In Genf wird die Uraufführung von Héctor Parras Oper „Justice“ zum Requiem für die Opfer eines Schwefelsäure-Unfalls im Kongo

Schon im letzten Jahr gab es in Genf die Uraufführung einer Oper, die auf einer realen menschlichen Tragödie basierte. „Voyage vers l‘espoir“ von Christian Jost. Genf als Sitz der UN scheint das herauszufordern. Aktuell wird für ein verheerendes Unglück im Kongo Gerechtigkeit gefordert. Mit der Uraufführung einer Oper des spanischen Komponisten Héctor Parras in der Inszenierung von Milo Rau. (Von Klaus Kalchschmid)

Willard White (Priester) Foto: Carole Parodi

(22. Januar 2024, Grand Théâtre de Genève) Seit 16 Jahren gibt es vom heute 47-jährigen Parra, der seit 2002 in Paris lebt, alle paar Jahr eine neue Oper. Nach kleinen Werken wie Zangezi (2007), Hypermusic Prologue (2009) und Te craindre en ton absence (2013) erlebte 2014 bei der Münchner Biennale seine Kammeroper für vier Sänger und zwei Instrumentalensembles ihre Uraufführung. Sie beginnt mit faszinierenden Klängen, die zugleich modern, zeitlos, tonal und voller Reibungen stets im Fluss sind. Die beiden im Abstand eines Halbtons gestimmten Orchester – damals je sieben Mitglieder des Freiburger Barockorchesters (u. a. mit Viola da gamba, Theorbe und Harfe) und des ensemble recherche (mit Holzbläsern, Schlagwerk und Streichtrio) tragen viel zu dieser Wirkung bei. Noch packender und differenzierter gelingt Parra die Musik für Wilde auf ein Libretto von Händl Klaus (Schwetzingen 2015) und auch Les Bienveillantes – Die Wohlgesinnten (2019) nach Jonathan Littell fasziniert. Und aktuell in Genf bildet wieder das Orchester das Fundament des Ganzen. Eine mit drängendem Puls meist treibende, manchmal aber auch irritierend bremsende musikalische Kraft. Sie besitzt einen unverwechselbaren Charakter und ist zugleich enorm vielfältig.

Der Countertenor Serge Kakudji und Milo Rau im Kongo für einen Opern-Dreh. Eine Kobaltmine im Hintergrund. Foto: Fritz von Dungern

Selten gibt es wenige Jahre nach einem realen Ereignis eine Oper darüber. Hintergrund und Handlung von Justice ist ein folgenschwerer Unfall im Februar 2019 in Katanga, im Süden der Republik Kongo. Ein mit Schwefelsäure beladener, nicht versicherter Tanklaster kollidiert mit einem Bus. Erst nach Stunden werden einundzwanzig Menschen tot und sieben schwerverletzt geborgen. Die Säure ergiesst sich über den Markt und auf einen Friedhof. Bis heute werden die Überlebenden und die Familien der Toten nur mit lächerlich kleinen Summen als Entschädigung abgespeist. Aus diesem Geschehen entwickelt der kongolesische Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila nach einem Szenario von Milo Rau das Liberetto. Milo Rau hat bereits 2015 in seinem international iniziierten Kongo Tribunal, zu einem semidokumentarischen Film aufgearbeitet, Ungerechtigkeiten im kongolesischen Bergbau angeprangert. In seiner ersten  Genfer Inszenierung hat er den Sturm aufs Kapitol in einer Mozartoper zitiert. Jetzt führt er einen Abend lang Tote und Überlebende vor. Wunden, die geblieben sind. Erlittenes, das suggestiv und mit suggestiven Texten vor Auge und Ohr gebracht wird. Videos von der Unfallstelle und von vier Überlebenden wechseln sich ab mit Gesang, der das Geschehene poetisch überhöht und berührende Erinnerungsarbeit leistet.

Der Fluch der Kobaltminen

Dazu wird immer wieder gesprochen. So stellt der Librettist selbst am Anfang nach einem spannenden, immer mal wiederkehrenden Intro des großartigen kongolesischen (E-)Gitarren-Virtuosen Kojack Kossakamvwe die Mitwirkenden vor und benennt die Akt-Zäsuren (Der Reichtum der Erde, der Milliardär, Schwefelsäure, Die verschwundenen Welten, Der Abschied). Er erklärt aber auch den Fluch der Privatisierung und der damit verbundenen Aufteilung der Kobaltminen auf verschiedene Firmen, die sich nicht mehr für ihre Arbeiter verantwortlich fühlen wie einst das staatliche Unternehmen, das Schulen und Wohnung baute.

Die Protagonisten haben Wurzeln in Afrika

Viele der Protagonisten haben Wurzeln in Afrika oder speziell im Kongo, so der Countertenor Serge Kakudji als doppelt beinamputierter junger Mann. Wie er einst voller Freude sehr schnell gelaufen ist, berichtet er mit berührend feiner Stimme, während er barfuß und in kurzen Hosen aus dem Rollstuhl aufsteht und man seine noch gesunden, schönen Beine in Bewegung sieht.

Foto: Carole Parodi

Die Sopranistin Axelle Fanyo gibt den Klagen der Mutter des toten Kindes ergreifende Intensität; Lauren Michelle singt diffizil und nicht weniger eindrücklich sowohl das tote Kind wie die Anwältin, während Joseph Kumbela und Pauline Lau Solo als „Opfer und Überlebende“ nur sprechen. Dem mächtigen Bassisten Willard White als Priester steht der junge Bassbariton Simon Shibambu als junger Priester gegenüber. Idunnu Münch ist mit jugendlich schlankem Mezzo und großer Bühnenpräsenz die etwas naive Frau des zynischen Direktors, den Peter Tantsits mit leichtfertig auftrumpfendem Tenor singt und spielt. Katarina Bradić erzählt mit leidenschaftlichem Mezzo von den seelischen Nöten und den Verdrängungsmechanismen des Lastwagenfahrers.

Das Orchestre de la Suisse Romande spielt unter Titus Engel mit Präzision und feiner Expression

Die elaborierte Musik aus dem Graben könnte das semi-dokumentarische Geschehen auf der Bühne stören oder überdecken, doch sie besitzt einen solchen Drive, dass sie die statische „Handlung“ nicht nur stützt, sondern befeuert. Dabei reicht das Spektrum von massiv gestauchten Blechbläser-Entladungen bis zur feinen Streicher-Begleitung in den ariosen Momenten des Abends, die teilweise traditionelle kongolesische Musik aufgreifen. Stets sind die Akkorde so harmonisch-melodisch geschärft und das Ganze so reich instrumentiert, dass alles ungemein plastisch klingt. Das Orchestre de la Suisse Romande spielt unter Titus Engel mit einer Präzision und feinen Expression, dass jede fein gesponnene lyrische Phrase, aber auch jede Klangballung und -schichtung unmittelbar eingängig sind.

Die kahle Hinterbühne in Gefechtsbeleuchtung

Die Bühne von Anton Lukas dominiert der umgestürzte Lastwagen, vor dem verätzte Puppen so realistisch aussehen, dass man erschrickt, als diese im Video erscheinen, und sie für echt hält. In solchen Momenten überlagert sich das geschilderte mit dem Bühnengeschehen und ergänzt sich wechselseitig. Milo Rau lässt den Abend ansonsten fast nüchtern wie Dokumentartheater ablaufen. Der (exzellent) kommentierende Chor des Grand Théâtre ist schwarz gekleidet und agiert ebenso wenig wie die Protagonisten, die für ihre Arien einfach an die Rampe treten. Ein großer Tisch, an dem wohl (vergeblich) die Entschädigungen verhandelt werden, ist mit seinen Gästen lediglich Staffage und wird zunehmend leerer. Aber so stellt ein Lichtwechsel, der die kahle Hinterbühne plötzlich wie Gefechtsfeldbeleuchtung erhellt oder Kleidung, die wie leblose Menschen sich aus dem Schnürboden herabsenkt, schon ein Ereignis dar. Und nie vergisst das Publikum, dass es hier um das Leid von realen Menschen geht, denen keine Gerechtigkeit widerfuhr.

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