Der US-amerikanische Künstler, Musiker und Bandleader Tony Cokes bereitet Statements über die Anfänge der Popmusik im Ruhrgebiet mit alten Collage-Arbeiten aus der britischen und US amerikanischen Club- und Rockszene auf und projiziert sie auf gigantische Betontrichter in der Mischanlage Kokerei Zollverein, Essen.Ein Tag später eröffnet Bühnenbildnerin Barbara Ehnes ihre Installation Αλληλεγγύη und präsentiert auf Bildschirmen in einer Nische der von raumlaborberlin aufgerüsteten temporären Architektur Third Space vor der Jahrhunderthalle Ausschnitte aus ihren Nachfragen zu Solidaritätsbewegungen im krisengeschüttelten Griechenland.
Im großen Fokus stehen natürlich die Musiktheaterproduktionen. In der Jahrhunderthalle mischt Heiner Goebbels am späteren Abend gewaltige Bilder in einer installativen Performance mit Geräuschattacken bis Orgel-plus-Ondes-Martenot–Klängen ab. Im Eröffnungspremierenstück am ersten Tag hat Ruhrtriennale-Intendantin Stefanie Carp als Autorin mit Artiste associé Regisseur Christoph Marthaler sowie Musiker Uli Fussenegger mit Ensemble im Audimax der Ruhr-Uni Bochum vorgeführt, wie ein zukünftiger Euro-Rassismus durch parlamentarische Debatten Wirklichkeit werden könnte. (Von Sabine Weber)
(22. uns 23. August 2019, Audimax der Ruhr-Uni Bochum, Jahrhunderthalle, Bochum) Die Ruhrtriennale bespielt so einige Industrieorte mit Installationen und Theaterperfomances. Für die erste Musiktheateruraufführung der diesjährigen Triennale wird erstmals der eindrückliche Campus der Ruhr-Uni Bochum einbezogen. Der Audimax liegt im architektonischen Zentrum und ist ein
amphitheatraler Riesenhörsaal mit mächtiger Klaisorgel. Wie auch immer die in einen Hörsaal hinein gekommen ist, der Ort ist ideal für „Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“ (zum Titel das Interview podcast mit Stefanie Carp) Die grellorange bezogenen Sitzreihen vor und unter der Orgel sind vom Publikum besetzt. Die gegenüberliegenden Sitzreihen bilden die Bühne. Schauspieler und Musiker bewegen sich hauptsächlich treppauf, treppab oder zwischen den Reihen. Wobei die 10 bis 11 Performer sich verteilen oder zusammenrotten, zum Mikrofon greifen und sich auch schon einmal über die Sitze werfen, um das von Regisseur Christoph Marthaler und Autorin Stefanie Carp, derzeitige Ruhrtriennale-Intendantin, entwickelte imaginäre Parlament in Gang zu setzen. Für eine anstehende Gedenkfeier zur Jahresfeier der Befreiung des KZs Mauthausen putzt erst einmal ein Raumpflegerinnen-Trupp sauber und „rein“, dann brechen lächerliche Clowns ein, die sich als Abgeordnete oder Politiker entpuppen und sich bösartig-bürokratisch das Wort verbieten. Es wird eine Fragestunden zu Ausländerproblemen absolviert, in der ausländerfeindliche Afrika-Gene behauptet werden. Es werden vor allem Reden gehalten. Die antisemitische Hassrede des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger von 1894, die Josef Ostendorf in monotonem Ton emotionslos wiedergibt, mitsamt der weit im Voraus prognostizierten Endlösung lässt aufhorchen.
In diesem eiskalten Ton ist in Europa der Rassismus und Antisemitismus geboren worden! Für das Hier und Jetzt stehen dann Debatten über Fremdenfeindlichkeit. „Wir brauchen keine Opposition, wir sind doch Demokraten!“ Die von Stefanie Carp anverwandelte Rhetorik ist aktuellen Politikern zuordbar und mündet ohne bemerkenswerten Bruch in einen neuen, hier behaupteten Rassismus der Zukunft. Der Rassismus als europäisches Phänomen wird zuvor noch Weltkulturerbe.
Und wird im Jahr 2143 zum Euro-Rassismus. Eine Verfassung „Bitte erheben Sie sich alle!“ wird ausgerufen, die dem Ur-Europäer Bürgerrechte und Freiheiten garantiert, während eine internationale Wall Company dafür sorgt, dass der Rest der Welt draußen und ausgeschlossen bleibt. Und jetzt wird die Kehrseite zum Thema. Das Ensemble verstummt. Die Politiker sind jetzt die Opfer geworden. Sie tragen statt Anzug und schickem Kostüm beige-graue Jacken und Hosen. Zum Schluss zieht sogar der Tross in grauen Kitteln ganz hinten oben durch den Saal. Die Deportierten von damals sind die der Zukunft, wenn wir es mit ausländerfeindlichen Parolen und Hetzkampagnen so weit kommen lassen.
Es gelingt ein denkwürdiger und anspruchsvoller Abend, der zweieinhalb Stunden trägt und zeigt, wie selbstverständlich rhetorische Fließrichtungen in der Politik sich ändern, scheinbar vernünftig gruselige Brachen in die Gesellschaft zu schlagen propagiert und nonchalant zu einer neuen Spielart des europäischen Rassismus werden könnte. Die Musik mischt als Kommentar zumeist melancholische Noten ein. Luigi Nonos elektronisch verfremdete Chorklänge aus „Ricorda cosa ti hano fatto in Auschwitz“, die über Lautsprecher durch den Raum wandern, sind ein Dreh- und Angelpunkt. Die Opfer reißen ihre Münder zu einem stummen Schrei auf. Die Musiker, jetzt auch in einem Sitzareal verteilt, springen auf und setzen sich wieder. Der Abend mündet danach in ein Kammermusikkonzert. Mit Musik, deren Ausmerzung durch Demagogie und Hetztiraden – wie gehört – vorbereitet wurde. Kontrabassist Uli Fussenegger hat in den Archiven von Brünn und bei der Basler Sacherstiftung Musik von durch die Nationalsozialisten vertriebene und ermordete Komponisten ausfindig gemacht und eine exquisite Auswahl für ein,
wie er sagt: „disparates“ Ensemble mit Klarinette, Akkordeon, Klavier, Violine, Bratsche und Kontrabass bearbeitet. Im KZ, wo die Musik teilweise entstanden und erstaufgeführt wurde, fehlte ja auch immer ein Musiker oder Instrument. Streichquartette von Pavel Haas oder Szymon Laks erklingen.
Komponisten, die man noch nie gehört hat. Oder Werke von Józef Koffler, der sich in Lemberg per Briefaustausch mit Arnold Schönberg die Zwölftontechnik selbst beigebracht und in Polen der erste Dodekaphonist gewesen sein dürfte. Die Melodie eines Fragments von Viktor Ullmann erklingt einhändig auf dem Klavier, während die Streichinstrumente mit einem quietschenden Ton die fehlenden Stimmen ergänzen. Meist klingt es aber volksmusikalisch melancholisch, wie das „Ne Uchodi“ von Efim Skjaraov und Pjotr Leschenko, das ein Ensemblemitglied singt.
Den 1. Satz aus Ernest Blochs Baal-Shem, „Drei Bilder aus dem chassidischen Leben“, mit einer sehnsüchtigen Melodie spielt Geigerin Martina Veszelovicz barfuss über die Bühne gehend.Tora Augestad, ausgebildete Sängerin, singt Viktor Ullmanns Lied über die arme Seele. Es klingt alles erstaunlich gut von der Tribüne links oben, wo die Musiker sitzen, aber auch aus dem Saal. Einmal steigert sich der Abend zu einer Schnulzen-Parade mit Heimatlied im grellen Scheinwerferlicht. Schauspieler Bendix Dethleffsen klettert auf die Orgelbank und rundet sie mit kirchlichem Pathos-Segen ab! Schon zuvor hat er auf einem Bühnenflügel das Meisteringer-Vorspiel reingedroschen und sich selbst auf diese Art begleitend Beethovens „Ode an die Freude“ geschrien. Genial, wie dieser Riesensaal bespielt und belebt und von so wenig Personal mit einem klaren Spannungsgeflecht durchzogen wird. Das Ensemble schafft es sogar, verteilt im Raum mehrstimmig zusammen zu singen. Zum Schluss einen Chor aus Mendelssohn Elias-Oratorium. Mendelssohns Musik wurde ja auch als entartet verboten und hatte Mühe, wieder auf die deutschen Spielpläne zu kommen. Marthaler, Carp und Fussenegger gelingt mit „Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“ ein messerscharfes Lehrstück, das vorführt, wie aus dem was war und ist in einer mathematisch berechenbaren Kurve in die Zukunft projiziert werden kann.
Gegen diese konsequente Dramaturgie ist die zweite „Everything that happened and would happen“ von Heiner Goebbels ein Bildmächtiger Leerlauf! Es machte gewaltigen Effekt, als sich fünf schwarze Betstuhlkolosse zu einem dröhnenden Elektro-Geräuschsound aus dem Dunkel auf die Zuschauertribüne in der Jahrhunderthalle zubewegen. Die Musiker, eine Schlagzeugerin vorne links, Saxophon hinten links, elektrische Gitarre mit Appsoundbearbeiter hinten rechts, daneben eine Ansammlung von Orgelpfeifen, die Computer- und Keyboardgesteuert bedient werden und vorne rechts ein Ondes Martenot liefern erst eine knittrig schütterne Geräuschkulisse. Die Performer in schwarzer Arbeitsmontur arbeiten sich mit Requisiten ab. Wie Bühnenarbeiter schieben sie Sockel, rollen Stoffbilder von der Rolle, schwenken sie
herum, hängen sie auf, ziehen sie hoch und wieder runter oder wirbeln eine lange Bank durch den Raum. Alles Elemente aus Klaus Grünbergs Requisiten-Fundus zu John Cages Europeras 1 & 2 – eine Inszenierung von Heiner Goebbels, damals Intendant, für die Ruhrtriennale 2014. Dazu wird aus Patrik Ouředníks Europeanea rezitiert. Der tschechische Autor wirft in dieser kurzen Abhandlung Schlaglichter auf die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aber warum hört man sie auf Englisch und nicht auf Deutsch, wenn man schon übersetzen muss, oder warum gibt es nicht wenigstens durchgängig Untertitel? Es erfordert sehr viel Anstrengung, beispielsweise den darin aufgeworfenen Fragen nach der richtigen Erinnerungskultur an die Weltkriege zu folgen. Ob Barbie-Puppen in Auschwitzstreifen dazu dienen können, Kindern den Holocaust nahe zu bringen, oder was wir aus den Klischees, die Länder von anderen pflegen, lernen können. Ein Thema gleich zu Anfang ist die Weltausstellung 1900 in Paris, für die Eingeborene aus den Kolonien eingeflogen und vor Bambushütten gesetzt wurden. Das Interesse an Ethnologie sei eben so groß gewesen wie das für technische Innovation, mit der auf Weltausstellungen national eigentlich gepunktet wurde. Dazu werden Filme von Euronews hinein geblendet. Überschwemmungkatastrophen in China, männliche Pilgerscharen in rituellen Bewegungsabläufen, die einem Guru hinterherlaufen, zu einer Mauer kommen, die sie dann bewerfen. Sogar tagesaktuell vom 23.8., Tag dieser Premiere, sind die Protestierenden, die in Hong-Kong eine Menschenkette bilden, zu sehen.
Doch alles findet nicht zusammen. Die Bühnenarbeit, die Bilder, der Text. Die Musik konzentriert sich einmal auf Olivier Messiaens Melodie aus dem langsamen Satz seines Quatuor pour la fin du temps mit Ondes Martinot und Orgelklängen. Das ist wunderbar. Zum Schluss gibt es ein Krachlärmendes Finale und ein Anhäufen von Kulissenstoffen bis ein kriegsverwüsteter Schauplatz übrig bleibt. Zweieinhalb Stunden haben die Akteure dafür geschuftet, dass erst einmal ein lautes „Buh“ durch die Halle geht. Aber dann kommt der Applaus für das opulente aber doch disparate, wenig überzeugende Konzept.