Am Aalto: Glucks „Orfeo|Euridice” als Reise in ein eingeschlossenes „Ich“!

Während dieses Wochenende in Berlin „Die Walküre” für Furore sorgt, bleibt Wagners „Tannhäuser” am Aalto-Theater in Essen in der Schublade. Statt dessen arbeitet sich Regisseur Paul-Georg Dittrich für die Essener Saisoneröffnung 20.21 an Christoph Willibald Glucks Reformoper „Orfeo ed Euridice” in der Wiener Fassung aus psychiatrischer Sicht ab. Orfeo|Euridice so der Titel! Denn Orfeo und Euridice stehen als Abspaltungen ein und desselben Ichs auf der Bühne. In zahlreichen Video-Dokus geben Neurologen und Pflegerinnen des Essener Universitätsklinikums und des Alfried-Krupp-Krankenhauses Auskunft, sowie eine Repräsentantin der dortigen Stroke Unit Einblicke in verschiedene Lockdown-Zustände ihrer Patienten. Wo bleibt da die Musik? (Von Sabine Weber)

(26. September 2020, Aalto-Theater in Essen) Dafür sorgen mit flotter Verve, erstaunlich historisch informiert, die Essener Philharmoniker unter Tomáš Netopil! Die frühklassische Besetzung erlaubt es, selbst im Graben den der Stunde geschuldeten Anstandsabstand einzuhalten. Der reduzierte Streicherapparat, je zwei Oboen, Fagotte, Trompeten und ein allerdings kaum hörbares Cembalo außen rechts, spielen beherzt auf. Die Streicher zwar mal ein bisschen unsauber, die Bläser auf den Punkt, finden die Essener Musiker immer den tragisch-emotionalen Tonfall oder rufen höllisch-furios die die vom Chor gesungenen Unterweltsgeister auf den Plan, die vom dritten Rang aus hinter Plexiglas das Aalto-Theater gewaltig von hinten fluten. Dazu vorne in Videoprojektion Unterwasserbilder, die im Rüttenscheider Schwimmzentrum aufgenommen worden sind. Als Mutter einer Schwimmerin ist mir dieses Bad noch bestens von NRW-Meisterschaften in Erinnerung. Für Orfeo|Euridice werden keine Bestzeiten erschwommen, eher besonderen Zeiten ‚ertaucht‘. Zwei Balletttänzer des Essener Ensembles stehen unter Wasser. Sie reißen in den Videoprojektionen von Vincent Stefan die Münder auf, denen Luftblasen entweichen und – der Film wird umgedreht – wieder Luftblasen in den Mund zurück kehren! Bilder, die man von Bill Violas Videoprojektion Five Angels for the millenium im Oberhausener Gasometer in Erinnerung hat. Auch in Essen steht Unterwasser für eine Unterwelt, in der Isolation herrscht, weil die Regeln einer normalen Kommunikation aufgehoben sind. Kein normales Sprechen oder Hören mehr möglich! Bei Schlaganfällen sei das Nichtsprechen-können ein Trauma, der Verlust von Körperteilen bedinge im Patienten eine Art Lockdown-Gefühl.

Bei Gluck hat Eurydike eine Zeit des Erwachens

Bewusstsein, Unterbewusstsein, Wahrheit, Traum, was erlebt ein Mensch, wenn ihm die Teilhabe an der Realität entzogen wird? Das werfe nach wie vor Fragen auf, erklären Weißkittel-Menschen im Frontalbild und greifen mit ihren Worten auf die Metapher von Unter- oder Schattenwelt zurück! Für die Griechen waren die Toten ja Schatten! In der griechischen Mythologie steigt Orpheus in den Hades hinab, um den Schatten seiner verstorbenen Geliebten in die Welt der Lebenden zurück zu bringen. Das misslingt auf tragische Weise, weil die Auflage der Götter darin besteht, auf dem Weg zum Licht keinen direkten Blickkontakt zu erlauben! Also ein verordnetes Lockdown auf dem Weg, um das Lockdown zu überwinden. Bei Gluck hat Eurydike genau in diesem Moment eine Zeit des Erwachens. Und auch in der Essener Orfeo|Euridice-Adaption wird sie wieder Mensch, fühlt lebendig und konfrontiert Orpheus sofort damit, dass er ihr sämtliche Liebesbeweise entzöge und Küsse vorenthielte. Das macht Gluck musikalisch hörbar. Eurydike darf ihre urweibliche Forderung nach Liebesumwerbung sogar in einer der raren klassischen Da-Capo-Arien deutlich machen, die ansonsten in dieser Reformoper als zu schematisch verboten sind.

Besserwisserisch anmutende medizinische Einlassungen sind nervig!

Spätestens in diesem zweiten Orfeo|Euridice-Akt kollidiert die Regie mit der Musik. Der neurologische Deutungsansatz des Mythos entfernt sich von der Musik. Zumal er nochmals metastasiert

Orfeo|Euridice am Aalto-Theater in Essen als psychopthische Innenschau. Orfeo und Euridice sind abgespaltenen Persönlichkeiten ein und desselben Ichs.
Tamara Banješević (Euridice), Bettina Ranch (Orfeo). Foto: Matthias Jung

ist: Orpheus und Eurydike sind abgespaltene Persönlichkeiten ein und desselben Ichs. Daher sind Orpheus und Eurydike in die gleichen Patienten-Kittel im altertümlichen Krankenhaus-bleu gekleidet! Was am Anfang interessante Deutungsmöglichkeiten zulässt, über die Bedeutung von Schatten-Dasein, mehr tot oder lebendig oder ‘Unterwelts’-Erfahrung bei Patienten, das wird jetzt konfus und wirkt sogar kontraproduktiv gegen den Musikablauf. Accompagnati und die große Orfeo|Euridice-Szene wird durch Doku-Kommentare permanent unterbrochen. Sogar nach musikalischen Halbsätzen blenden sich die in Quadrate aufgeteilte Ärzt*innen und Pleger’innen im Bild unbeweglich ein, während ihre Kommentare vom Band laufen. Das wirkt wie besserwisserische medizinische Einlassungen und nervt. Was zu Anfang funktioniert, wird in dieser Konsequenz ad absurdum geführt und korrumpiert – leider auch – die Musik! Dass Netopil und die Essener Philharmoniker das gekonnt mitmachen und trotz Unterbrechungen immer wieder hineinfinden, ist eine enorme Leistung.

Orfeo|Euridice am Aalto-Theater in Essen als psychopthische Innenschau. Orfeo und Euridice sind abgespaltenen Persönlichkeiten ein und desselben Ichs.
Bettina Ranch (Orfeo). Foto: Matthias Jung

Vor allem leistet Bettina Ranch als Orfeo hier Großartiges. Sie hat den Löwenanteil zu singen und zu spielen, tut dies auch in der Rolle des vereinsamten Patienten, immer mit profund und kraftvoll gestaltendem Mezzotimbre.

Tamara Banješević (Euridice). Foto: Matthias Jung

Mit der weiblich kontrastierenden Sopranistin Tamara Banješević als Eurydike ergänzt sich ein großartiges Paar. Christina Clark singt die gekürzte Partie Amors von der Seite aus. Auf der Bühne tanzt ein weißgeschminkter weiblicher Kinderamor als weitere Ich-Abspaltung. Es gibt bei Gluck ja ein Happy End der Liebenden. Letztendlich siegt hier – wie in französischen Tragédies auch in der Wiener Azione teatrale Glucks die personifizierte Allegorie der Liebe! Amor steigt zum Schluss in die Köpfe der Patienten – optisch auch mal dargestellt mit einem Kopf mit Fenster – und rettet das Paar als Deux ex machina. Neurologische Erklärungsmuster hätte es im zweiten Teil nach der Pause also nicht mehr gebraucht. Sicherlich werden sich die Essener Kliniken über diese mediale Präsenz freuen und hoffentlich geschlossen die Aufführungen besuchen. Zur Unterweltthematik gibt es auch noch ein bisschen Zeche-Zollverein-Förderturm als Video-Projektion zu sehen. Lokalpatriotismus schätzt man nicht nur in Essen! Musikalisch ist diese Orfeo|Euridice jedenfalls ein Genuss auf ganzer Linie! Und ein vollgültiges Opernereignis, das vom Premieren-Publikum wohl lang ersehnt mit andauerndem Applaus gewürdigt wurde.

Die nächste Vorstellung ist am 30.09.2020, 19:30 Uhr. Weitere Infos

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


The reCAPTCHA verification period has expired. Please reload the page.