Und Klassikfavori hat ihn bereits gesichtet und hingehört. Denn Olga Neuwirth ist gerade für ihr Lebenswerk mit dem Robert-Schumann-Preis geehrt worden. Das enge Verhältnis von Text, Szene und Musik hat Olga Neuwirth seit „Bählamms Fest“ (1998) nach der Satire von Leonora Carrington stets interessiert; oft arbeitete sie dabei mit Elfriede Jelinek zusammen. Erst 15 Jahre nach der Uraufführung im Jahr 2003 konnten die multimedialen Finessen von „Lost Highway – A Video-Opera“ nach dem gleichnamigen Film von David Lynch bei einer Frankfurter Produktion erfüllt werden. Mit ihrer musikalischen Überschreibung und inhaltlichen Neufassung von Alban Bergs Oper als „American Lulu“ (2011) betrat die österreichische Komponistin ebenso Neuland, wie sie mit dem Musiktheater nach Virginia Woolfs „Orlando“ (Wien 2019) alle Register der Literaturvertonung zog. Auch mit ihrer ebenso kühnen wie stilistisch vielfältig geschichteten Musik zu einem Film wie „Die Stadt ohne Juden“, der zugleich Antisemitismus vorführt und sich ihm entgegenstellt, wagt die 51-jährige Komponistin wieder viel und gewinnt noch mehr. (Von Klaus Kalchschmid)
(26. April 2020) Der nach dem gleichnamigen satirischen Roman von Hugo Bettauer (1872-1925) entstandene Film zeigt, was geschieht, wenn ein Staat seine jüdische Bevölkerung zur Emigration zwingt, um die eigene Wirtschaft zu sanieren: eine Rezession auf allen Ebenen. Dass die Rückkehr der Vertriebenen möglich wird, ist der Chuzpe eines jüdischen Künstlers zu verdanken, der inkognito sein Spiel mit den reaktionären Parlamentariern betreibt. Im Booklet der DVD schreibt Komponistin Olga Neuwirth: „Um Klischees zu entgehen, auch wenn ich sie oft andeute, habe ich versucht, eine Lebendigkeit zu bewahren, indem die Musik zugleich anrührend und hart ist, herzenswarm und offen, amüsant und wütend, beteiligt und distanziert, humorvoll und traurig.“
Neuwirth zwingt mit ihrer Musik zu erhöhter Aufmerksamkeit und unwillkürlichen Anteilnahme
So wummern, wimmern und vibrieren weitgespannte, elektronisch verfremdete Klangflächen, als fluteten sie einen riesigen hohen Saal. Sie türmen sich auf oder fallen in sich zusammen und bleiben harmonisch in der Schwebe als wären sie eine opake Wand, vor der das Geschehen umso deutlicher hervortritt. Dabei verlangsamen diese fast stehenden Klänge die heutige Wahrnehmung von jüdischer und christlicher Lebenswelt, Sakralem und Profanem, Arm und Reich. Das zwingt das Publikum zu erhöhter Aufmerksamkeit, zur Reflexion oder unwillkürlichen Anteilnahme.
Auch mit Filmmusik bleibt Olga Neuwirth eine kompromisslose Musikdramatikerin
Denn in die elektronische Sampels mischt sich magisch die Musik jüdischer Rituale, wenn diese den Abschied aus der Synagoge oder gar den Marsch der Vertriebenen begleiten. Wehmütiges Gedenken äußert die Klage einer jiddischen Klarinette oder ein Saxophon. Hier komponiert Neuwirth auch einen fremdartigen Klageton der solistischen tiefen Streicher, bis plötzlich scharfe Trompeten- und Posaunen-Stöße die unhörbaren Worte des Bürgermeisters ätzen, der die Ausweisung aller Juden aus der Stadt verhandelt und beschließt. So trennt die Komponistin semitische und antisemitische Welt scharf voneinander. Die genuine und kompromisslose Musikdramatikerin spürt man nicht zuletzt, wenn sich für einen scheinbar harmlosen Zwischentitel Der Bürgermeister plötzlich Gestus und Klang ändern, um den Text zu akzentuieren und dem Zuschauer ins Bewusstsein zu brennen. (Das Fotoportrait von Olga Neuwirth stammt von Harald Hoffmann)
Das Ensemble intercontemporain sorgt für Exzellenz in Neuwirths Stummfilmmusik
Selten wird Neuwirth konkret, dann aber – fast ironisch – sehr präzise: da hört man förmlich die Massen schreien oder knallt eine Ohrfeige mit einem kurz aufjaulenden chinesischen Gong. Mal scheint für den von Hans Moser gespielten Antisemiten eines seiner Heurigen-Lieder auf, ein kleiner, unbeholfener Tanz charakterisiert Verliebte. (Weitere Bilder bei absolutmedien) Marschmusik gellt herein oder Trinker schunkeln im Bier-Dunst, in London schleicht sich die englische Nationalhymne unter und zwischen die Töne. Wie in ihrem Musiktheater konfrontiert, separiert oder vermischt Neuwirth die unterschiedlichsten Tonfälle und potenziert so mit ihrer vom Ensemble intercontemporain exzellent eingespielten Musik die Ambivalenz , aber auch das prekär Visionäre des bis vor kurzem verschollen geglaubten Films.