Shelleys 1818 veröffentlichter Schauerroman ist einer der bedeutendsten seiner Gattung und auch verfilmt worden. Es ist allerdings schon eine Weile her, dass Kenneth Branagh mit seiner Frankenstein-Verfilmung ins Kino kam. Über Mel Brooks „Frankenstein Junior“ mit Gene Wilder und dem glubschäugigen Marty Feldmann aus den 1970ern können wir heute immer noch lachen. Gedreht wurde diese köstliche Parodie auf den Horror sogar an Drehorten der ersten Frankenstein-Verfilmung von 1930 mit Boris Karloff in der Monsterrolle. Derzeit sind Mary Shelley und ihr faustischer Wissenschaftler in Opernhäusern angesagt! Der Schweizer Komponist Michael Wertmüller hat in „Diodati.Unendlich“ am Theater Basel nach dem Movens von Shelleys Wiedererweckungs-Sci-Fi gesucht und ist im Kernforschungszentrum CERN gelandet. Im De Munt/ La Monnaie fokussiert der US-amerikanische Komponist Mark Grey die Seins-Bedingungen der Frankenstein-Kreatur und entdeckt Einsamkeit und Liebessehnsucht im Permafrost! (Von Sabine Weber)
(8. März 2019, De Munt/ La Monnaie, Brüssel) Auf der Bühne im De Munt/ La Monnaie ist schon wieder ein Forscherteam in Schutzanzügen mit beleuchteten Helmen bei der Arbeit! Diesmal sind sie nicht in einem Forschungslabor mit einer Versuchsanordnung beschäftigt, wie in der Baseler Regie von Lydia Steier vor zwei Wochen. In Brüssel schicken Alex Ollé (La Fura dels Baus) und sein Regieteam die Forscher auf Expedition in den Permafrost. „Buludscha“ steht in kyrillischen Buchstaben an einer Art Antennen-Satellitenschüssel. Alfons Flores hat für sein Bühnenbild tatsächlich Buludscha vor Augen gehabt. Im Balkangebirge steht ein so benanntes futuristisches Gebilde, das er kurzer Hand ins ewige Eis versetzt. Das Bild dieses Sakralbaus, – Bunker oder Ufostation – steigt mit reichlich Nebel auf einem Gazevorhang im noch schwarzen Bühnenschlund auf (Video: Franc Aleu). Aus dem grollenden, bald tosenden Helikopterrotorensound entfesselt Bassem Akiki im Graben so plötzlich das Orchester, dass man gar nicht weiß, wo die Grenze zwischen Geräusch, Elektronik und Instrumentalklang gelegen hat. Etwas wird entfesselt oder befreit, in dieser dampfenden Eiswüste da vorne – alles weiß oder Beton. Ein Loch in der Mitte. Fura dels Baus – Gestalten, die eigentlich eher bei Kollege Carlus Padrissa zum Einsatz kommen, seilen sich aus der Antennendecke hinunter und ab ins Loch und verschwinden. Eine Röhre senkt sich über das Loch. Und in diesem plötzlich grün leuchtenden Riesenreagenzglas zieht ein Mechanismus im heftigen Klanggewitter etwas hoch. Die Kreatur auf der Trage. Ein visuell-akustisch großartiger Moment, der in einem Kinofilm nicht besser gelingen könnte. Die Musik nimmt sich nach diesem Paukenschlag wieder zurück und stimmt ein moll – getrübtes Lamento an. Über stehenden Harmonien sinniert der Forscherchor über Leiden und Willen und über verdammte Ewigkeit. Die Verse stammen von George Gordon Lord Byron aus dessen Prometheus-Gedicht, abgefasst in dem Jahr, in dem Mary Shelley den Plot ihrer Frankenstein-Novelle erfunden hat, die ja auch den Untertitel „der moderne Prometheus“ trägt.
An diesem Abend ist Komponist Mark Grey nicht nur an dem modernen Prometheus interessiert! „How do we create monsters!“ – Wie erschaffen wir Monster, sei seine zentrale Fragestellung. Und die seiner Librettistin Jùlia Canosa i Serra. Das erzählt Grey in einem kurzen Meeting unmittelbar vor der Uraufführung. Ausgrenzung und Ausgestoßensein – wie es die hässliche Frankenstein-Kreatur erfährt – steht neben der Erschaffungshybris schon bei Shelley zur Diskussion. Auch ein Monster hat Gefühle!
Frankenstein hat vermutlich eher als Thema denn als Neue Musik-Entdeckung das bemerkenswert junge Publikum ins ausverkaufte Brüsseler Opernhaus gelockt. Es ist die erste Oper des Komponisten Grey, der in Kalifornien auch als Klangdesigner ausgebildet und in elektronischer Musik bewandert ist. Der Kompositionsauftrag von De Munt/ La Monnaie hat also bereits am Beginn des Abends ein Ziel erreicht. Nämlich ein neues Publikum für die aktuelle Oper zu gewinnen. Und der erwartete Horror wird ja auch bedient. Allein durch die Darstellung der Kreatur als einer gehäuteten Gestalt mit tiefen Augenringen und Metallsonden am Kopf (Kostüme: Lluc Castells) teilt sich viel von ihrem Drama mit. Noch mehr durch die sängerische Darstellung des australisch-finnischen Tenors Topi Lehtipuu. Er geistert fast drei Stunden quasi als nackte Gestalt im Eis herum. Bariton Scott Hendricks ist als Victor Frankenstein sein Schöpfer und Widersacher, verflucht sich und ihn im Wechsel, aufbrausend wie ein Heldenbariton. Bariton Andrew Schroeder ist als Walton Victors Widergänger in der Zukunft, lyrischer gestimmt, und immer mal wieder Anwalt der Kreatur. Und Eleonore Marguerre versucht als Elisabeth mit rund sattem Timbre vergeblich, Victor aus seiner Abdrift heraus zu locken.
Zwei Ebenen überlagern sich im Opernplot, die Alex Ollé auch in der Regie verzahnt. Die zeitgenössische Ebene der wissenschaftlichen Wiedererweckung und Untersuchung des Objekts. Die zweite Ebene ist das Erinnern, das Forscher Walton in ihr auslöst. Beides kommt in diesem Sci-Fi Drome aus Beton und Eis zusammen, das in der grandiosen Lichtregie von Urs Schönebaum immer wieder zum fantastischen Laboratorium wird. Alle Figuren sind glatzköpfig wie das Monster, tragen an die Mode des 19. Jahrhunderts angenäherte Kleider wie Victor Frankenstein und seine Geliebte Elisabeth. Oder stecken im weißen Lap-Kittel wie Walton. Ausschnitte wie aus alten Frankensteinfilmen gezogen, unterstützt von einer leibhaftigen wütenden Meute mit Fackeln und Mistgabeln, sind unter anderem spannungsgeladene Erinnerungsfetzen der Kreatur. Unmittelbar nach der Pause rebellieren die Forscher gegen den Forschungschef. Er träumt von einer gesellschaftlichen Zukunft seines Monsters, was die anderen Forscher für unmöglich halten.
Victor Frankenstein wird schließlich von der Kreatur gezwungen, ihm eine Geliebte zu erschaffen.
Freund Henry überrascht Victor bei diesem Versuch, und einer etwas geschmacklosen Hauarbeit mit Hackebeil an weiblichen Leichenteilen. Es kommt zu einer Auseinandersetzung. Höhepunkt ist dann der Mord an Elisabeth. Die Kreatur rächt sich zum letzten Mal für ihr Ausgestoßensein. Walton bleibt nichts anderes übrig, als ihr am Ende die Sonden vom Kopf zu ziehen. Zuckend, wie bei den Wiederbelebungsversuchen am Anfang, sinkt sie nach fast drei Stunden zusammen. Greys Frankenstein-Oper funktioniert wie eine konventionelle Handlungsoper. Erstaunlich wenig nutzt Grey allerdings die Möglichkeiten der Elektronik, die zwar Effekte-setzend wie am Anfang zum Zug kommt, die aber kein wirkliches Eigenleben entwickelt. Greys Klangsprache insgesamt bleibt tonal und harmonisch. Sie verzichtet auf Komplexität und zeichnet Spannungsbögen eher filmmusikalisch nach, gern auch mit Minimal-musikalischen Stilmitteln. Posaunen schleudern heftige Akzente, wenn es Verfolgungsszenen gibt. Dazu setzt er auch gern das Schlagzeug mit ein und lässt die Emotionen hoch kochen. Die Holzbläser wirbeln schon einmal durcheinander, aber Grey setzt lieber auf gefühlige Musikmomente. Eigenständige musikalische Ensembles fallen nicht auf. Wenn Solisten zusammen singen, dann meist im Unisono. Grey erzählt im Wesentlichen bebildert nach. Wobei die bei Shelley eine Rolle spielende Episode mit Justine, der der Mord an Victors jüngerem Bruder angehangen wird und die dafür gehängt wird, eigentlich völlig überflüssig ist. Die Auseinandersetzung über Frankenstein-Androide, beziehungsweise künstlich erzeugte Menschen, die gesellschaftliche Teilhabe bekommen dürfen, sollen, müssen, das hätte mehr Raum im Drama bekommen dürfen. Und auch die Frage nach der Möglichkeit, für ein Monster Empathie entwickeln zu müssen, erfährt keinen Diskurs. Liebesnotwendigkeit wird lediglich affirmiert. Der Abend funktioniert mit einem klaren dramatischen Spannungsaufbau in der Abfolge der Szenen, einem opulent beeindruckenden Bühnenbild und passender Musikkulisse. Das dürfte – und das soll nicht abfällig klingen – etwas für Operneinsteiger sein, die einmal etwas anderes als ein Musical erleben wollen…