„Quartett“ nach Heiner Müller, bearbeitet und vertont von Luca Francesconi, wird an der Oper Dortmund bejubelt!

Standing Ovations! Aber leider von viel zu wenigen! Und es liegt nicht daran, dass der Titel „Quartett“ vielleicht zu nüchtern klingt. Was ist los in Dortmund? Hier, erklärt mir ein Opernbesucher, fülle man nur das Stadion! Und verpasst also ignorant, was die eigene Oper zu bieten hat? Da schüttelt die Kölnerin ratlos den Kopf! Denn in diesem Fall ist das die Deutschlandpremiere von Luca Francesconis „Quartett“. Die Oper basiert auf Heiner Müllers Adaption des berühmten und skandalumwitterten französischen Briefromans „Gefährliche Liebschaften“ von Choderlos de Laclos von 1782. Den meisten durch die grandiose Verfilmung mit John Malkovich und Glenn Close ein Begriff. Vicomte Valmont und Marquise de Merteuil spinnen Leidenschaftsintrigen, um ihre sexuelle Gier mit Erfolgserlebnissen darüber zu befriedigen, dass sie Unschuldige verführen und sozial vernichten. 1980 hat der DDR Autor Heiner Müller daraus ein existentielles Zwei-Personenstück extrahiert, das die Sexgier auf beide zurück wirft! Valmont und Merteuil vertauschen nämlich nicht nur ihre Rollen. Sie schlüpfen auch in die der Opfer. Realität, Erzählung, Gier und Exzess verschwimmen auf einer virtuellen Spielebene und werden zu einem Zweikampf zwischen Mann und Frau auf Leben und Tod. Der Mailänder Komponist Luca Francesconi hat 2011 daraus eine anderthalbstündige Oper in 13 Szenen entwickelt. Orchestermusik – aus dem Graben – wird durch elektronische Klänge per Zuspielbändern à la Stockhausen über Lautsprecher zu einer Versuchsanordnung im ganzen Theaterraum. Im Mittelpunkt die beiden Kontrahenten: die schottische Sopranistin Allison Cook als Marquise M und Christian Bowers als Vicomte V, die in der Regie von Ingo Kerkhof miteinander „spielen“, wie es leibhaftiger nicht sein könnte… (Von Sabine Weber)

(19. April 2019, Theater Dortmund) Heiner Müllers Anweisung: Zeitraum: Salon vor der Französischen Revolution/Bunker nach dem dritten Weltkrieg, löst die Bühnenbildnerin Anne Neuser für die aktuelle Inszenierung an der Dortmunder Oper mit wenigen Requisiten auf. Mit einem mächtigen Baumstamm, der mit Trauerweiden-Grün von oben beliefert wird, dem es so auch wieder mal entzogen wird, einem Rokokozweisitzer in bleu links davor, und einem kleinen mobilen Paravant, der je nach dem hier und da steht und auch mal umfällt. Die Trauerweide liefert in dem ansonsten schwarzen Dunkel dieser Bühne so etwas wie eine Schein-Idylle. Irgendwann schwingt die Marquise Merteuil auch auf einer Schaukel wie in dem berühmten Bild von Jean-Honoré Fragonard. Zum Schluss steht sie doch wohl eher für ein Trauer-Spiel. Die Marquise nimmtdie Schrotflinte und erschießt alle. Die zwei Dienerinnen, die assistiert und auch als Comparsen für perverse Spielchen hergehalten haben. Dazu eine Handvoll Männer, die irgendwann mal auf der Bühne erschienen sind. Den Vicomte hat sie bereits vergiftet. Mit weißem Wein, den sie am Beginn der Oper durch eine selbsthinzugefügte Verletzung an der Hand blutig einfärbt. Das Blut der Medusa ist für Menschen ja auch giftig. Von der ist im Verlaufe des Stücks auch mal die Rede. Und von vielen existentiellen, religiösen und gesellschaftlichen Fragestellungen, die als weiße Spruchbänder auf eine Tafel neben dem Sofa projiziert werden. „Selbst die Liebe Gottes braucht Körper. Wollen Sie mein Kreuz sein?“ Damit reagiert die Regie wohl auf Francesconi, der Müllers Libretto um einige philosophische Deutungsebenen und Fragestellungen erweitert hat.

Das konterkariert in keiner Weise das irritierende Vexierspiel der beiden Protagonisten, die sich im Kampf gegen sich selbst in die jeweils andere Rolle und mit Genuss auch in die der Opfer werfen. Das ist auch in dem Theaterstück bei Müller bis zu einem gewissen Punkt verwirrend und offen gelassen. Es wird in eine Rolle hinein und wieder heraus gesprungen. Ingo Kerkhof nimmt die Doppeldeutigkeit en passant in die Dauerspannung auf, in der er die beiden Protagonisten agieren lässt. Mal provozieren sie sich über Alterserscheinungen, dann Lust- oder Neidgeplagt über die Auswahl der Opfer. Und dann traktieren sie sich selbst im Liebesspiel, fahren sich unter die Wäsche, imitieren Fesselspielchen, hängend gefesselt an Weidenästen oder sie greifen sich selbst in den Schritt. Aufgetürmte Whiskygläser vorne am Bühnenrand werden immer wieder gefüllt, geleert und über die Schulter nach hinten in den Bühnenabgrund geschleudert. Beide werden zum verschwörerischen Team und tanzen wie Fred Astaire und Ginger Rogers über die Bühne oder sind Zauberer und Assistentin. Kostümbildnerin Inge Medert hat für Allison Cook ein bezauberndes, ihre schlanke Figur betonendes eng anliegendes Abendkleid mit tiefem Ausschnitt und fallenden Plissées geschneidert. Darüber wirft Sie den Herrenrock oder einen Reifrocktüll, den auch Christian Bowers sich umlegt, wenn er seinen Herrenrock mit angedeuteten barocken Jabots an den Ärmeln ausgezogen hat. Eine Melone wird wechselseitig aufgesetzt. Die Musik von Francesconi besteht aus Violinähnlichen Glissandi und elektronischen Sounds, wie man sie von Stockhausen kennt. Einige Male erinnert sie sogar an mikropolyphonal gestaltete chorische Klänge György Ligetis. Und immer wieder Schnalzen, Klicken Schlagen. Es flirrt, es klingelt, dann tönt das Blech. Immer wieder neue Zustände, und perfekt ineinander verschachtelt liefern reale und irreale Klänge einen beeindruckenden Raumklang. Und es gibt sogar ein Trompetensolo und ganz kurz Tänzerisches im Dreivierteltakt. Darüber ist der Gesang sprechverständlich angelegt. Wobei Francesconi die französische Vorlage, bearbeitet von einem Deutschen in englischer Sprache präsentiert. Da wüsste man gern, warum. Ein Vexierspiel auf einer weiteren Ebene? Einige Male tönt die Stimme des einen auch vom Band und klingt wie innere Gedanken oder der andere bewegt den Mund dazu. Allison Cook als Marquise bewältigt ihren Part sich oftmals verführerisch räkelnd. Lasziv oder gierig turnt sie auf dem Zweisitzer und hängt auch mal Kopfüber herunter, und schlägt mit ihrer dramatischen Sopranstimme an diesem Abend auch mal wütig durch. Sie ist schon rein optisch die perfekte Marquise. Und hat sie auch schon bei der Uraufführung an der Mailänder Scala 2012 verkörpert. Bariton Christian Bowers hat es etwas schwerer, den Vicomte auszufüllen. Vielleicht, weil die Erinnerung  an John Malkovichs zynisches Lächeln in der Verkörperung dieser Rolle in dem Film, mit dem er berühmt wurde, da erstmal etwas im Weg steht. Aber auch er füllt von der ersten bis zur letzten Minute den Part des immer Sexgierigen auch stimmlich überzeugend aus. Am Ende, nachdem Madame Tourvel und die unschuldige Nichte durch Verführung vernichtet, letztere sogar ermordet wurde, vollzogen mit Lust an der Marquise, ist nicht sie tot, sondern Valmont! Sex aus Gier ist zerstörerisch. Gefühllosigkeit ist das Ergebnis. Und Mord! Aber vor allem lebt das Stück von den miteinander „spielenden“ beiden Darstellern. In dieser Produktion ein perfektes Paar, das in dem irren Spiel keinen Leerlauf hat! Diese Produktion ist ein vollwertiger Ersatz für die eigentlich an diesem Tag vorgesehene Deutsche Erstaufführung von György Kurtàgs „Fin de Partie“ (siehe Rezension klassikfavori vom 19. November 2018). Die Zweitinszenierung musste wohl wegen eines Exklusivanspruchs der Mailänder Scala, wo das Stück uraufgeführt wurde, vertagt werden. Man wüsste natürlich gern, was Regisseur Ingo Kerkhof – nach dieser Erfahrung – aus Kurtàgs Stück wohl heraus geholt hätte…

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