Nach 15 Jahren stemmt das Aalto-Theater wieder eine Uraufführung! Und sie ist ein totaler Erfolg: die Oper „Dogville“ von Gordon Kampe in der Regie von David Hermann nach Lars von Triers gleichnamigem Film. Der dänische Filmemacher, der mit „Melancholia“ oder „Der Antichrist“ polarisiert, hat mit „Dogville“ 2003 sogar in einer experimentellen Versuchsanordnung gedreht. Häuser, Räume und Straßen von Dogville sind Spielbrett-ähnlich nur mit Kreidestrichen angedeutet, auf denen die Bewohner der piefigen Kleinstadt auf die Ankunft eines Flüchtlings, Grace, reagieren. (Im Film übrigens grandios dargestellt von Nicole Kidman) Grace wird wiederwillig aufgenommen, dann ausgenutzt, als Sklavin an die Kette gelegt gedemütigt, misshandelt bis sie sich im Finale rächt. Zu diesem Brechtischen Drama hat Gordon Kampe eine dichte und von Schlagzeugeffekten energetisch aufgeladene Musik geschrieben. (Von Sabine Weber)
(11. März 2023, Aalto-Theater Essen) Was für ein Gespür der damalige Intendant Hein Mulders hatte, als er den Komponisten Gordon Kampe anfragte, ob er sich nicht vorstellen könne, nach Lars von Triers Film eine Oper zu entwickeln. Kampe sagt sofort zu. Denn der Film, von dem von Trier selbst vorhersagte, es sei eigentlich kein Film, wird sofort vom Schauspiel angeeignet. Jetzt – 20 Jahre später – die erste Oper fürs Aalto! Mit dem Regieteam entwickelt Kampe noch bevor die erste Note komponiert ist das Szenarium, kürzt im Team das Film-Skript – alle Dialoge originales Englisch – von drei Stunden auf konzise 100 Minuten ein. Joe Schramms Bühne ist einfach genial. Schramm übersetzt die Versuchsanordnung in eine Bühnen-taugliche Durchgangsräumlichkeit in Schieflage. Am Ende ist sie drei Meter hoch!
„Die Welt sei gut“ ist die Prämisse
Grace, omnipräsent, durchschreitet alptraumartig einen Raum nach dem anderen von links nach rechts mit immer größer werdender Fallhöhe. Bis im Finale ein Mafiaboss im Oldtimer von oben rechts anrollt und Grace befreit. Der Mafiaboss ist ihr Vater, vor dem Grace fliehen wollte, um nicht so zu werden wie er. „Die Welt sei gut“ war ihre Prämisse. Das Ergebnis ihres persönlichen Experiments in Dogville wird mit ihrem Vater im Auto als gescheitert besprochen. Er reicht ihr eine Waffe, mit der sie als erstes Tom abknallt. Dem hat sie eigentlich ihre Liebe gestanden, bis die Dorfbewohner ihn vor die Wahl stellen „wir oder sie“. Er entscheidet sich, sie für eine Prämie an die Mafiosi zu verraten. Ganz zu Anfang ist der Oldtimer bereits auf leerer Bühne aufgelaufen, da wurde bereits nach Grace gesucht. Im Finale fährt das Auto die Schräge runter, die Wände fallen krachend ein, während von hinten Feuerlohen hochsteigen. Ein fulminant umgesetzter Showdown mit Pyro-Effekt, ein gelungener Theatercoup!
Was sich abspielt ist realistisch und bleibt doch eine Parabel
Was sich zwischen den Dorfbewohnern, darunter eine verbitterte Mutter (Marie-Helen Joël), ihr grober Mann (Heiko Trinsinger) und drei Kinder, von denen einer mitsingt (Knabensopran Lenn Peris Beier), eine Verhärmte, die heilig ihre Hände faltet, aber widerlich intrigiert (Almuth Herbst) oder eine Schickse im rosa Kostümchen (Christina Clark) abspielt ist realistisch, wird aber nicht auf heute heruntergebrochen, sondern bleibt eine Parabel. Die menschlichen Abgründe wirken dadurch vielleicht noch eindrücklicher. Man denkt an den Guten Menschen von Sezuan. Wie eine Heilige – ganz in Weiß – kommt Grace auch ins Bild, während die meisten Bewohner wie in einer US-amerikanischen Kleinstadt zu vermuten, in Jeansklamotten stecken oder in altbackenen Röcken. (Kostüme Tabea Braun)
Eine ausgeklügelte Personenregie
Trotz oder gerade wegen der Kürzungen sind die Konfrontationen in der ausgeklügelten Personenregie von David Hermann klar, deutlich und folgenschwer. Ein Vergewaltiger schämt sich sogar (Rainer Maria Röhr). Die von den Männern Missbrauchte wird von den Frauen final sogar beschuldigt, die Männer verführt zu haben. Details aus dem Film werden da erinnert. Grace will fliehen und wird von den Bewohnern – wie im Film – an die Kette gelegt.
Farbig, mit Glockenklang und singenden Sägen untermalte Dauerspannung
Lavinia Dames, aus dem Düsseldorfer Ensemble ausgeliehen, spielt ihre Opferrolle mit unendlicher Geduld absolut überzeugend und schraubt ihre klare Sopranstimme auch in Melismen hoch. Tom, Bariton Tobias Greenhalgh und wie Trinsinger, Joël, Clark und Röhr aus dem Ensemble, ist ihr stimmlich absolut überzeugender Partner. Das insgesamt aus 12 Personen bestehende Ensemble ist mehrmals chorisch im Einsatz. Die dichte Musik aus dem Graben liefert zu jedem Moment eine farbige, mit Glockenklang und singenden Sägen unterstützte Dauerspannung. Trotz Oboensoli, Grummeln, Donnerblech und gewaltiger Blechsignale, tiefgurrendem Kontrafagott oder Kontrabässen und Tamtamgewitter für die finalen Schüsse fehlt es vielleicht ein bisschen am durchgestalteten Bogen zum Finale hin. Die Intermezzi zwischen den 18 Szenen sind wohltuend. Ein herausfallender Moment ist ein elegisches Lamento nach der ersten Vergewaltigung. Über schreitende Bässe ziehen die Violinen lang gedehnte Trauer…
Dieses Musiktheater hätte alle Chancen im Repertoire anzukommen!
Die Essener Philharmoniker agieren zuverlässig und liefern die Sounds unter Tomáš Netopil, der seine 10. Spielzeit als GMD im Aalto absolviert. Und das mit einem grandiosen Erfolg an diesem Abend, wobei als erstes die Bühnenarbeiter im Schlussapplaus gefeiert werden. Immerhin haben sie den fast 60 Meter langen Bühnenwagen ohne Zwischenfälle von rechts nach links bewegt! Der Souffleur wird ebenfalls an seinen Händen aus dem Kasten gezogen. Mit den Solisten, dem Regieteam und dem Komponisten vorne will das Tosen des Publikums kein Ende nehmen. Neben mir sitzt die halbe Kompositionsklasse von Kampe, extra aus Hamburg angereist. Der Triumph ihres Professors ist Motivation. Dieses Musiktheater hätte auch alle Chancen, im Repertoire dauerhaft anzukommen!