„Stiffelio!“ Oder wie Verdi puritanische Moral scheitern und an der Bibel sich wieder aufrichten lässt!

Zwischen „Luisa Miller“ und „Rigoletto“ entsteht „Stiffelio“. Kurz vor der Premiere greift die Zensur ein. Eine Pfarrersfrau, die fremd geht und zur Scheidung gezwungen wird, das sind doch keine Opernsujets. Dazu jede Menge Bibelzitate, das erregt im katholischen Italien den Verdacht der Blasphemie. Nach zahlreichen für Verdi frustrierenden Umarbeitungen verschwindet „Stiffelio“ von der Bildfläche. Partiturmanuskripte der Urfassung werden 100 Jahre später zufällig aber wieder gefunden. Verdi hatte deren Zerstörung befohlen. 1968 wird der originale „Stiffelio“ im Teatro Regio in Parma unter Peter Maag „uraufgeführt“ und sogar erstmals aufgenommen. Das ist aber noch nicht der Durchbruch. Dass derzeit sich Aufführungen häufen vielleicht schon. Einige sind sogar mit großem Erfolg in die Annalen eingegangen. Parma 2020, vor allem Strasbourg letztes Jahr. Im Dezember diesen Jahres wird „Stiffelio“ am Aachener Theater über die Bühne gehen. In Kooperation mit der Opera national du Rhin hat jetzt „Stiffelio“ aber erst einmal die Saison in Dijon eröffnet. Unter Maestra Debora Waldman in der Regie von Bruno Ravella. Und die Premiere im Auditorium ist geradezu euphorisch gefeiert worden. (Von Sabine Weber)

Das puritanische Abendmahl. Foto: Mirco Magliocca

(20. November 2022, Oper Dijon im Auditorium) Obwohl das ein Verdi ist, wie man ihn noch nicht kennt. Nur Konversation, konzentrierte Auseinandersetzung und permanente Konfrontation. Und doch wieder typischer Verdi, nämlich hochdramatisch.
Francesco Maria Piave, Verdis Erfolgsgarant, hat die Vorlage Le Pasteur, ou l’Évangile et le Foyer von Émile Souvestre in ein Libretto umgearbeitet und Verdi inspiriert, aufeinander folgende Ensembles sozusagen atemlos zu entwickeln. Immer wieder laden Bibelzitate die Stimmung auf. Von Gottes alttestamentlichem Zorn und vernichtenden Strafen ist die Rede, weswegen zerknirscht um Vergebung gebettelt wird. Es geht nur um Moral in dieser strenggläubigen puritanischen Gemeinde. In Dijon finden die Begegnungen in einem nüchternen Bretterhaus mit zwei Türen unter ausgeschnittenem Kreuz statt. In diesem klaustrophobisch engen Kirchen- und/oder Wohnraum geht es Schlag auf Schlag zur Sache. In sinnenfeindlich schwarz-weißer Kleidung. Farben sind für die Bühnen- und Kostümbildnerin Hannah Clark in diesem Milieu tabu. Und dennoch wird die Sünde Wirklichkeit: Raffaele hat Lina, die Frau Stiffelios, während dessen Abwesenheit verführt. Damit setzt die Handlung ein.

Zu was der Mensch fähig ist, der außer Kontrolle gerät
Stefano Secco (Stiffelio), Erika Beretti (Lina). Foto: Mirco Magliocca

Lina plagen schlimmste Gewissensbisse. Stiffelio kehrt zurück und der Druck nimmt zu, während das Geheimnis unaufhaltsam – mittels Briefen und Vermutungen von verschiedenen Seiten – ans Licht drängt. Zum Schluss begreift es auch Stiffelio, den Stefano Secco, ein mit großem Atem Kraft-strotzender Heldentenor mit großer Leidenschaft spielt und der Mitspieler und Handlung mitreißt. Der charismatische Prediger ist nämlich ein unverbesserlicher Idealist, will an das Gute im Menschen glauben. Auch an die Treue seiner Frau. Bis er zum Messer greift und an sich selbst erfährt, zu was der Mensch fähig ist, wenn er oder sie aus der Kontrolle gerät. Wie Verdi die Verwandlung vom Friedfertigen zum eifersüchtig Hassenden in einer konsequenter Steigerung vollzieht, kommt einem Krimi gleich. Eine nächtliche Friedhofsszene unter Blitz und Donner gehört auch dazu.

Erika Beretti (Lina) links im Schatten, Önay Köse (Jorg) im Türrahmen, Stefano Secco (Stiffelio) davor, rechts kniend Raffale Abete (Verführer) und Dario Solari (Linas Vater). Foto: Mirco Magliocca
Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster den Stein!“

Lina stimmt gegen ihren Willen der Scheidung zu, damit ihr Stiffelio – nicht als Ehemann aber als Kirchenmann – endlich zuhört. Sie beichtet ihm und gesteht ihm zugleich, dass sie ihn immer geliebt habe. Erika Beretti, erst mit zitterndem Vibrato, dann stimmlich befreiter und in ihrer Partie mit immenser Tessitura voll und dennoch gefühlvoll. Selbst gegen den Vater musste sich Lina durchsetzen, der sie wegen der Familienehre bedrängt zu schweigen (Dario Solari mit voluminösem Bariton gerät auch außer emotionaler Kontrolle in seinem großen sängerischen Höhepunkt am Beginn des 3. Akts). Die Gemeinde (Chœur de l’Opéra de Dijon) pfercht sich fürs Finale zum Gottesdienst in den viel zu engen Kirchenraum. Die Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin aus dem Neuen Testament fährt Prediger Stiffelio durch den Geist. Wie vom göttlichen Blitz getroffen predigt er entgegen dem Willen der Gemeinde Verzeihung.  Die will Lina viel lieber bestrafen und ausgrenzen. Stiffelio durchbricht das Muster.

Verdi hat für diese musikalisch ungewöhnliche Kirchenszene sogar eine Orgel gefordert und einen Chorchoral komponiert. Selbst der furchterregende Prediger Jorg (Önay Köse mit schwarzem Bass und hochgeschlossenem Pastorenkragen), Moralfels der Gemeinde, gibt  unter diesen heiligen Klängen nach. Endlich mal ein musikalischer Verzeihungs-Taumel und kein Kriegsgerassel im Finale.

Bruno Ravellas auf pure zwischenmenschliche Konfrontation konzentrierte Personenregie, die lediglich von der Lichtregie gut unterstützt wird, scheint genau auf diesen Enfesselungsmoment hin berechnet. Endlich Puritaner außer Rand und Band, die wie Menschen glücklich sind! Die Festtafel im zweiten Akt, die sich in eine tragische Abendmahlszene verwandelte, kippte noch ins Gegenteil, war aber auch ein toller Bildmoment. Endlich ist diese Passion überwunden. Selbst die starre Bretterkirche kommt in Bewegung, fährt nach hinten und steht plötzlich in sintflutlichem Wasser, in das Stiffelio und Lina steigen um den Zorn Gottes in menschlichen Jubel zu verwandeln. Alle spritzen mit dem Wasser und entfesseln ein großartiges Tropfenfeuerwerk der Vergebung. Das zuvor in die Sessel gedrückte Publikum springt wie befreit auf und jubelt mit!

Das Orchester Dijon Bourgogne unter Waldman spielt inspiriert!
Debora Waldman vor dem Orchchestre Dijon Bourgogne. Foto: Mirco Magliocca

Bleibt anzumerken, dass das Orchester von Dijon Bourgogne unter der Leitung von Debora Waldman die zweieinhalb Stunden großartig und inspiriert gespielt hat. Das Englischhorn oder ein Streichquartett, das Lina zum Grab der Mutter begleitet, die sie um Beistand bittet, liefern besondere Momente. Dazu ein immer wieder prominenter Trompetenklang, der das Tor zum Himmel schon in der Ouvertüre mit einer Melodie wie zu Fellinis La strada versucht aufzustoßen. Und dann die Orgel im Finale. Die Sänger in ihren teilweise äußerst schwierigen Partien haben ausnahmslos erstklassig gesungen. In Dijon ist also einmal mehr dieser staunenswerte Verdi auf höchstem Niveua zu entdecken gewesen. Und das Unbekannte hat gelockt. Das Auditorium ist fast ausverkauft. Heißt, gut 1200 Menschen haben die absolut gelungene Saisonpremiere verfolgt. Sowohl die Programmierung als auch die Umsetzung sind ein Paukenschlag am Beginn der Saison.

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