Johanna Doderers „Schuberts Reise nach Atzenbrugg“ am Münchner Gärtnerplatztheater – als Stream und live vor Ort!

Eine Handvoll Journalisten durften – neben etlichen Mitarbeitern des Hauses – mit Sondergenehmigung des bayerischen Kunstministers negativ getestet die „Streaming-Vorpremiere in kammermusikalischer Fassung“ von Johanna Doderers neuer Oper vor Ort im Gärtnerplatztheater verfolgen. Was für ein Erlebnis, nach exakt einem halben Jahr ohne Möglichkeit, Oper oder Konzert in einem Opernhaus oder einem Konzertsaal zu verfolgen, hier zu sitzen. Nicht nur mit Kopfhörern vor dem gerade mal 30 x 52,5 cm großem PC-Bildschirm, sondern in einem schönen, großen Raum zusammen mit anderen, wenn auch wenigen Menschen, mit reichlich Abstand zu einander gemeinsam Oper erleben! (Von Klaus Kalchschmid)

(30. April 2021, Theater am Gärtnerplatz, München) Alle feine, zartblaue Biedermeier-Kleidung, auch Schuhe, Unterhemd und Perücke Franz Schuberts alias Daniel Prohaska sind weg, da setzt das traumhafte, überirdische E-Dur-Adagio aus dem späten Streichquintett ein. Dazu schweben Notenblätter aus dem Schnürboden, die so leicht sind, dass sie Schubert, nachdem er sie aufgehoben hat, schon einzeln wieder aus der Hand gleiten, während er langsam nach hinten im Dunkel verschwindet.

Im Jahr 1827

Seit 1820 reiste allsommerlich eine bunte Gesellschaft um Franz Schubert in den kleinen 60 km westlich von Wien gelegenen Ort Atzenbrugg mit Kloster und Schloss und feierte dort ausgelassen Feste mit Musik, Tanz, Wein und gutem Essen. Librettist Peter Turrini listet im gedruckten Libretto Frauen und Freunde, allesamt mehr oder minder historische Figuren wie die Kunstpfeiferin Louise Lautner (1804-1844), eine Cellistin, die „die rote Cora“ genannt wird, oder eine Fleischermeisterstochter namens Dorothea Tumpel minutiös auf – mit Lebensdaten und ihrem aktuellen Alter im Jahr 1827, in dem sein Stück spielt.

Schuberts Frauen …

Mária Celeng. Foto: Christian POGO Zach

Leopold Kupelwieser, im Freundeskreis nur Kupel genannt, wird in der Oper – wie im realen Leben – als Freund zum wichtigsten Protagonisten neben dem Komponisten, prägnant dargestellt von Mathias Hausmann. Erfolglos versucht er dem gehemmten Freund immer wieder zu helfen, der angebeteten Josepha von Weisborn seine Liebe zu gestehen, angeblich zum Zeitpunkt der Reise 20 Jahre alt, aber wohl keine historische Figur. Zauberhaft gesungen und gespielt von Mária Celeng, ist sie vielmehr Inbegriff und Symbol aller unerreichten Frauen, oftmals Schülerinnen, im Leben des Komponisten – von der Jugendfreundin Therese Grob über die Schwestern Fröhlich bis hin zu Caroline Esterházy. Tragisch, dass Schuberts erste – und mutmaßlich einzige – erotische Begegnung mit einer Frau ihm wohl die Syphilis einbrachte. Die seinerzeit unheilbare Krankheit ist in der Oper zentral, leidet doch Schubert an den Folgen der bis weit ins 19. Jahrhundert üblichen Behandlung mit Salben, die Quecksilber enthielten, wodurch die Patienten freilich zunehmend vergiftet wurden.

Die Noten fliegen davon…

Daniel Prohaska. Foto: Christian POGO Zach

Vernebelt erscheint Schubert sein Geist, nichts behält er mehr im Gedächtnis, selbst die Noten fliegen davon. So kauert er schon zu Beginn der Oper an der Rampe und sucht verzweifelt nach den richtigen Tönen, während Zitate seiner Musik dissonant in Fetzen gerissen werden. Später sagt er, dass Beethoven schon deshalb besser komponiere, weil der noch alle Noten im Kopf habe und ja nie „die Dämpfe hätt‘ einatmen müssen.“ Wie Daniel Prohaska das Gehemmte, Verdruckste, das innerlich Leidende des Komponisten spielt und singt, wie beim ihm die Ohnmacht, sich mit Worten ausdrücken zu können, dazu führt, dass er selbige geradezu herauspresst, das tut beim Zuschauen und -hören fast körperlich weh. Und es ist kaum ein Trost, wenn sich Schubert auf dem großen Leiterwagen, der die Ausflugsgesellschaft durch die Lande fährt, ans Klavier setzt und spielt, übrigens von einem Kutscher gelenkt, der aussieht wie der leibhaftige schwarze Tod aus einschlägigen Stummfilmen.

Der Rest der Gesellschaft

Ganz anders der Rest der Ausflugsgesellschaft, allesamt kostümiert wie aus dem Biedermeier-Bilderbuch in den schönsten Variationen von Blau (Bühne und Kostüme: Rainer Sinell): etwa „der schöne Franz“ (Alexandros Tsilogiannis), der schon früh mit Josepha flirtet und sich mit Schuberts Angehimmelter verlobt, noch bevor dieser ein Wort herausgebracht hat. Oder Louise Lautner, Kunstpfeiferin, genannt die „Amsel“, und ihr Käfig mit einem beweglichen Vogel aus Metall. Ihr schenkt Adreja Zidaric wunderbar zwitschernde Koloraturen. Famos auch die Schauspielerin Florine Schnitzel als Wurstmacherin, die für das leibliche Wohl sorgt, dafür aber als Dienstmagd verunglimpft wird. Nepomuk Feder nennt sich der Mitarbeiter einer Musikalienhandlung, bei Bariton Daniel Gutmann ein ausgelassener tanzender Sonnyboy, von dem man nicht glauben kann, dass er ein Spitzel der Regierung Metternichs sein könnte. Der immer noch junge Bassbariton Timos Sirlantzis muss als seinerzeit 59-jähriger legendärer Sänger Johann Michael Vogl, der Schuberts Lieder bekannt machte, von der Maske älter geschminkt und ergraut auftreten, singt das originale „Ich such‘ im Schnee vergebens nach ihrer Tritte Spur“ allerdings aus dem Stand geradezu kongenial.

Komponistin Johann von Doderer agiert geschickt auf drei Ebenen

Dass dann in der Inszenierung von Intendant Josef E. Köpplinger verdreckte, abgerissene Kriegskrüppel mit blutigen Verbänden auf Krücken humpelnd die Party-Jugend von 1827 bedrängen, dazu in Tagträumen eine fratzenhaft verfremdete Schüler-Schar (der Kinderchor des Gärtnerplatztheaters) und Schuberts Vater (Holger Ohlmann) als ominöse Lehrer-Karikatur auftreten, ist des Guten allerdings zuviel, aber was soll’s!

Daniel Prohaska und Johanna Doderer im Schuberthäuschen, in das sich der Komponist in Atzenbrugg zurückzog. Foto: Franz Gleiß

Johanna Doderer, die für das Gärtnerplatztheater 2016 schon Ferenc Molnárs berühmtes Volksstück „Liliom“ vertonte, agiert zumeist geschickt auf drei verschiedenen Ebenen: die erste ist ihre eigene Musik, immer tonal und melodiös, mit rhythmischen Pattern und auf Höhepunkte zielend und oft den gesprochenen Text raffiniert untermalend; die zweite eine oftmals gelungene Anverwandlung des Schubert‘schen Stils, so in der Begleitung eines großen Monologs des Komponisten. Und dann gibt es da die echten Zitate, etwa die „Atzenbrugger Tänze“, die Wanderer-Fantasie oder eben „Erstarrung“ aus der „Winterreise“. Bemerkenswert, dass die Übergänge zwischen diesen drei Ebenen geschickt komponiert sind und dass die corona-bedingt nötige kammermusikalische Fassung an keiner Stelle als Notlösung hörbar wurde.

Bis zum 7. Mai 2021 (23 Uhr) ist der Mitschnitt kostenfrei verfügbar als Video on demand.

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