Bertins „Fausto“. Der Geniestreich einer französischen Komponistin erlebt am Aalto die Deutsche Erstaufführung

Die erste französische Faust-Oper kommt nicht von Berlioz oder Gounod. Eine fünfundzwanzigjährige Komponistin entwirft sie mit einem eigenen Libretto, und lässt komische, kuriose und dramatische Settings über die Bühne gehen, Szenen mit Solisten und Chor, Ensembles und Instrumentales aus dem Graben, die ein außerordentliches Talent verraten. Nicht auszudenken, was Louise Bertin noch geliefert hätte, wäre sie nicht in Paris so dermaßen von den französischen Patriarchen ausgebremst worden. Das Aalto verbucht die Deutsche Erstaufführung ihrer dritten Oper. (Von Sabine Weber)

(27. Januar 2024, Aalto Theater, Essen) Gebildet, charmant, selbstbewusst, ihr Vater war Herausgeber des Journals Des Débats, für die Berlioz Kritiken schrieb, den Bertin gut kannte. Vater Bertin fördert seine Tochter, wegen Kinderlähmung gehbehindert, so gut es geht. Zuhause kann er seine Verbindungen nutzen und die Lehrer kommen lassen, die eine Frau offiziell am Conservatorium nicht hören und treffen darf. Ausgerechnet die Oper, deren Libretto sie zusammen mit Victor Hugo, auch ein Freund des Hauses, aus dessen Glöckner von Notre Dame entwirft, La Esmeralda, wird an der Oper so gestört, dass die Aufführung abgebrochen und ihre vierte Oper abgesetzt wird. Das Ende einer vielversprechenden Karriere, denn außer Oper will Louise Bertin nichts wirklich komponieren.

In Frankreich komponieren Frauen Opern. In Deutschland undenkbar!

Natürlich hatten auch männliche Franzosen Probleme. Berlioz hat mit seinen Opern bis zuletzt Kämpfe ausgefochten und nur Rumpfaufführungen in Paris erlebt. Camille Saint-Saens Opern werden gerade erst wiederentdeckt. George Bizet konnte den Erfolg seiner Carmen nicht erleben. Die Aufführung zu Lebzeiten war ein Debakel. Dennoch waren die Herren anders gesettelt und gebettet. Immerhin dürfen wir hier konstatieren: in Frankreich haben Frauen im 19. Jahrhundert bereits Opern komponiert. In Deutschland UNDENKBAR. Da durften die Frauenzimmer Hausmusik machen und Kammermusik schreiben. Allenfalls für Orchester… Sehr empörend!

Nicht nur dunkel dräuend. Dieser Fausto hat Rossinische Verve

Mit ihrem Fausto, auf ein eigenes Libretto, dass sie ins Italienische übersetzen lässt, weil vom Théâtre-Italien bestellt und dort auch 1831 uraufgeführt, zeigt Bertin, was sie als Twen draufhat. Und sie zählt zu den fünf nichtitalienischen Komponisten, die überhaupt an diesem italienisch ausgerichteten Haus angenommen wurden. Große romantische Geste lässt sie auch hören, Rossinische Verve, natürlich, er war der Hausgott, aber auch französische Legèreté… Marguerite, so heißt Gretchen bei den Franzosen, überlebt und fährt in den Himmel, während Faust von einem kuriosen und humorvollen Mefistofele abgeholt wird, der übrigens nicht freiwillig erscheint, sondern von Faust einbestellt wird. Er verliebt sich eigenständig in Margarita, braucht dann aber eine Verjüngungskur („Ich bin zu alt!“), die Mefistofele („Ich mach Dich jung!“) ihm mittels Geistern aus der Unterwelt in einer großen Szene am ersten Aktende beschert.

„Gefallene“ – Mörderin des Bruders

Faust und Margarita – eben italienisch – lieben sich dann heftig bei einem Picknick unter einem Kunstbaum (Ein Paradiesbaum steht mit einem Apfel in einer Vitrine, aber wozu dieses Zitat dient, erklärt sich nicht). Fausto macht Margarita ein Kind und ist dann nach der Pause erst mal weg. Motive, warum Faust verschwindet, greift Bertin nicht auf. Wie Margarita dann dem Gruppenzwang als gefallenes Mädchen ausgesetzt wird, ist eine der besten Szenen in dieser Oper – mit Chor. Bis hin zu ihrem Bruder, der aufkreuzt, eine Heldentenor-Arie auf den Krieg schmettert, und dann nur an seine Ehre denkt, im Scharmützel mit Fausto von Mefistofeles unsichtbarer Hand dann auch noch getötet wird. Jetzt wird es für Margarita richtig schlimm. Die unverheiratete Schwangere gilt jetzt auch noch als Mörderin. Ihr wird alles in die Schuhe geschoben.

Ein Misanthrop verliebt sich!
Dr. Faustus. Schnitzerei aus dem Faustzimmer im Goldenen Löwen in Staufen. Foto: favori.de

Am meisten irritieren uns Deutsche vielleicht die ersten beiden Akte, weil sie ohne dunkel dräuendes Drama-Couleur auskommen. Faust muss dunkel sein, wie die Faustschnitzerei aus dem Faustzimmer in einem Hotel in Staufen (siehe oben). Aber Bertins Fausto ist zwar am Anfang unglücklich mit seinem Leben, weil sein Wissen in der Philosophie, der Jurisprudenz und der Theologie ihm zu keinem Sinn im Leben verhelfen. Aber dann verliebt er sich sehr französisch, es zündet heftig, er zündet sich und Maragarita auch very cool Zigaretten an. Die Inszenierung spielt im Hier und Jetzt, allerdings bevor die Anti-Baby-Pille erfunden wurde. Faust ruft sofort Mesfistofele, und der seine Feiergeister-Truppe für die Beautykur – in einer französischen Oper muss es immer eine Art Trinkszene geben.

Almas Svilpa (Mefistofele), Mirko Roschkowski (Fausto).
Foto: Forster
Großartiges Ensemble – ein Mega Quartett!

Und es kommt zum Äußersten. Mirko Roschkowski füllt die Fausto-Riesenpartie in allen Facetten aus, als Misanthrop, Wüterich,  ängstlich, verliebter Gockel, mit zumeist lyrisch-gefühlvollem Timbre und großem Spieleinsatz. Er beginnt in Essen als Doktor in einem klinisch-weißen Spital mit Tiefenwirkung, wo er rechts eine Leiche obduziert. Der Schwesternclan fällt ein, ist vielleicht zu burlesk und durchgeknallt, zuviel Gedöns, wie der Kölner sagt. Alma Svilpa wird als Mefistofele mit der lebendig werdenden Leiche wach, springt muskelbepackt von der Bahre und springt spielgewandt herum. Was für ein Playmaker. Er initiiert die Geisterstunde – im Krankenhaus mit den eh schon durchgeknallten Pflegern und Schwestern, gibt seinem steifen Schüler später in der Begegnung mit Margarita immer wieder Hinweise und wuselt um ihn rum, damit er es bloss nichts vermasselt Und mit Margaritas Freundin Catarina geht er ein Fisternöllchen ein, weil die sich über ihn hermacht. „Ich glaube, sie liebt mich!“, ruft er aus, während sie (Nataliia Kukhar) ihn aufs Sofa schmeißt. Dieses Quartett am Ende des zweiten Aktes ist eine der großartigen Nummern dieser Oper. Und Regisseurin Tatjana Gürbaca spielt sogar mit. Jessica Muirhead ist erkrankt, so wird Margarita von Netta Or von der Seite gesungen.

Apotheose mit Tam Tam

Und Gürbaca mimt stumm mit. Lacht am Anfang vielleicht etwas zu viel und aufdringlich. Die Essener Philharmoniker unter Andreas Spering sind hier und da auch mal sehr laut. Aber alles ist akkurat genau. Selbst Melodiebögen von laut nach leise fährt Spering mit dem Körper optisch mit. Immer besser fügt sich auch Netta Ors wunderbare Stimme von der Seite in die Duette, Ensembles oder Dialoge, die vom Hammerklavier begleitet werden. Ganz groß ihr Solomoment am Beginn des dritten Aktes. Die Apotheose, ihre Himmelfahrt mit Engelchor und Feuerregen, kommt etwas plötzlich. Irgendwie fehlt da was und doch nicht. Diese französische Faustoper haut aufs Tam-Tam wie bei der französischen Revolution. Der Schockmoment muss genügen. Vor zwei Wochen ging übrigens Augusta Holmès Oper La Montagne Noir in Dortmund über die Bühne. Auch eine Entdeckung. Aber die Bertin ist noch eine Klasse besser. Wäre toll, ihre Esmeralda mal zu erleben. Aber ob beide Damen es jemals ins Repertoire schaffen, ist die Frage. Also auf nach Essen (die nächsten Termine hier ) und nach Dortmund (am 17. April und 10. Mai an der dortigen Oper)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


The reCAPTCHA verification period has expired. Please reload the page.