„Boccanegra“ sorgt für tragische Verdi-Stunden, in Essen mit Prilblumen konterkariert

(Titelbild: Statisterie, Carlos Cardoso (Gabriele Adorno), Daniel Luis de Vicente (Simon Boccanegra, für den in dieser Aufführung Dimitris Tiliakos eingesprungen ist), Jessica Muirhead (Amelia) (v.l.). Foto: Matthias Jung) Ganz klar: Simon Boccanegra ist ein besonderer Verdi! Das sonst eher reservierte Essener Publikum ist in dieser zweiten Aufführung zu recht aus dem Häuschen! Denn Verdi zeichnet die scheiternde politische Mission eines Menschen nach, der verzweifelt um Frieden zwischen rivalisierenden Seemächten ringt, der versucht, einen zerfleischenden Bruderkrieg innerhalb der Stadtmauern mit einer großen Friedensrede zu beenden, seine verschwundene Tochter wiederzufinden, deren Mutter aus einer verfeindeten Familie stammt und daher in den Tod getrieben wurde. Und im Aalto werden drei Stunden lang die Verdi-Register musikalisch großartig gezogen. Die Essener Philharmoniker unter Giuseppe Finzi fluten den Saal mit ausdifferenziert durchleuchtenden Klängen, liefern aber auch neben unheilig donnerndem Blechgetöse himmlische Kirchenmusik, begleiten innigliche Verzweiflungsmomente mit einsamen Klarinetten- oder Oboenkantilenen und beenden ein Liebesduett mit in den Himmel steigender Harfe. Das großartige Ensemble (Muirhead, Amelia; Tiliakos, Boccanegra; Trinsinger, Paolo; und Cardoso, Adorno) werden exzellent begleitet. Essen ist auf dem Weg zur Belcanto-Stadt! (Von Sabine Weber)

Daniel Luis de Vicente, für den Dimtiris Tiliakos eingesprungen ist (Simon Boccanegra), Jessica Muirhead (Amelia). Foto: Matthias Jung

(17. Februar 2023, Aalto-Theater Essen, zweite Aufführung) Dabei ist Dimitris Tiliakos ein Einspringer für den erkrankten Boccanegra Daniel Luis de Vicente. Impeccable wirft er sich mit grauem Pferdeschwanz ins belastende Spiel, das mit seinem Tod endet, als wäre er von Anfang an als der Doge vom Aalto geplant gewesen.

Die Bühne von Klaus Grünberg trägt der Seemacht Genua, Ort der Handlung, Rechnung. Bewegliche Wandelemente erinnern mit gerundten Fenstern an Schiffswände und schieben sich auf der Bühne auf oder zu, zeigen sich im Prolog von der grauen Off-Seite, dann bilden sie die Vorderseiten von Orten und Gängen mit auffallend orangefarbenen Türen. Sobald Paolo mit kräftigem 70er-Jahre-Muster auf Jacke und Adorno mit Prilblumen auf der Schlaghose auftreten, erklärt sich das. „Make love not war“ – Das Hippiewort ist der Regisseurin wohl eingefallen, denn Boccanegra predigt immer wieder Friede und Liebe statt Krieg. Warum dann aber nicht Boccanegra in den Hippiefarben steckt, sondern seine intriganten Widersacher und der stürmische Liebhaber Amelias, Adorno, der zudem immer wieder die Seiten wechselt, erklärt sich nicht. (Kostüme: Silke Willrett). Ein Origami-Kranich kommt dann auch noch ins Spiel. Das alles tangiert Verdis Drama eigentlich nicht, denn überzeitlich zwischenmenschliche Dramen spielen sich hier ab, die in der Personenregie ja auch gut umgesetzt sind. (Regie: Tatjana Gürbaca).

Daniel Luis de Vicente (Simon Boccanegra), Heiko Trinsinger (Paolo Albiani), Andrei Nicoara (Pietro). Foto: Matthias Jung

Heiko Trinsinger aus dem Ensemble ist nicht nur ein intriganter Strippenzieher, erst für, dann gegen Boccanegra. Der Bariton outet sich als perfekter Verdi-Bösewicht, muss sich vor der Pause unter Blechgetöse sogar selbst verfluchen, was seinen Hass auf Boccanegra so richtig anstachelt. Jessica Muirhead, ebenfalls aus dem Ensemble, und einzige Frauenstimme, erfüllt, auch mit ihrer jugendlichen Ausstrahlung, die große Partie der verlorenen und wiedergefundenen Tochter und setzt sich nicht nur mit zwei großen aufklärenden, dennoch sehr atmosphärischen Erzählungen stimmlich rund und kraftvoll in der Höhe in dieser Männerwelt in den Mittelpunkt.
Der Portugiese Carlos Cardoso – einzige Tenorstimme inmitten der Bariton-Bassstimmen – gewinnt mit einer Rache-Arie kraftvoll und klangvoll die Gunst des Publikums, die ganz plötzlich ins Weinen kippt. „Io piango! Gran Dio“, habe Mitleid, gib mir meine Amelia zurück! Adorno glaubt, Boccanegra habe sie entehrt, er weiß noch nicht weiß, dass er ihr Vater ist und missversteht ihre Zärtlichkeiten zu ihm. Auch der Bass-Bariton Alma Svilpa als Fiesco ist ein Gegenspieler Boccanegras, fungiert aber als Ziehvater von Amelia, denn ihm ist sie – aus nicht erklärten Gründen – damals in die Hände gefallen. Er ist der Vater ihrer Mutter.
Die eigentlich verwickelte Geschichte, die Zug um Zug Geheimnisse preisgibt, treibt Verdi mit immer wieder neuen Momenten musikalisch weiter. Der Chor, der für gigantische Krawalle, Umstürze und Siegesfeiern sorgt, ist aus dem Off auch mal ein klagender Kirchenchor. (Choreinstudierung Klaas-Jan de Groot).

Kind-Engel, Carlos Cardoso (Gebriele), Daniel Luis de Vicente (Simon Boccanegra), Jessica Muirhead (Amelia). Foto: Matthias Jung

Alles fügt sich zu einem großen Drama, der Prilblumenschock ist schnell überwunden. Denn großartige Musik, die zuletzt zum Taschentuch greifen lässt, wobei Gürbaca das finale Pathos durch eine Kinds-Engelsfigur aufbricht und das Sterben Boccanegras sogar mit Freudigem in Verbindung bringt!

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