Lord Byron and friends inmitten von Higgs und Schwarzen Löchern! Die Basler feiern mit „Diodati. Unendlich“ von Michael Wertmüller seine neueste Musiktheater-Erfindung. Lydia Steier hat Regie geführt!

Der Sommer 1816 war ein meteorologischer Ausnahmezustand, der für Kälte und Dauerregen gesorgt hat und die Touristen Gordon George Lord Byron, seinen Leibarzt John Polidori und Percy Bysshe Shelley in Begleitung von Mary Godwin, zukünftige Shelley, in einer Ferienvilla am Genfer See festgesetzt hat. Aus Langeweile und unter reichlich Drogen frönen sie der Lust und der Leiden und erfinden den Vampir und die Kreatur von Dr. Frankenstein. Später auch die tragischen Geschichten zu diesen beiden ersten berühmten aus Leichen geborenen Horrorgestalten. Aber nicht aus Lust am Gruseln werden sie kreativ, sondern um die Welt und ihre persönlichen Traumata zu heilen! Jedenfalls an diesem Uraufführungsabend, den der Thuner Komponist und seine Librettistin Dea Loher vorgeben durften. Am Genfer See liegt nämlich nicht nur jene Titel-spendende Diodati-Villa, sondern heute auch das Kernforschungszentrum CERN. Also gibt es auch dadaistische Teilchenforschung über Higgs und Particles. Und weil Wertmüller wie schon in vorherigen Musiktheaterproduktionen das Switzerland Steamboat-Trio in den Orchestergraben geordert hat, zieht er auch dort eine zweite Ebene ein. Mit entfesselten elektroakustischen free-fusion-sounds. (Von Sabine Weber)

Sara Hershkowitz, Seth Carico, Chor des Theater Basel, Kristina Stanek, Rolf Romei. Foto: Sandra Then
Sara Hershkowitz, Seth Carico, Chor des Theater Basel, Kristina Stanek, Rolf Romei. Foto: Sandra Then

(21. Februar 2019, Theater Basel) Wie der Teilchenbeschleuniger im CERN aussieht, könnte man nach dem Schlussbild wissen, wenn Videofilmerin Tabea Rothfuchs diesen ‚In-eine-Röhre-guckenden‘ Blick von dort aufgenommen hätte. Die vieleckige Röhre, mit einem Auge im Mittelpunkt, rotiert, während auf der Bühne davor gleich mehrere Drehungen um und gegeneinander stattfinden. Alles löst sich in der Beschleunigung auf. Der Chor ist mit QR Codes auf weißen T-Shirts unterwegs und summt oder singt Silben-zersetzend, also völlig unverständlich, von Neutrinos, Silence und Solitude. Dazwischen die fünf Solisten. Byron zieht autistisch Kreise. Claire, Marys Halbschwester, gebiert ein Kind. Polidori hilft bei der Geburt, während ein totes, gerade zum Leben erwecktes Kind vom Tisch aufsteht und im Leichenhemd mit schwarzen Flügeln durchs Bild gleitet. Mary, festgehalten von Percy, krümmt sich dazu leidvoll. Wer nach der Pause gegangen ist, und das waren nicht wenige, hat ein klanggewaltiges apotheotisches Finale verpasst. Doch was wird verklärt nach dem dreistündigen Lust-Leiden-Teilchenpotpourrie, das zudem mit vielen biografischen Details der Beteiligten gespickt ist? Dass alles im Teilchenbeschleuniger endet oder sich auflöst – sinnbildlich zu verstehen als die unendliche Suche nach den physikalischen Seins-Bestandteilen? Oder die Geburt der Idee? Der kreative Moment, der die Inspiration auch schon mal mit schwarzen Flügeln als Horror entlässt?
Regisseurin Lydia Steier steckt die illustre Gesellschaft um Lord Byron jedenfalls in eine Versuchsanordnung. Wissenschaftler des CERNs, mit dem C-Logo auf der Brust, lassen die fünf Probanden von den Toten auferstehen, um – ja was denn eigentlich? – von ihnen in einem Laborversuch zu erfahren, was Lust und Leid, also die menschliche Leidenschaft ausmacht. Sie stellen in einem grün tapezierten Kasten mit Biedermeiermöbeln die Episode am Genfer See nach. Wissenschaftler in weißen Schutzanzügen mit Glasvisier stehen auf einem von Bühnenbildner Flurin Borg Madsen drumherum gebauten Umlaufgerüst. Sie beobachten von allen Seiten und schauen auch durch ein Fenster von hinten hinein. Beobachtungen werden aufnotiert. Es wird auch schon einmal eingegriffen, als die Probanden drohen, auszubrechen. Die CERN-Gestalten führen Dampf ins Labor, der alle zappeln und umfallen lässt. Dann wummert, jault eine E-Gitarre und orgelt Steamboat in der Besetzung, Hammond, Schlagzeug und E-Bass, mächtig hinein. Mit Laudanum – einer Art flüssiges Opium – geht es dann oben auf der Bühne wieder auf und weiter. Steamboat Switzerland ist in der ersten Hälfte musikalisch sehr dominant. Es werden ständig Groves und Rhythmen entwickelt. Für die lamentoähnlichen Klänge ist dann aber wieder das Orchester zuständig. Sie begleiten den ersten Auftritt der posttraumatisierten und schwarz gekleideten Mary. Kristina Stanek aus dem Basler Ensemble bringt mit ihrem warm-samtenen Mezzo-Timbre die Trauer um ein verlorenes Kind zum Ausdruck. Der Nukleus des Menscherweckungswunsches…. Mary hat die relativ ruhigsten und melodiösesten Linien zu singen. Die unangekündigte Claire wiederum, ihre Halbschwester, schreckt alle mit zickigen Koloraturen auf. Ralf Romei, der bereits in Stockhausens „Donnerstag aus Licht“ den erwachsenen Michael verkörpert hat, verleiht Percy Shelleys Weltrettungsideen lyrisch tenorale und auch abgeklärte Kraft.

Holger Falk. Foto: Sara Then
Holger Falk. Foto: Sara Then

Im Zentrum aber steht der Lebemann Byron, den Holger Falk als sexsüchtigen Egomanen, lebenshungrig, unersättlich aber durchaus sympathisch darstellt. Auch stimmlich hat er in den baritonalen Extremen nach Ausdruck zu suchen. Mit quietschender Kopfstimme oder sprechgesangs-ähnlichen Passagen. Er muss sich gegen Polidori, verkörpert von Seth Carico, wehren, der sich unerwartet als homophil in Netzstrümpfen und Plateau-Stilettos outet. Um kreativ zu werden, sprengt die Gesellschaft die Versuchsanordnung. Im zweiten Teil liegen die weißen Wissenschaftler-Gestalten des CERNs verkohlt am Boden, die Wände sind verschwunden. Die Möbel im Raum verteilt, das Gerüst nur noch eine Ruine. Die Villa steht als Modell auf einem Beistelltisch. Was ungemein beeindruckt, ist die schauspielerische Leistung des Sängerensembles. Holger Falk mit blossem Oberkörper, robbt kopfüber die Gestelltreppe quae Liegestütz hinunter. Ralf Romei vollzieht zu seinen tollkühnen politischen Ideen Handstände und schlägt Räder. Sara Hershkowitz als Claire hat ein wildes Urschrei-Koloratur-Duett mit dem Schlagzeuger, der auf einem Podest in grell-pinkem Anzug hineingezogen wird. Sie bekommen den einzigen Szenenapplaus des Abends.
Der ganze Abend ist bunt, alles andere als langweilig, und popmäßig grell. Im ersten, musikalisch reduntanten Teil, fragt man sich allerdings schon, warum man diesen Hedonisten da vorne, die ihr Dasein für ihre Spleens nützen können, einfach, weil sie reich geerbt haben, die Aufmerksamkeit leihen soll! Und natürlich lechzen wir alle nach Leidenschaften, damit das Leben Farben bekommt und wir Erregung spüren. Was die Teilchenforschung außer konkreter Poesie in diesem Stück zuliefert, ist auch nicht klar auszumachen. Vielleicht ist die dieses Projekt fördernde, eigentlich unabhängige Ernst von Siemens-Musikstiftung, sanft von ihrem Geldgeber, der Siemens AG, aufmerksam gemacht worden, einen Stupser zu geben. Denn Siemens hängt im CERN mit drin. Aber es hat auch mit der Musik aus dem Graben zu tun. Im ersten Teil geht sie über weiter Strecken völlig losgelöst von der Gesangsebene auf der Bühne ab. Natürlich freuen wir uns, wenn in einer Oper die E-Gitarre jault! Aber wenn es dann kaum Interaktion zwischen dem Graben und oben auf der Bühne gibt, oder etwas, das Konsequenzen auslöst auch in seiner Konsequenz zu spüren ist, verliert sich der Faden. Der Abend lebt von den Überraschungen, dem exzellenten Spiel und Gesang auf der Bühne, den Regieeinfällen in einem grandiosen Bühnenbild, in das immer wieder bildgebende Aufnahmen des Hirns hinein projiziert werden. Dirigent Titus Engel ist es natürlich zu verdanken, dass das Disparate musikalisch zusammen bleibt und geführt ist. Engel hat sich als Neuer-Musik-Dirigent inzwischen einen Namen erworben und stand nicht von ungefähr in Basel auch schon für Stockhausen am Pult.

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