„La Bohème“ ist mehr noch als „Hänsel und Gretel“ die perfekte Oper für die Advents- und Weihnachtszeit. Das zweite Bild spielt an Heilig Abend im Pariser Quartier Latin und in der Szenenanweisung für das dritte Bild heißt es: „Überall liegt Schnee“. Der fällt natürlich auch in der seit 1968 liebevoll gepflegten Inszenierung an der Bayerischen Staatsoper von Otto Schenk in der malerischen Ausstattung von Rudolf Heinrich. Seit mehr als einem halben Jahrhundert verzaubert sie Jung und Alt. Als 13-Jähriger erlebte man diese „Bohème“ 1975 zum ersten Mal. Später durfte man dabei sein, als Carlos Kleiber einen Abend mit Luciano Pavarotti und Mirella Freni dirigierte, zuletzt konnte man 2009 Anna Netrebko und Joseph Calleja im Münchner Nationaltheater als Mimì und Rodolfo hören. (Von Klaus Kalchschmid)
Nun traten fast durchweg junge Sängerinnen und Sänger auf, die freilich alle bereits zwischen Wien und Mailand, Salzburg und Berlin auf der Bühne stehen – und garantierten eine Sternstunde. Der eigentlich wieder vorgesehene Joseph Calleja als Dichter Rodolfo war erkrankt und so teilten sich der 35-jährige Jonathan Tetelman und Giovanni Sala, gerade mal 31 Jahre alt, die fünf Vorstellungen. Am 14. Dezember sollte Tetelman ein zweites Mal singen. Er ist der blendend aussehende Shooting Star unter den Tenören und Exklusivkünstler der Deutschen Grammophon, bei der er als Debütalbum eine Puccini-CD vorlegte, die derzeit die Klassik-Charts anführt. Doch auch er wurde krank; so kam man in den Genuss, mit Giovanni Sala einen fast zierlichen jungen Tenor zu erleben, der gleichwohl im Laufe des Abends stimmlich immer mehr Strahlkraft und Schmelz entwickelte. Zudem harmonierte er mit der Stimme von Nicole Car, seiner Mimì, aufs Schönste. Ihr reiches Timbre, das fast an das der jungen Mirella Freni erinnert, mischte sich in den Duetten grandios mit dem schlanken, aber ebenfalls sehr schönen Material Salas. Außerdem spielten beide überzeugend und zutiefst anrührend ihre junge, so gefährdete Liebe.
Aber La Bohème ist trotz schönster Arien, nach denen es immer jede Menge Applaus gibt, eine Ensemble-Oper und das lebenslustigere Paar Marcello, ein Maler, und Musette ist nicht weniger wichtig für das Gelingen einer Vorstellung. Davide Luciano, 2021 und auch im nächsten Jahr Mozarts Don Giovanni bei den Salzburger Festspielen, besitzt einen virilen, klangvollen Bariton und eine enorme Bühnenpräsenz. Mirjam Mesak, seine Musette, war einst Mitglied im Opernstudio der Bayerischen Staatsoper und singt heute im Ensemble. Wie geschmeidig und selbstbewusst sie ihren berühmten Walzer sang und allen Männern den Kopf verdrehte, rundete das Quartett der Hauptpartien. Doch auch die kleineren Partien waren exzellent besetzt, so als Philosoph Colline der junge Bass Alexander Köpeczi. Er hinterließ bereits als Ramfis in der neuen Aida der Bayerischen Staatsoper einen nachhaltigen Eindruck, nun gab er der feinen Arie, in der er sich von seinem Mantel verabschiedet, den er gleich im Pfandhaus veräußern wird, unsentimentale Wärme. Der koreanische Bariton Gihoon Kim debütierte als Schaunard an der Bayerischen Staatsoper und bot ebenfalls eine reife sängerische wie schauspielerische Leistung. In ihrer ärmlichen Mansarde zeigten diese vier jungen Männer trotz Hunger und Kälte die pralle Lebenslust.
Doch was wäre eine Puccini-Oper ohne ein Orchester, das genauso mächtig auftrumpfen und dramatische Höhepunkte gestalten wie kammermusikalisch fein aufspielen und die Sängerinnen und Sänger flexibel begleiten kann. Doch dafür braucht es einen Dirigenten wie Andrea Battistoni, der in den letzten Jahren Aufführungsserien von La Traviata, Nabucco, Norma oder zuletzt Macbeth übernommen hat und nächstes Jahr die musikalische Leitung der Neuproduktion Tosca innehat. Bei der wenige Jahre zuvor entstandenen Bohème bewies er jetzt, was für ein großartiger Puccini-Dirigent er ist. Und das Bayerische Staatsorchester konnte zeigen, dass ihm das italienische Repertoire genauso liegt wie Wagner oder Strauss: Was für ein Farbenreichtum, welche Nuancen in Tongebung und Phrasierung, welche Präzision in jedem Akkord!
So bekam eine ganz normale Repertoire-Vorstellung Festspielglanz. Der strahlte so intensiv, dass er nicht nur den regelmäßigen älteren Besuchern, sondern auch den vielen jungen Leuten im Publikum sicher lange im Gedächtnis bleibt, die, wie man Pausengesprächen entnehmen konnte, teilweise zum ersten Mal ein Opernhaus betreten hatten.