Zemlinskys Fin-du-siècle-Oper „Der Traumgörge“ erstmals in Frankreich! Ein Besuch an der Opéra de Dijon!

„Träumen und Spielen“ sind letzte Worte von Görge und Gertraud in „Der Traumgörge“. Der Traumgörge ist ein Träumer. Görge versenkt sich in Bücher und überlässt seine lebenslustige Braut Grete lieber dem bodenständigen Hans, weil ihm im Traum eine Märchenprinzessin begegnet. Er macht sich auf die Suche nach ihr, gerät in einen Dorfmob, der eine Frau als Hexe denunziert und ihr Haus abfackelt. In ihr erkennt Görge seine Märchenprinzessin. „Der Traumgörge“ ist ein Märchen! Daran ändern auch im zweiten Akt die Anspielungen auf eine Revolution gegen Kaiser Napoléon wenig. Sie bringen in Dijon allerdings große Ensembles und eine andere Farbe – Rosenrot und Feuerrot – in die ansonsten zumeist nächtliche traumhafte Stimmung. (Von Sabine Weber)

Der Dorfmob fackelt. Foto: Gilles Abegg

(16. Oktober 2020, Auditorium der Opéra de Dijon) Der Wiener Jugendstil sei die „Kunst der Träumerei entzügelter Nerven“, so Nike Wagner einmal über die Wiener Moderne! Das ist eine ziemlich gute Erklärung für Alexander Zemlinskys Der Traumgörge, 1907 in Wien komponiert. Und erklärt die zentrale Traumszene im ersten Akt und den finalen Tristanesken Liebestod – ohne Tod freilich, dafür Traumentrückung. Im Traumkünstler Görge hat sich Zemlinsky auch selbst gesehen! Vielleicht als ein Künstler, der sich nur in einer Realität verwirklicht, die als verinnerlichter Traum erlebt wird!

Fein verästelte hypnotisierende Klangnuancen in der Partitur

Zwei französische Opernhäuser haben dieses Fin-du-siècle Werk Zemlinskys jetzt nach Frankreich geholt. Die Opéra de Dijon und einen Monat zuvor die Opéra national de Lorraine in Nancy, die das französische Erstaufführungsrecht dieser bemerkenswerten Zusammenarbeit bekommen hat. Für die musikalisch exzellente Produktion zeichnet die in Wien lebende Dirigentin Marta Gardolińska verantwortlich. Bei Jan-Benjamin Homolka ist eine reduzierte Corona-kompatible Fassung bestellt worden. Kein Manko. Denn Gardolińska entlockt vor 40 statt 80 Musikern dieser geschickt arrangierten Partitur bis ins Feinste verästelte hypnotisierende Klangnuancen. Die Regie von Laurent Delvert ist zwar manchmal etwas altbacken. Das bedient aber schemenhaft das Märchenhafte der Figuren. Petra Reinhardt hat sie im Gebrüder-Grimm-Stil  in historisch angenäherter Kleidung des 19. Jahrhunderts ausgestattet.

Ein schwebender Rosenbusch erinnert an Wieland Wagners Fliederbusch aus den Meistersingern

Helena Juntunen, Gertraud, Daniel Brenna, Görge. Foto: Gilles Abegg-Opera de Dijon

Im zweiten Akt schwebt ein Rosenbusch in der Luft, wie einst bei Wieland Wagners legendär abstrahierter Meistersinger-Inszenierung der Fliederbusch. Rosen sind ein Wegsymbol der sich in Liebe zueinander bewegenden Görge und Gertraud.
Im Einheitsbühnenbild von Philippine Ordinaire als Schräge mit wagerechten Podesten für Dorf, Feier und Kneipenszene mit Chor, sind Realität – Dorfbewohner begegnen sich, Revolutionäre formieren sich -, Natur – in einem angedeuteten Kornfeld wuseln Naturgeister -, und Traum – Die Bühne wird durch eine nächtlich einfärbende Lichtregie mit Sternenhimmel getaucht – stets ineinander verwoben. Der Bach mit echt fließendem Wasser ist nicht nur zu sehen, sondern auch zu hören.

Helena Juntunen, Traumgestalt, Daniel Brenna, Görge. Foto: Gilles Abegg – Opera de Dijon

Sein Rauschen ruft Görges Traumerscheinung der Märchenprinzessin hervor – oder ist es die Vision der obsessiven Mutter – hier weiß verschleiert. Denn die viel zu früh verstorbene Mutter beschwört er am Bach zuvor. Solche tiefenpsychologischen Ansätze wären bei Zemlinsky durchaus denkbar. Sigmund Freud entwickelt in Wien durchaus von Künstlern beachtet seine Methoden der Psychoanalyse. Die Regie greift das allerdings nicht auf. Auch keine anderen Deutungsschichten werden versucht. Görge, norddeutsch für Georg, ist und bleibt bis zuletzt der sensitive Grenzgänger zwischen Wirklichkeit und Traum. Und einmal balanciert er auch wie ein Traumtänzer durchs Bild.

Kitischig übersteigerte Klangflächen aber kein Pathos!

Bei seinem Auftritt klingt Mahlers traumverhangenes Ich bin der Welt abhanden gekommen an. Humperdincks Volksliedton mischt sich mit seiner Verlobten Grete ein. Wagnerische Leitmotivik? Vielleicht! Wird aber nie affirmativ verwendet. Motive variieren und wandern atmosphärisch durch die Partitur, beispielsweise das Görge-Motiv. Es gibt zwar ins Kitschige übersteigerte Klangflächen. Aber Zemlinsky meidet Pathos. Seine große Stärke sind pointierte instrumentale Effekte, wie tiefe Klarinetten, besondere Blechbläser-Passagen, die Harfe streicht zauberhaft, die Celesta klingelt und immer wieder setzt sich die Solovioline ab. Die gesamte Musik Zemlinskys stecke in dieser Partitur, hat Antony Beaumont behauptet. Der Musikwissenschaftler und Dirigent ist ein exquisiter Kenner der Zemlinskyischen Partituren und hat die erste umfassende Zemlinsky-Biographie verfasst.

Der Traumgörge verschwindet ohne Uraufführung in der Schublade. Die Uraufführung findet posthum in Nürnberg 1980 statt

Und doch scheint gerade auf diesem Meisterwerk ein Bann zu liegen. Für die Wiener Hofoper komponiert Zemlinsky auf Anregung Gustav Mahlers. Als Hofoperndirektor demissioniert Mahler überraschend. Nachfolger Felix Weingartner lässt den Traumgörge noch während der Proben, die Zemlinsky als Kapellmeister der Hofoper leitet, absetzen. Weingartner sieht in Zemlinsky einen Konkurrenten. Das Werk verschwindet in der Schublade. Musikwissenschaftler entdecken in den 1970ern in Wiener Archiven die fertigen Stimmsätze und weiteres Material zur geplanten Wiener Aufführung. Unter ihnen Wulf Konold, der maßgeblich daran beteiligt ist, dass 1980 in Nürnberg die posthume Uraufführung stattfinden kann. Diese verspätete Uraufführung, die möglicherweise auch die Renaissance von Alexander Zemlinsky mit angestoßen hat, erklärt auch die verspätete Entdeckung in Frankreich. Um so wichtiger, sie jetzt zu feiern.

„Träumen und Spielen“ mit großartiger Sängerbesetzung

Das Ensemble ist hervorragend. Die geringe Textverständlichkeit des deutschen Librettos von Leo Feld wird daher verziehen. Susanna Hurrell ist eine lebenslustige Grete mit keck hellem Sopran, Helena Juntunen leiht Gertraud ihren warm durchflutenden Sopran. Tenor Allen Boxer hat in Dijon schon in Brice Pausets Kafka-Triologie Les châtiments im Zentrum gestanden. In Der Traumgörge ist er als Hans einmal mehr physisch sehr präsent. Damit ist er Görges perfekter Gegenspieler, dem Daniel Brenna seine lyrisch bis Traum-verhangene, aber auch zu dramatischem Ausbruch fähige Tenorstimme leiht. Im finalen Liebesbekenntnis des Nachspiels lässt er die Wirklichkeit hinter sich. Auch hier ist die Personenregie ein bisschen unbeholfen. Die Musik übernimmt im Nachspiel die Regie, mit einer Harfe, die die Violine in höchste Höhen treibt. Die Bühne ist leuchtendes Sehnsuchtsblau und der Schleier vor den Sternen zerrissen. Sie funkeln. Görge und Gertraud sinken sich in die Arme. „Träumen und Spielen“ singen sie in ihrem letzten Duett. Das dürfte in diesen Zeiten eine Aufforderung sein, die wieder ankommt! Für Intendant Laurent Joyeux dürfte es allerdings sein letztes Premierenspiel sein, das er als Opernintendant erlebt. Er wird das Haus im November verlassen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert