Mussorkskys „Boris Godunov“ in Zürich groß besetzt mit überragendem Michael Volle in der Titelpartie

Chor und Orchester werden zwar live aus dem Probensaal in die Zürcher Oper übertragen, aber die Solisten singen und spielen ohne Abstand auf der Bühne. (Siehe dazu auch ein Klassikfavori-Vergleich) So funktioniert in jeder Hinsicht Mussorgskys „Boris“ in Barrie Koskys Inszenierung mit dem großartigen Michael Volle in der Titelpartie. Nicht nur wer die Muppets-Show gesehen hat, muss schmunzeln, wenn der auf der Bühne abwesende Chor dort aus Büchern in verschiedenen Regalen plappert. Sie blättern sich quasi lippensynchron auf und zu, herrlich! Dass das Orchester ebenfalls weitgehend aus exzellenten Lautsprechern im Graben tönt, ist vor allem dann, wenn gesungen wird, kein Problem. Auch nicht in der Balance von Instrumental- und Vokalstimmen. (Von Klaus Kalchschmid)

Nicht nur wer die Muppets-Show gesehen hat, muss schmunzeln, wenn in dieser Boris-Godunov-Inszenierung aus Zürich der auf der Bühne abwesende Chor dort aus Büchern in verschiedenen Regalen plappert. Sie blättern sich quasi lippensynchron auf und zu, herrlich!
Bühnenbild von Rufus Didwiszus. Foto: Monika Rittershaus

(20. Oktober 2020, Oper Zürich) Fragt sich eh, wo der Chor zwischen den hohen, mehrfach verschiebbaren Regalen voller riesiger Bücher, Dokumente und dicker Pakete mit Papier Platz gefunden hätte. Ein smarter, bärtiger junger Mann mit wallender Locken-Mähne und bunter Öko-Strickjacke rennt da ungläubig schauend und hörend herum. Er erschrickt sich immer wieder ob dieses Spuks und muss darauf achten, dass er bei der geisterhaften Bewegung der Regale zu immer neuen Räumen nicht zerdrückt wird. Er ist stets aufmerksamer Beobachter und nur selten Mitspieler.

Spencer Lang (Gottesnarr). Foto: Monika Rittershaus

Erst ganz am Ende beginnt er zu singen: „Der Mond scheint, das Kätzchen weint. Steh auf, du Narr, bete zu Gott, bete zu Christus.“ Der „Gottesnarr“ (ein charismatischer junger Tenor: Spencer Lang) ist also einer von uns und steht staunend beobachtend inmitten des jahrhundertealten Geschehens um Macht, Machtmissbrauch, Wahrheit und Lüge, aber auch um das Schicksal eines Einzelnen, den seine mutmaßliche Schuld in den Wahnsinn treibt.

Michael Volle, ein kerniger Bariton mit Bassfundament!

Michael Volle (Boris im Goldornat), John Daszak (Fürst Schuiski). Foto: Monika Rittershaus
Die letzten Szenen im Züricher Boris Godunov werden von einer riesigen Glocke dominiert, in der einmal kopfüber ein blutüberströmter, nackter Mann hängt
Foto: Monika Ritterhaus

Denn Zar Boris hat mutmaßlich den Mord an einem kleinen Jungen in Auftrag gegeben, der als rechtmäßiger Zarewitsch ihm den Thron streitig gemacht hätte. Mussorgsky zeigt die Skrupel des Usurpators schon in dessen Krönungsszene und der hier nur hörbare erzwungene Jubel des Volks gellt geradezu im Kopf von Boris. Michael Volle zeigt bereits bei seinem Auftritt, dass da ein eigentlich kraftvoller Mann unter der Last seines üppigen, schweren, mit Edelsteinen und Gold besetzten Mantels (Kostüme: Klaus Bruns) fast zusammenbricht. Großartig gelingt dem kernigen Bariton mit sonorem Bassfundament vokal wie darstellerisch die Sterbeszene, nun auf der bis zur Brandmauer leeren Bühne von Rufus Didwiszus. Diese letzten Szenen werden von einer riesigen Glocke dominiert, in der einmal kopfüber ein blutüberströmter, nackter Mannes hängt, dessen muskulösen Leib der Gottesnarr als Schlägel hin- und herbewegt. Anders als in der Kunstaktion von Flatz, der sich an Silvester 1990 in Tiflis äußerst schmerzhaft bis zur Ohnmacht zwischen zwei Metallplatten hin- und her schlagen ließ, bleibt es hier beim gleichwohl verstörenden, vielfach deutbaren bewegten Bild.

Ein vierstündiger Boris Godunow mit zwei Pausen in Zürich

Oksana Volkova (Marina), Johannes Martin Kränzle (Rangoni). Foto: Monika Rittershaus

Schon zum sogenannten „Polenakt“, der wie diese letzte Szene („Waldlichtung bei Kromy“) aus der Fassung von 1872 in die Urfassung von 1869 eingefügt wurde und so einen vierstündigen Abend mit zwei Pausen ergibt, ist die Bühne vermeintlich leer. Doch die weiße Brandmauer ist gebaut, ein riesiges Portal schmutziggelb vorgeblendet, das manchmal goldstrahlend hervorgehoben. Auch das goldprunkende Kleid der machtgeilen Marina, die mittels des „falschen Dmitri“ ganz nach oben will, verschmilzt oft fast mit dem Raum. Tenor Edgaras Montvidas zeichnet auch vokal fasziniert den Weg nach, der den jungen Mönch Grigori zum gefährlichen Emporkömmling und eiskalten Machtpolitiker macht, der sich als erwachsen gewordener Zarewitsch Dmitri ausgibt, der den Mordversuch überlebte. Am Ende besteigt er mit Hilfe des Fürsten Schuiski (ein grandios charaktertenoral blendender Politiker: John Daszak) auch tatsächlich den Thron. Vorher hat er mit allen Mitteln um Marina (Oksana Volkova mit üppig leuchtendem Mezzo) geworben, angestiftet von Rangoni, einem geheimen Jesuit. Ihn verkörpert Johannes Martin Kränzle mit allen Fasern und jedem Zentimeter seiner Stimmbänder herrlich schleimig. Auch Mussorgskys Musik für Marina und Dmitri ist von toxischer Schönheit, doch keineswegs ein Fremdkörper inmitten der sonst so herben, oft düsteren Boris-Partitur. In raffinierter Verfremdung mimen hier einmal grotesk aufgebrezelte Statistinnen sich hektisch Luft zufächelnde Gäste, während der Chor aus den Lautsprechern tönt; unter ihnen auch der halb als Frau verkleidete Gottesnarr!

Barrie Koskys Regie wird im Laufe des Abends immer dichter

Edgaras Montvidas (falsche Dmitri), Mika Mainone, Brindley Sherratt Pimen). Foto: M.Rittershaus

Bis zu diesem Moment nach der ersten Pause haben sich Bücher-Metapher und die permanente Bewegung der Regale endgültig abgenutzt. Sie passte vor allem für die Reflektionen des Geschichtsschreibers Pimen in Gestalt des wunderbar prägnant artikulierenden kantigen Basses Brindley Sherratt. Er beantwortet geduldig die Fragen seines Assistenten Grigori, der sich später mit dem entsprechenden Insider-Wissen versorgt, als Zarewitsch Dmitri ausgibt. Mittels Laptop wollen beide in das bedrohlich aufgetürmte Papier-Gebirge eine Schneise schlagen, um eine Chronik Russlands fertigzustellen. Aber auch eine Schenke muss hier Platz finden und die Bibliothek steht nicht nur in einem Kloster, sondern sogar im Kreml. Dort betreibt Boris mit seinem kleinen Sohn Feodor (der großartige singende und spielende Mika Maione von den Tölzer Knaben) Erdkunde-Unterricht.
Barrie Koskys Regie wird im Laufe des Abends immer dichter und nimmt ab dem Polenakt an Schärfe und Prägnanz zu. Am Ende dienen die Bücher zwar noch zu symbolischen Steinen, über die man über unwegsam schlammiges Gelände balanciert, doch irgendwann entsorgt sie der Gottesnarr zornig allesamt einzeln in der großen Grube unter der Glocke, die auch zum Grab von Boris wird.

Zürich macht möglich, was keiner mehr für möglich hielt, große Oper des 19. Jahrhunderts ohne Abstriche in der Besetzung

Dirigent Kirill Karabits gelingt sein schwierige Aufgabe in der sechsten und vorerst letzten Vorstellung dieser bemerkenswerten Produktion fulminant. Wie er den riesigen Apparat, der an zwei verschiedenen, nur durch Monitore, Lautsprecher und Kopfhörer verbundenen Orten zusammenhält und neben der erstaunlichen Präzision sogar noch Vitalität und Expressivität erzeugt, verdient Hochachtung wie auch die Leistung aller Sänger auf der Bühne oder im anderthalb Kilometer entfernten Probenraum und nicht zuletzt jedem einzelnen Verantwortlichen der Tontechnik-Abteilung der Zürcher Oper. Sie alle haben etwas möglich gemacht, was man in diesen Zeiten schon nicht mehr möglich glaubte: große Oper des 19. Jahrhunderts ohne Abstriche in der Besetzung.

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