Der Oper am Rhein in Düsseldorf gelingt kurz vor dem Lockdown noch eine Repertoire-Entdeckung. Die Aufführung von Mieczysław Weinbergs 1975 komponierter Konversationsoper nach Scholem Alejchems Theaterstück „Masel Tov“ für vier Solisten und Kammermusikorchester. Die Düsseldorfer Symphoniker bringen unter der Leitung von Ralf Lange die schroff-schräge, aber immer fein austarierte Klangwelt Weinbergs in der Kammerfassung Henry Kochs von 2012 auf den Punkt. Auch der unprätentiös untergejubelte jiddische Tonfall wird herausgekitzelt! Der schwarze Humor Alejchems, aus dessen Theaterstück Weinberg das Libretto eigenhändig entworfen hat, wirft in den anderthalb Stunden kaum Fragen auf. Und ist auch nicht wirklich zum Lachen. Der jiddische Galgenhumor von „Masel Tov“ ist dennoch herrlich komödiantisches Musiktheater. In Düsseldorf, weil die singenden und schauspielernden Solisten aus dem Düsseldorfer Ensemble sich großartig in ihre Rollen werfen! (Von Sabine Weber)
(29. Oktober 2020, Oper am Rhein, Düsseldorf) Unwillkürlich ist doch die Serie Das Haus am Eaton Place mit Schauspieler Gordon Cameron Jackson als Butler im Kopf. Aber Alejchems/ Weinbergs Kopftochkosmos, ebenfalls im Küchenuntergeschoss eines hochherrschaftlichen Hauses angesiedelt, hat ein anderes Rezept. Auch wenn Köchin Beilja mit fuchsroten Haaren an Chefbutler Jackson erinnert.
Im Weinbergschen Untergeschoss geht es nicht um die Unterstützung des hochherrschaftlichen Obergeschosses. Hier wird bei der Essenszubereitung übers eigene Dasein reflektiert. Das ewige Debakel zwischen Scheitern und Überleben, Realität und Traum, Projektionen auf Mögliches. Eben die schwankende Welt einfacher, aber gewiefter Leute, die sich immer mal wieder klischeehaft und grotesk in Aktion setzen. Dann wird auf dem Tisch Rand-und-Bandlos getanzt oder es werden Teller geworfen (Regie: Philipp Westerbarkei).
Binnen einer Sekunde wechselt die Stimmung
Der Anfang ist musikalisch allerdings überraschend elegisch. Die freitonale Melodie einer Altflöte – sie kehrt im zweiten Akt noch einmal wieder – gibt den Blick auf eine riesige Küchenanrichte vor Kamin frei (Bühne: Heike Scheele). Witwe Beilja (mit tragisch-tragikomischem Mezzo, der über erstaunliche Höhen verfügt: Kimberley Boettger-Soller) lamentiert wie Tschaikowskys Lenski über zerronnene Lebenszeit. Binnen einer Sekunde wechselt ihre Stimmung. Und schon wütet sie gegen die Herrschaft, die sie bis zu ihrem Tod arbeiten lässt. „Ein Fisch ohne Pfeffer schmeckt nicht. Ein Fisch als Almosen ist abscheulich!“ Verkohltes zieht sie aus einem Ofenfach, die Ofentür fällt mit Knall zu. Beilja klappert mit Töpfen, knetet im Teig, wischt mit Lappen, wirbelt mit dem Besen.
Jiddischer Schlamassel!
Sie steckt in einem typisch jüdischen Schlamassel, erklärt ihr Reb Alter (Tenor Norbert Ernst, mit dieser Spielzeit wieder ins Düsseldorfer Ensemble zurück gekehrt und komödiantisch sprechend-singend, vor allem wunderbar agierend). Aber jetzt gibt es doch die „Sizilisten“ (jiddisch für Sozialisten? Übersetzung des ursprünglich russischen Librettos ins Deutsche: Ulrike Patow). Die setzen sich für die einfachen Leute wie sie politisch ein.
Nach ein bisschen Wein und Wodka, die Witwe setzt sogar die Flasche an, öffnen sich Perspektiven. Beilja besitzt ein bisschen Geld, das mit Reb Alters Kapital einer fliegenden Buchhändlerei – ein Fahrrad mit Bücherkiste – doch wunderbar zusammen gehen könnte, denkt Reb laut.
Immer wieder Moritaten wie das Lied vom armen Schlucker!
Fradl, das quirrlige Dienstmädchen (ein wunderbar jugendlich leichter Sopran mit Lavinia Dames) in schwarzer Dienstmädchenlivree mit Häubchen, lamentiert herzergreifend über ihre Mannlosigkeit. Sie kuschelt mit einem cremefarbenen Brautkleid, das sie lieber anziehen würde. Als Butler Chaim (mit anrührendem Tonfall Bariton Jorge Espino) über verdorbene Herrschaftscharaktere sinniert, um sie, die einfache Dienerin, ins große Licht zu setzen, verhält sie sich dennoch widerborstig. Beide jagen um den riesigen Tisch herum, wie danach auch Beilja und Reb. Westerbarkei setzt auf bewegte Personenregie – trotz Corona-Abstand – und lässt vor allem spielen. Immer wieder aber auch Innehalten. Dann erklingen Moritaten, das Lied vom armen Schlucker, das Reb erzählt. Das Küchenkollegium bringt den Refrain ein. Oder die Geschichte von den 10 Brüdern, bei dem in jeder Strophe einer ins Gras beißt, und die anderen mit Händeln und Verticken unbeirrt weitermachen. Typisch jiddisch? Das ist der Moment, in dem die Teller fliegen.
Die Musiker der Düsseldorfer Symphoniker unter Ralf Lange treffen im rasanten Wechsel die Tempi und immer den Ton
Musikalisch erinnert dieses Lied an den Weillschen Songstil. Wobei die Strophen durch Tonarten mäandern und durch immer andere Instrumentierungen variiert werden, alles stets transparent. Mal begleitet nur ein Violoncello, dann mit Kontrabass. Oder die omnipräsente Klarinette, typische Klezmerklangfarbe, auch Bassklarinette, sowie Fagott und Kontrafagott sind im Einsatz. Die eben noch dunkle Flöte quietscht jetzt hell. Die Oboe wird auch mal zu einem weichen Englischhorn. Die Streicher sind wie die Bläser einfach besetzt, klingen bei Tuttischlägen dennoch voll. Dazu auch ein Klavier, das im Partiturklang aufgeht und nicht herausfällt wie in der Kammermusikbearbeitung von Mozarts Serail in Dortmund.
Vom jiddischen Lied in die wilde Polka
Und es wechselt vom jiddischen Lied, zu Klezmermelodie, vom Galopp geht es in die wilde Polka. Alles schräg widerspenstig aber nicht unsympathisch gegen den Strich gebürstet. Großartige Musik, die an Schostakowitsch, Strawinsky, Bartok erinnern könnte, aber ein Weinberg-Kosmos ist. Ein riesiges Violinsolo gibt es schon in Weinbergs erster Oper Die Passagierin. Die Musiker der Düsseldorfer Symphoniker unter Ralf Lange treffen die Tempi bei Übergängen auf kleinstem Raum, übernehmen solistisch, und selbst bei den kollidierenden Kontrasten treffen sie den Ton.
Zum Schluss finden sich die Paare: Beilja-Reb und Fradl-Chaim. Die Anrichte wird zum festlichen Tisch dekoriert. Es erklingt eine Art Traummusik. Silber rieselt von oben. Alle sind in Trance. Ein Tanz im neobarocken Strawinsky-Stil ruft ins hier und jetzt zurück. Und da steht die herrschaftliche Alte drohend da. Schon zuvor hat Madame immer mal wieder einen Kommentar durch den Kamin fallen lassen (mit großem stimmlichen Aplomb Sylvia Hamvasi). Jetzt beschimpft sie ihr Personal auf Augenhöhe mit ausladender Koloratur nach den Regeln der Kunst. Für die insgesamt witzig spritzige Übersetzung hat Ulrike Patow hier dann wohl auch mal Schimpfwörterbücher konsultiert. Reb protestiert zaghaft. Beilja serviert schnell die Suppe. Madame setzt sich an den Tisch, löffelt, spuckt aus, und fällt vergiftet zusammen.
Das Finale, eine Aufführungslizenz im kommunistischen Moskau!
Was dann kommt, ist ebenso unrealistisch und wirkt zudem ziemlich aufgesetzt. „Das Blatt hat sich gewendet“, ruft Reb. „Nicht mehr das Geld regiert die Welt. Die „Sizilisten“ sind da! Ehre gebührt uns allen, ob wir arm sind oder reich.“ Der Kommunismus wird Parole! Während die vier die frohe Botschaft in einem erstaunlich homophon volkschornahen Satz intonieren, läuft eine graue Maus im Lichtkegel über die Bühne. Auch ihr gebührt Ehre! Dieses Finale war wohl Weinbergs Aufführungslizenz im kommunistischen Moskau geschuldet, wo das Stück 1983 in seiner Anwesenheit auch uraufgeführt wurde. Dass Weinberg später noch ein weniger euphorisches Finale nachkomponiert hat, verwundert nicht. Aber an diesem Premierenabend in Düsseldorf tat die Gute-Welt-Apotheose gut. Im bereits ziemlich leeren Zuschauerraum wird zu recht noch einmal heftig applaudiert. Dieser Abend muss lange vorhalten. Es heißt, im Dezember gehe es wieder los…