwiderter Liebe auch tatsächlich umgebracht, was James jahrelang belastet hat. Ausgerechnet diese Freundin soll ihm die Idee zu diesem Stück geliefert haben. Diese biografischen Details spielen in der Regie für Frederic Wake-Walker keine Rolle. Ihm geht es um die Spannungen in der Beziehungskonstellation und darum, die beiden – bis auf die Stühle gibt es keine Requisiten – in ständiger Spannung um sich kreisen zu lassen. Und das gelingt vorbildlich.

Ein Erlebnis der besonderen Art

May trägt ein etwas altertümliches Omakleid in hellblau, John beigefarbenen Wollkragenpullover und Tweedhose (Bühne, Projektionen & Kostüme: Anna Jones). Das Publikum sitzt sich auf Stühlen in langen Reihen an zwei Seiten gegenüber. Die Mitte ist leer. An der dritten Seite füllt das Gürzenich-Orchester in gewaltiger Formation eine Tribüne.

Die Musik beginnt mit hypnotisierenden Streicherflächen

Wie in einem Revue-Theater begrüßt Frederic Wake-Walker das Publikum. Der Regisseur ist durch seine Peter-Grimes-Regie in Köln noch gut in Erinnerung.  Dann fordert Wake-Walker in seiner sonoren Stimme auf, sich auf sich selbst zu konzentrieren, tief durchzuatmen, die Augen zu schließen. Und die Musik beginnt mit einer hypnotisierenden Streicherfläche im pianissimo, die durch instrumentale Gesten von Hörnern langsam aufwacht wie die Erinnerung von John.

Die Klangflächen schlagen sofort in ihren Bann

Arnaud Petit hat eine fast durchgängig pulsierende Atmosphärenfläche komponiert, tonal orientiert, aber frei changierend, die teilweise wie eine plattgewalzte Minimal Music klingt, durch die Riffs fahren oder Tonmotive auftauchen, wobei das Schlagzeug mehr klingt als schlägt. Ein Fender Rhodes piano und eine E-Gitarre  sind auch dabei. Die Musik ist für klassisches Orchester konzipiert und schlägt sofort in ihren Bann. Die instrumentalen Intermezzi werden melodramatisch vom Sprecher übersprochen. Das klingt teilweise wie ein Hörspiel und ist in der Zusammenarbeit mit Dirigent Arne Willimiczik für diese Produktion entstanden.

Die Sängerpartien sind anspruchsvoll
Miljenko Turk  (John) in Venedig. Foto: Sandra Then

Die Sängerpartien sind wegen des vielen Textes (der französische James-Spezialist Jean Pavans hat das Libretto geliefert) anspruchsvoll, aber sehr gesanglich geschrieben. Bariton Miljenko Turk meistert bei immer wohltuend ausgeglichenem Timbre die größte Partie, ist spielerisch großartig und legt auch noch ein wunderbares Schattentänzchen mit Zylinder und Stockrock vor einer übrigens beeindruckenden Gewitterprojektion hin. Das Gewitter überrascht ihn nach dem Tod von May bei einem Venedigbesuch in der Lagune und öffnet ihm die Augen. May bleibt bis zur Wiederkehr als Schatten nach ihrem Tod in der Spiegelszene die geheimnisvolle Sphinx mit Haltung. Sopranistin Emily Hindrichs gibt mit großer Stimme und immer gut fokussiert und klangschön von Anfang an Rätsel auf, die John nicht lösen kann. Hätte sie doch einmal zu Lebzeiten ihre Contenance verloren und ihm ins Gesicht geschrieen: „Ich liebe Dich!“ Die Sänger und der Sprecher-Regisseur sind in dem riesigen Rund mit Mikroports leicht verstärkt, ihre Stimmen dadurch aber nicht verfälscht.

Es lohnt sich!

Die Musik ist stets genialer Begleiter des Textes, nie plakativ, dennoch atmosphärisch, mit Horroreffekten und auch mal kitschig, bleibt aber immer eine völlig eigenständige Ebene, fein aufgefächert vom Gürzenich-Orchester unter Arne Willimiczik. Einige Mal hätte ich gern im Orchester gesessen, um zu sehen, wer die zum Teil fantastischen Klänge gerade produziert. Saxophone sind auch dabei! Das Ganze ist hochkomplex, aber eine super spannende Performance. Mutig, dass die Oper Köln sich an ein so spezielles Musiktheaterwerk wagt, und dem Kölner Publikum die nötige Aufmerksamkeit und Konzentration zutraut. Es lohnt sich also, die Mühe aufzubringen, auch der Musik wegen! Dieses Zwei-Darsteller-Stück erinnert übrigens an Quartett von Luca Francesconi, vertont nach Gefährliche Liebschaft in der Fassung von Heiner Müller – ein Erfolg vor allerdings spärlicher Publikumskulisse…

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


The reCAPTCHA verification period has expired. Please reload the page.