Ist Behinderung hässlich? Wir alle kennen das Starren auf Menschen, die anders sind als wir. In Oscar Wildes Kunstmärchen „Der Geburtstag der Infantin“ wird eine Behinderung, noch schlimmer, zur Belustigung. Und, fatal, der Behinderte, ein Zwerg, weiß nicht, dass er „behindert“ ist. Will sagen, lebt in seiner Blase, wird aber gezwungen, seine Blase zu verlassen und stirbt daran. Alexander Zemlinskys Einakter „Der Zwerg“, 1922 unter Otto Klemperer in Köln uraufgeführt, lädt Facetten dieses Dramas symbolistisch auf. Die Oper Köln erinnert in einer Neuproduktion an die Uraufführung vor 100 Jahren und übernimmt mit Igor Strawinskys „Petruschka“ auch die Stückkombination des Uraufführungsabends, in einer neuen Choreografie von Richard Siegel für sein Ballet of Difference. (Von Sabine Weber)
(19. November 2022, Kölner Oper im Staatenhaus, Saal 2) Auch im Ballett Petruschka geht es im turbulenten Jahrmarktsmilieu um Ausgrenzung und Mord. Trotz oder wegen der tragischen Thematik ist dieser Doppelabend gestern im Saal 2 des Staatenhauses bis auf den letzten Platz ausverkauft! Also ein Publikumserfolg. Die Showgäste saßen nicht nur im Parkett, wie üblich, sondern auch vor und um einen Laufsteg an Varietétischen. Hinten eine Showbiz-Treppe mit Vorhang zur Bühne auf die Bühne, rechts und links daneben das Gürzenich-Orchester mit Gastdirigent Lawrence Renes, der sein Debüt in Köln gibt.
Paul-Georg Dittrich, Regisseur der ersten Hälfte, versucht der Ausgrenzung des Zwergs mit einer Anti-Oberflächlichkeitskampagne gegen Schönheitswahn beizukommen. Er verwandelt die spanische Infantin in eine peroxydblonde Kaugummi-kauende Wohlstandszicke (Katharina Zukowski), ihre Zofe (Claudia Rohrbach) sowie die Hof- und Chordamen sind eine wild-Bonbonbunte Girlyhorde, die mit Riesenlollys, Handys und Luftballons allem hinterherjagen. Allenfalls aufgehalten vom Zeremonienmeister (Christof Seidl als Conchita-Wurst-Verschnitt). Eingeblendet werden Bodykult-Werbefilme bis hin zum Botoxspritzen.
Auf Ballbubbles in der Luft werden per Bodycam Gesichter als Selfies in Momentaufnahmen projiziert. So grell die Geburtstagsparty auch ist, die sich mit der Handlung verbindet, sie geht nicht auf. Denn wer sich Botox spritzt oder sich mit chemischen Nahrungsmitteln aufgepumpt kaputt trainiert, hat sicherlich Persönlichkeitsnöte, aber trifft eine Entscheidung am eigenen Körper. Das ist nicht ganz ein Äquivalent zum Zwerg, dem die Entscheidung darüber, dass ihm menschliche Würde abgesprochen wird, nicht überlassen ist. Er ist ein versklavtes Lustobjekt und wird von anderen missbraucht. Seine Überlebensstrategie der Arglosigkeit in einer poetisch-lyrischen Welt wird schamlos für das kollektive Späßchen zerstört. Allenfalls die Zofe Ghita zweifelt an dem grausamen Spiel an ihm und versucht zu intervenieren, muss aber auf Geheiß die Zerstörung einleiten, die Vorhaltung des Spiegels, die zur Katastrophe des Zwerges wird.
Die Musik legte zu jedem Zeitpunkt die richtigen Fährten, hinein in die Herzensströme, Lieben und Leiden. Dichte narkotisierende Instrumentalmomente sind das, in denen auch die Solovioline rührt. Infantin Katharina Zukowski und Zwerg Burkhard Fritz begeben sich in ein hinreißendes Liebesduett, sie pubertär ihre Anziehung austestend, er bis hin zu seinem Todeskrampf, nachdem er in einem erschütternden Abendmonolog seine Sehnsucht ausgelebt hat. Die junge Zukowski singt fantastisch, der große Tenor Burkhard Fritz, zuletzt hier in Die tote Stadt zu erleben, kämpft in seiner überaus schweren Partie leider punktuell mit einer partiellen Indisponiertheit, die er aber immer wieder routiniert überwindet, wozu er auch einmal zum zufällig rumstehenden Sektglas greift. Der Einsatz eines Ghettoblasters im post-Finale ist sehr sarkastisch. Die inzwischen wie ihre Damen abgetakelte und hässlich gewordene Infantin – sie zeigen ihr wahres Gesicht? – zieht sich per Kopfhörer nochmals die Liebesballade rein, die der Zwerg ihr bei Beginn seines Auftritts gewidmet hat. Sie marschiert auf dem Parkett-Mittelgang hinaus. Widerlich schreitet unbedarfte menschliche Willkür von dannen. Großer Applaus, aber nicht enthusiastisch. Ein einziges Bühlein trifft den Regisseur, der erst herauskommt, als Zuschauer schon in die Pause stürmen.
Den zweiten Teil choreografiert Richard Siegal. Zur Zeit hat er mit seinen Tänzern eine Residenz beim Schauspiel Köln, konnte aber von Intendant Hein Mulders überzeugt werden, für diesen Doppelabend mit der benachbarten Oper zu kooperieren. Siegal choreografiert keine Handlungsballette. Figuren wie Petruschka, weiblich besetzt mit Margarida Isabel de Abreu Neto, und die Ballerina, männlich besetzt mit Spitze-tanzendem Long Zou, der Soldat und auch der Puppenspieler, hier ein Magier, sind irgendwann auszumachen.
Die Choreografie, kongenial auf die energetische Musik Strawinskys gesetzt, bleibt frei. Allenfalls kleinen Anspielungen auf die Handlung, etwas die Gegnerschaft zwischen Petruschka und dem Soldaten, sind in den Wirbelstürmen von Ensembles, Pas de Deux und Soloeinlagen zu erkennen. Die Musik verfliegt geradezu. Großer, fast tumultuarischer Applaus von den Tanzfans für Siegal, die wesentlich für die ausverkaufte Vorstellung gesorgt haben. Siegel – immer mit Mütze – erscheint mit seinem Team auf der Bühne und wird gefeiert. Die fantasievollen Kostüme der Tänzer von Flora Miranda verdienen noch Erwähnung.