Tri Sestry – Eötvös’ Oper erfährt kongeniale Interpretation in Hagen

(Titelbild: Die „drei Schwestern“ Irina, Dorothea Brandt, Mascha, Maria Markina, und Olga, Lucie Ceralová. Foto: Leszek Januszewski) Als Spiegel des Lebens der meisten Menschen wollte Tschechow seine „Drei Schwestern“, die 1901 im Moskauer Künstler-Theater uraufgeführt wurden, verstanden wissen – und war entsetzt, als ihm ein Zuschauer sagte, das Stück habe ihn zu Tränen gerührt. Heute wird das Werk meist im Hinblick auf das Tragische interpretiert, dabei das in ihm enthaltene Komödiantische übersehen. Wie gut, dass Péter Eötvös in seinem gemeinsam mit Claus H. Henneberg verfassten Libretto für seine Oper nach Tschechows Werk das Komische nicht ausgeblendet hat – und EötvösOper in der Hagener Inszenierung von Friederike Blum eine kongeniale Interpretation erlebt! (Von Jukka Höhe)

(30. April 2023, Theater Hagen) „Klaustrophobisch!“, flüstert es neben mir, als sich der Vorhang hebt. Das Publikum blickt auf ein kahles Podium, das hinten vom schwarz gekleideten Sinfonieorchester eingenommen wird. Raumhohe Spiegelsegmente bilden die Rückwand des (von Tassilo Tesche entworfenen) Bühnenbildes – und statt den Raum zu erweitern, beengen und zwängen die Spiegelbilder ihn ein. Davor stehen schwarze Wartezimmer-Stapelstühle, eine große weiße Spitzentischdecke liegt zusammengeknüllt auf dem kleinen verbleibenden Raum. Die drei Schwestern Irina (Dorothea Brandt), Mascha (Maria Markina) und Olga (Lucie Ceralová), die gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej (Kenneth Mattice) und dessen Frau Natascha (Vera Ivanovic) das Haus der verstorbenen Eltern in einer russischen Provinzstadt bewohnen, entfalten die Decke und beginnen ihr Lamento über ihr leeres, enttäuschendes Leben fernab der Traumstadt Moskau.

In drei Sequenzen entfaltet sich dramaturgisch dreimal die gleiche Handlung – Péter Eötvös setzt Tschechows Vorlage nicht linear um, sondern zeigt sie in seiner Umarbeitung als Zyklus: aus den jeweiligen Blickwinkeln von dreien der vier Geschwister.

Diesen multiperspektivischen Ansatz setzt Eötvös mit aufwendigen musikalischen Mitteln – zwei Orchestern – um: das auf der Bühne befindliche Philharmonische Orchester Hagen (Co-Dirigent: Taepyeong Kwak) sorgt für den Umgebungsklang (so etwa für das die Stadt bedrohende Groß-Feuer). Einzelne Orchesterstimmen und starke Perkussionisten des im Graben sitzenden Ensembles Musikfabrik (Leitung: Joseph Trafton) charakterisieren die individuellen Rollen.

Zunächst steht in der ersten Sequenz die jüngste der drei Schwestern, Irina, im Mittelpunkt. Olga (sehr päsent: Lucie Ceralová) rät Irina zu heiraten. Zwei Bewerbern um ihre Hand, Baron Tusenbach (souverän gespielt und gesungen von Dmitri Vargin) und der unheimliche Soldat Soljony (beeindruckend der junge Valentin Ruckebier aus dem Düsseldorfer Opernstudio), interessieren sie eigentlich nicht. Sie wählt den arrivierten Baron, der kurz darauf von Soljony im Duell getötet wird. Dorothea Brandts zarter lyrischer Sopran lässt Irinas darauf folgende Lebensbilanz zur ergreifenden, Mitleid erregenden Klage werden.

Kurz vor dem Duell verabschiedet sich Tusenbach (Dmitri Vargin) von Irina (Dorothea Brandt). Foto: Leszek Januszewski

Dann wird wieder alles auf Anfang gestellt: der hoffnungsvolle Andrej hat nach seiner Hochzeit mit Natascha resigniert. Sie betrügt ihn mit seinem Vorgesetzten – was er als einziger in der ganzen Stadt nicht bemerkt – und hat sich zur egoistischen Haustyrannin entwickelt. Kenneth Mattice als melancholischer Schwächling und Vera Ivanovic als schrill-aggressive Xanthippe überzeugen auch schauspielerisch. Am Ende zieht Andrej Bilanz, die wie bei Irina zur Klage wird…

Alle drei Sequenzen wirken wie vergebliche Versuche, aus einem Labyrinth zu entkommen. Keinem gelingt es, einen Weg nach draußen in das ‚wirkliche‘ Leben zu finden. So auch in der abschließenden Sequenz von Mascha. Wershinin (mit großer Präsenz von Insu Hwang verkörpert), ein früherer Bekannter der Familie, kommt als neuer Kommandant in die Stadt. Mascha (anrührend: die Russin Maria Markina), angeödet von ihrem biederen Ehemann (Dong-Won Seo spielt ihn herrlich komisch!), und Wershinin beginnen eine Affäre, die jedoch beendet wird, als das Regiment wieder abzieht. Zurück bleibt Leere…

Das großartige Ensemble: Kenneth Mattice, Dmitri Vargin, Lucie Ceralová, Robin Grunwald, Valentin Ruckebier, Maria Markina, Insu Hwang, Dong-Won Seo, Dorothea Brandt, Anton Kuzenok. Foto: Jörg Landsberg

Es ist das große Verdienst der Inszenierung von Friederike Blum, diese Handlung nicht in eine deprimierende Tragödie zu verwandeln. Ihr Blick auf kleine Details, die gerade auch die Nebenrollen mit Leben erfüllen, verhindert eine solch einseitige Sichtweise: da wird aus dem wiederholten Umrühren der Tassen während der Teegesellschaft ein kleines komödiantisches Kabinettstück. Anton Kuzenok kann als unfähiger, stets betrunkener Doktor Komik entfalten, indem er wiederholt das Erbstück der Mutter – eine Uhr – zerstört. Und auch Dong-Won Seos biederer Ehemann ist nicht einfach langweilig, sondern in seiner unschuldigen Selbstgefälligkeit geradezu sympathisch.

Gesanglich und schauspielerisch sowie orchestral wird in Hagen ein ausgezeichnetes Niveau geboten. Sowohl die festen Mitglieder des Hauses als auch die gut ausgesuchten Gast-Sängerinnen und -Sänger sowie das Ensemble Musikfabrik zeigen in dieser aufwendigen, NRW-Kulturministerium und der der Kunststiftung NRW geförderten Opernproduktion Höchstleistungen. Dem Hagener Theater gelingt ein Höhepunkt der Saison!

Letzte Aufführung am 20. Mai um 19:30 Uhr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Der Zeitraum für die reCAPTCHA-Überprüfung ist abgelaufen. Bitte laden Sie die Seite neu.