Lehárs „Giuditta“ – mal als Spieloper, mal als Komödie oder als Operette

Franz Lehárs Schwanengesang „Giuditta“ war 1934 ein Sensations-Erfolg an der Wiener Staatsoper mit 120 angeschlossenen Rundfunkanstalten weltweit und zugleich ein Kassenschlager mit 43 ausverkauften Vorstellungen bis 7. März 1938. An diesem Tag sang Richard Tauber in der männlichen Hauptrolle des Octavio auch seine letzte Vorstellung im Haus am Ring, bevor er ins Exil gehen musste. Nun war „Giuditta“ erstmals am Nationaltheater in München zu erleben; sie ist dort erst die zweite Operette – neben der unverwüstlichen „Fledermaus“, die seit 1895 nicht aus dem Spielplan der Bayerischen Staatsoper verschwunden ist. (Von Klaus Kalchschmid)

Anna Viebrock hat eine Art Turnhallen-Mehrzweck-Saal mit Bühne im Hintergrund, zwei Klavieren links und einem Pressspan-Zimmerchen rechts gebaut. Kachel-Türkis und Wüsten-Beige dominieren. Das ist ein ebenso nüchterner wie verwunschener, etwas abgenutzter Raum, in dem schon mal die Vorhänge oder Leuchtstoffröhren mit HEUTE, DEMNÄCHST und ENDE slapstickhaft sich verselbständigen. Doch Christoph Marthalers bevorzugte Bühnenbildnerin kann sich die gemeinsame Produktion nicht, wie geplant, an Silvester vorstellen. Dabei ist diese Giuditta, angereichert mit allerlei Musik von Berg, Schönberg, Krenek, Korngold, Schostakowitsch und ergänzt um Dialoge aus Ödön von Horváths Sladek oder die schwarze Armee (1927) genau das richtige Stück für teils sentimentale, teils augenzwinkernd melancholische Rückschau. Denn wer kann und will dieses Jahr den Jahreswechsel – angesichts eines bevorstehenden erneuten Lockdowns – unbeschwert und champagnerselig à la Fledermaus feiern?

„Freunde, das Leben ist lebenswert“: Jeder kennt dieses „Tauber-Lied“, das kaum ein Tenor NICHT im Repertoire hat. Hier erklingt es anders als im Original gleich nach dem Vorspiel des Orchesters. Daniel Behle, Bayreuths David in den Meistersingern, singt es an der Rampe weniger ranschmeißerisch, denn als Aufforderung, kraft Beschluss alle Sorgen hinter sich zu lassen. Also verliebt er sich stante pede unsterblich und wünscht sich, dass diese Frau, die sich vom Gatten eingeengt fühlt (hier ein Zauserl, der eine Tuba wie ein Lenkrad auf einem Schiff bedient), nach Afrika folgt. Denn dorthin wurde er als Hauptmann abkommandiert. Angekommen, entscheidet sich Octavio, nicht zu desertieren; Giuditta bleibt enttäuscht zurück. Jahre später ist sie gefeierte Tänzerin in einem Vergnügungslokal und wird von den Männern umschwärmt. Auch der aus der Kriegsregion zurückgekehrte Octavio hofft sie zurückzugewinnen, doch als sie das Lokal mit einem Verehrer verlässt, bleibt er verzweifelt zurück. Jahre später arbeitet er als Barpianist im Hotel. Giuditta ist plötzlich voller Sehnsucht nach dem verlorenen Glück, doch er lässt sie abblitzen und sitzt noch am Klavier, als alle Gäste gegangen sind.

Jochen Schmeckenbecher. Foto: Wilfried Hösl

Eine Parallel-Handlung mit dem „niederen Paar“ erzählt Marthaler neu nach Horváths Sladek: Sladek (Sebastian Kohlhepp; bei Lehár: Pierrino) will als nationalistischer Soldat eine Geheimarmee zur Gründung einer Diktatur bilden. Seine Geliebte Anna (Kerstin Avemo; bei Lehár: Anita) droht den Plan auffliegen zu lassen, das kostet sie das Leben, nicht ohne dass beide zuvor das wunderbar süffige, melancholisch verschattete Duett Glück, das mir verblieb aus Korngolds „Die tote Stadt“ gesungen haben. Dafür gibt es Bravos, aber unmittelbar vorher auch wüstes Buh für eine herrlich irre Nonsense-Choreographie des Ensembles zur aberwitzigen Musik von Schostakowitschs Koelkovs Dance. Auf Korngold folgt gleich noch (vor dem Schlager Meine Lippen, sie küssen so heiß) Hanns Eislers Über den Selbstmord – als melancholische Reflexion von Jochen Schmeckenbecher wunderbar mürbe gesungen. Schon zu Beginn ist seine Heimat aus Eislers Hollywooder Liederbuch der perfekte Kontrast zum Duett von Anna und Sladek Uns ist alles einerlei!

Immer wieder schweift Marthaler in seiner zusammen mit Dramaturg Malte Ubenauf erstellten Fassung ab. Dann erklingt freitonal jugendstilhaft sich Rankendes wie Gewitterregen oder Hier ist Frieden aus den Altenberg-Liedern Alban Bergs, Klavierlieder von Viktor Ullmann, Krenek und Eisler oder gar ein Ausschnitt aus Schönbergs Monodram Die glückliche Hand. Das alles sind keineswegs Fremdkörper, sondern in ihren Reflexionen über Liebe, Sehnsucht, Heimweh und Tod Fortschreibungen sowohl des Textes von Paul Knepler und Fritz Löhner-Beda wie auch der Musik Lehárs. Wenn dazu das Personal wie im Seegang auf einem Schiff hin- und her geworfen wird oder zwei Kellner eine virtuose Slapstick-Choreographie hinlegen, während sie das Mobiliar virtuos neu sortieren, dann ist das eine wunderbare Bereicherung der oft platt sich reimenden Texte und einer Handlung, die so zur Kenntlichkeit entstellt wird. Das Programmheft führt dafür keinen Choreografen auf, sondern – ganz marthalerisch – einen „Leiter der Bewegung“ (Joaquin P. Abella) und einen „Leiter der Gegenbewegung“ (Sebastian Zuber)!

Famos trennscharf und filigran oder melodiös aufrauschend, dabei immer wunderbar leicht moussierend musiziert das Bayerische Staatsorchester. Sonst traumwandlerisch sicher bei Richard Strauss, hat es daher, aber auch nicht zuletzt dank Titus Engel am Pult, keinerlei Probleme mit Lehárs üppig und raffiniert instrumentierter Musik. Das gilt auch für die Sängerinnen und Sänger wie Vida Miknevičiūté. Sie wird in der Titelpartie immer souveräner und selbstbewusster und lässt ihre metallischen Spitzentöne zunehmend leuchtender klingen. Kerstin Avemo singt als Anna viel von der zusätzlichen Musik, interpoliert aber auch bei Lehár wunderbare Koloraturen und Spitzentöne. Mit dem feinen lyrischen Tenor Sebastian Kohlhepp bildet sie ein geradezu ideales Paar. Wie schade, dass auch ihm hier keine Zukunft geschenkt ist.

Giuditta wird vom 27. Dezember bis 6. Januar viermal gespielt (Restkarten-Verkauf ab Mittwoch, 22.12.21 ab 10 Uhr) und ist am Mittwoch, 26. Januar (19 Uhr) kostenlos auf staatsoper.tv verfügbar. Arte Concert bzw. Arte sendet die Produktion am 27. Februar 2022.

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