Donizettis „Lucrezia Borgia“ überzeugt am Aalto in Essen mit fantastischen Sängern!

Gateano Donizettis „Lucrezia Borgia“ ist Belcanto vom Feinsten. Sie steht und fällt mit ihren Sängern, schon allein, weil die Handlung nicht wirklich trägt. Wie dieses Melodramma dennoch publikumswirksam funktioniert, war gestern im Aalto -Theater in Essen in einem Sängerfest vom Feinsten zu erleben. Und Ben Baurs Regie hat sich dem wohlweislich untergeordnet. So haben wir das Essener Publikum noch selten erlebt. Begeisterter Applaus nach fast jeder Arie oder Szene. Beim Auftritt von Andrea Sanguinetti im Graben wird im Publikum sogar aufgestanden, um einen zugewandten Blick des Dirigenten zu erhaschen. Und dabei mussten kurz vor der Premiere zentrale Rollen umbesetzt werden, was dem Haus glänzend gelungen ist! (Von Sabine Weber)

(26. November 2022, Aalto-Theater Essen) Derzeit gehäuft Virenerkrankungen jedweder Art! Zwei Jahre Kontaktsperre zeigen auch auf den Bühnen Wirkung. Was für ein Albtraum im Belcanto-Fach, wo es absolute Könner und Spezialisten braucht, die sich auf Fiorituren verstehen, ihre Stimme wohlgeformt ohne Druck koloraturenstark in die Höhe schießen lassen können! Merle Fahrholz, seit dieser Spielzeit Intendantin am Aalto-Theater und der Essener Philharmoniker, gelingt es, im letzten Moment gleich vier ausgefallene Hauptcharaktere zu ersetzen. Italienische Meister*innen des Belcanto-Fachs, die, so Fahrholz, im Sommer genau diese Rollen zusammengeführt haben und die daher bestens miteinander agieren könnten. Die Notlösung erweist sich als grandios.

Großartige Belcanto-Sänger in Essen

Edita Gruberovas legendäre Lucrezia, das war eine ihrer zentralen Rollen, wird sofort vergessen. Marta Torbidoni stellt eine Lucrezia mit kraftvoll glänzender Stimme bei völlig ausgeglichenem Timbre auf die Aalto-Bühne.

Marta Torbidoni (Donna Lucrezia Borgia). Foto: Bettina Stöß

Sie hat dazu Leichtigkeit in der Koloratur und Leidenschaft im Gestischen. In goldenem Brokat, historisch auch das Haargeflecht (Kostümbildnerin Uta Meenen), gibt sich die angebliche Giftmischerin (Borgia-Wein) bei Donzitti mitfühlend, aber auch als stolze Renaissancefürstin. Die Ohrfeige knallt, die sie ihrem eifersüchtigen Gatten Alfonso d’Este verpasst!

Vorlage ist ein Schauer-romantisches Schauspiel Victor Hugos

Viermal wurde die historische Lucrezia von ihrem Papstvater, dem Borgia-Papst Alexander VI., zum Ausbau der kirchenstaatlichen Machtachsen rücksichtslos verschachert. Zu ihrem letzten Gatten, Alfonso d’Este, entwickelt sich sogar nachweislich eine gegenseitige Liebesbeziehung. Alles Historische ist bei Donizetti so gut wie ausgeblendet. Vorlage ist ein Schauer-romantisches Drama von Victor Hugo. Alfonso ist also kein kultivierter Renaissancefürst, sondern testosterongesteuerte Männlichkeit. Auf der Essener Bühne in eine Art grobschlächtigen Hunnenmantel mit kriegerischen Ledermanschetten über nacktem Arm gekleidet, dazu noch mit einem etwas lächerlich wirkenden schulterfreiem Kettenhemdbustier über schlecht sitzender Lederhose. Einspringer Davide Giangregorio zeigt sich modisch unbeeindruckt.

Davide Giangregorio (Don Alfonso), Marta Torbidoni (Donna Lucrezia Borgia), Opernchor. Foto: Bettina Stöß

Er lässt für sein Deutschlanddebüt seine Stimme sprechen, einen kraftvoll sonoren Bass, der Eifersucht in Wut und Morddrohungen klanggewaltig ummünzt. Er reagiert im ersten Akt darauf, dass Lucrezia im Prolog zum Karneval nach Venedig gereist ist, um einen gewissen Gennaro zu treffen, Niemand (bis auf das Publikum!) weiß, dass Gennaro ein Sohn Lucrezias ist. Sie will ihren verlorenen Sohn wiedersehen. Tenor Francesco Castoro verkörpert ihn und ist als Belcanto-Tenor der Torbidoni absolut ebenbürtig, aus dem ursprünglichen Hauptrollencast übrigens der Einzige, der nicht erkrankt ist. Für Gennaros Busenfreund Orsini heißt die Einspringerin Na’am Goldman, die mit schöner Mezzostimme (Ballade zweiter Akt) vor allem optisch perfekt als jugendlicher Draufgänger durchgeht.

Na’ama Goldman (Orsini), Tänzer. Foto: Bettina Stöß
Das Drama von Librettist Felice Romani geht nicht wirklich auf

Die einzelnen in sich geschlossenen Szenen und Akte funktionieren musikalisch perfekt. Und auch die Männerchoreinlagen, Freunde Gennaros, die mit Tänzern ergänzt im Venedigprolog mit Stäben wie mit Gondelrudern rühren, um sie dann als Kampfstäbe zu verwenden. Ein schöner Einfall.
Das Drama von Librettist Felice Romani geht nicht wirklich auf. Vielleicht, weil die vielschichtige Persönlichkeit der Lucrezia Borgia so runter gebrochen ist auf einen Mutter-Sohn-Konflikt. Vielleicht, weil der Plot mit dem Sich-Verlassen-fühlen und dem Zu-Erkennen-geben im allerletzten Sterbemoment zu konstruiert, zu schematisch geplant wirkt.

Marta Torbidoni (Donna Lucrezia Borgia), Francesco Castoro (Gennaro). Foto: Bettina Stöß

Die „Aufdramatisierung“ durch Gennaros Feierfreunde, die ihren Hass auf Lucrezia immer wieder ausspielen oder Alfonsos ausgelebte Eifersucht, der missversteht, warum sich Gennaro und Lucrezia voneinander angezogen fühlen, sind handwerkliche Kniffe. Das Missverständnis selbst spielt übrigens keine Rolle, ebenso wenig die Herkunft Gennaros – wer ist der Vater, welche Geschichte hatte Lucrezia mit ihm?

Regisseur Ben Baur macht das, was Donizetti braucht

Nicht ohne Grund hat Regisseur und Bühnenbildner Ben Baur versucht, ein paar Geheimnisse surrealistisch noch hinein zu bringen. In dem Einheitsraum, der sowohl die Mauer einer altitalienischen Stadt wie auch ein Festsaal ist, lässt er verstorbene Kinder der historischen Lucrezia als Geister erscheinen. Oder den von Victor Hugo völlig faktenfremd in sein Drama hinein inszenierten Mord Gennaros an Lucrezia. Orsini tritt einmal in den Kleidern Lucrezias in Erscheinung. Ob das hilfreiche Rätsel sind? Letztendlich bleibt aber wesentlich, dass Baur genau das gemacht hat, was dieser Donizetti braucht. Die Charaktere lässt er gebettet in die Musik agieren. Beim Belcanto darf auch ein bisschen Rampensingen sein. Andrea Sanguineti unterstützt mit den Essener Philharmonikern die Sänger und ist in jedem Moment bei Ihnen. Das Lucrezia-Konzept am Aalto-Theater geht auf. Der letzte Vorhang fällt im tosenden Applaus und mit stehenden Ovationen. Das sagt alles!

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