Orchestrale Kammer-Fassungen für „Eugen Onegin“, „Cavalleria Rusticana“ und „Wozzeck“ in München und Stuttgart zeigen Chance und Scheitern in Zeiten von Corona

Auf der Bühne kaum eine Berührung, im Orchestergraben des Münchner Gärtnerplatztheaters 24 Musiker, die einen spannenden Röntgenblick auf Tschaikowsky erlauben. Stuttgart: nur ein paar Streicher, die Bläser auf der Hinterbühne, der Chor im Rang: so funktioniert Mascagni nicht. Wozzeck gelingt an der Bayerischen Staatsoper in der halben Besetzung von 50 statt 100 Musikern erstaunlich gut. Wie unterschiedlich die Opernhäuser von München und Stuttgart mit Corona-Beschränkungen auf der Bühne und im Graben umgehen! (Von Klaus Kalchschmid)

Wozzeck. Ensemble und Chor der Bayerischen Staatsoper. Foto: Wilfried Hösl

Eberhard Kloke hat Alban Bergs hochkomplexe Wozzeck-Partitur bereits 2004 für 37 Musiker statt der vorgesehenen knapp 100 eingerichtet. Weil der für die aktuelle Münchener Produktion überbaute und weit ins Parkett gezogene, daher fast doppelt so große Orchester-„Graben“ 50 Musiker bei den gebotenen Abstandsregeln fasst, wird die von Kloke vorgesehenen Bläser-Halbierung übernommen. Aber die Streicher (bei Kloke im Verhältnis 5/4/3/3/2) stockt Vladimir Jurowski, ab nächster Spielzeit GMD der Staatsoper, auf: sieben erste und sechs zweite Geigen, fünf Bratschen, vier Celli und drei Kontrabässe bilden ein solides Streicher-Fundament. Das klangliche Ergebnis ist frappierend. Gerade weil Berg an vielen Stellen Soli und kammermusikalische Faktur vorsieht, könnte orchestrale Intensität, das Aufblühen an den Höhepunkten und in den Zwischenspielen fehlen. Hier nicht! Auffällig ist die Reduktion einzig beim großen symphonischen Nachspiel, das Wozzecks Tod im See folgt.

Anja Kampe gibt ihr Rollendebüt als Marie im Münchener Wozzeck von Andreas Kriegenburg von 2008

Anja Kampe, Marie, und John Daszak, Tambourmajor.
Foto: Wilfried Hösl

Vieles klingt erstaunlich klar und klanglich fein abgemischt. Und wer auf einem Platz ganz vorne im Balkon sitzt, hört nicht nur ungemein differenziert, sondern kann Musiker wie Dirigent ganz aus der Nähe beobachten. Die Produktion ist schon ein halbes Dutzend Mal in den verschiedensten Besetzungen gelaufen. Faszinierend aber, Jurowski zu beobachten. Wie er den Verästelungen der Partitur seismographisch folgt. Er dirigiert mit unglaublicher Präzision, ist mit Zugewandtheit und Sensibilität ganz nah bei jedem einzelnen Musiker und den Sängerinnen und Sängern. Einmal mehr ist Simon Keenlyside ein verdruckst verängstigter Wozzeck, während Anja Kampe bei ihrem Rollendebüt alle Register zieht. Sie ist erstmals in dieser Inszenierung von Andreas Kriegenburg von 2008 dabei, die nicht modifiziert werden musste, und überzeugt mit leidenschaftlicher Gestaltung in Singen wie Spiel.

Münchener Gärtnerplatz wagt Eugen Onegin

Mathias Hausmann, Onegin, Camille Schnoor, Tatjana. Foto: Christian POGO Zach

Münchens Gärtnerplatz wagt mit der Neuproduktion von Peter Tschaikowskys Eugen Onegin eine romantische Oper in ungekürzter Fassung. Der Chor agiert eher statisch. Belebung kommt aber von den Tänzern. Die Protagonisten spielen in der ausgefeilten Personenregie Ben Baurs, der auch die Bühne entworfen hat, mit wenig Abstand. Aber man beginnt die Momente zu zählen, in denen körperliche Berührung dennoch haarscharf vermieden wird:

Mathias Hausmann, Onegin, und Lucian Krasznec, Lenski vor dem Duell. Foto: Christian POGO Zach

Wenn die Lippen von Olga und Lenski – mit intensivem, ausnehmend schönem Tenor ganz ein großer Junge, der verzweifelt nicht weiß wohin mit seinen Gefühlen: Lucian Krasznec – sich scheu annähern, aber nie finden; wenn die Hände beim steifen Tanz-Ritual der Männer und Frauen immer den Abstand von zehn Zentimetern wahren oder wenn Onegin schwarze Handschuhe trägt, als er buchstäblich Tatjanas weit ausgestreckte Hand ausschlägt. Einzig einen flüchtigen Handkuss gibt es, Onegin und Lenski berühren kurz ihre Hände beim Duett vor dem Duell und Tatjana (Camille Schnoor) legt Fürst Gremin ihre Hand auf die seinige.

Tschaikowsky mit Röntgen-Blick hören!

Glanzvoll ist die Leistung des Orchesters unter Leitung von Anthony Bramall in der eigens für diese Produktion entstandenen Fassung von Pjotr Alexandrowitsch Klimow. Sie umfasst gerade mal 24 Musikerinnen und Musiker: Elf prägnant und schön musizierende Streicher, je zwei Flöten, Oboen, Hörner, Trompeten, dazu Posaune, Fagott, Harfe und Pauke sitzen mit gebotenem Abstand im Graben. Auf sie sind die Stimmen der Partitur so geschickt verteilt, dass man überrascht ist, wie gut das klanglich funktioniert. Nicht selten glaubt man, mit Röntgen-Blick zu hören. Dabei ist sogar manches Detail klarer als im Original zu erleben.

Der Dirigent Cornelius Meister begleitet die Sänger am Klavier!

Auch Pietro Mascagnis Cavalleria Rusticana in Stuttgart ist eine Premiere als erste Hälfte eines Doppelabends mit Salvatore Sciarrinos Luci miei traditrici. Sie beginnt als filigranes Kammerspiel mit luzidem, beinahe solistischem Streichquintett im Graben. Später kommen immer mal wieder ein paar Bläser von der Hinterbühne dazu – bekannt bei Verdi als „Banda“ –, und es flammt fast so etwas wie Leidenschaft auf. Oft aber spielt sich Dirigent Cornelius Meister, wenn er die Sängerinnen und Sänger allein am Tasteninstrument begleiten muss, einen Wolf. Das klingt dann karg und herb wie bei einer Klavier-Hauptprobe. Kaum zu glauben, dass der musikalische Bearbeiter Sebastian Schwab damit „eine zusätzliche klangliche und emotionale Ebene“ gewinnen wollte, denn das Gegenteil ist der Fall. Ein ausladender Sopran wie der von Eva-Maria Westbroek als Santuzza muss eines stützenden und die Stimme umfangenden Orchesterteppichs entbehren, und die jeweils sechs Meter Abstand der Protagonisten auf der Bühne lassen sich damit erst recht nicht ausgleichen.

Warum ist Regisseurin Barbara Frey nicht mehr eingefallen?

Dass der Chor aus dem dritten Rang zu hören ist, wird musikalisch nicht als Manko spürbar, singen die soeben zum wiederholten Male in der Kritiker-Umfrage der „Opernwelt“ zum „Chor des Jahres“ gekürten Männer und Frauen des Staatsopern-Chors doch mit einem Höchstmaß an Differenziertheit und Schönheit. Und es stimmt schon, dass man sich das Kollektiv als Stimmen im Kopf der Protagonisten vorstellen kann. Aber wenn gemeinsam Wein getrunken wird und Turiddu – nach anfänglicher Unsicherheit meistert Arnold Rutkowski die heikle Tenor-Partie mit immer mehr Glanz in der Stimme – allein auf riesiger Treppe ohne Glas und Flasche Betrunkenheit mimt, dann ist das für‘s Publikum schlicht deprimierend. Und man fragt sich schon, warum Regisseurin Barbara Frey nicht mehr eingefallen ist, um Spannung über die Distanz herzustellen.
Da hilft das Bewusstsein theatralischer Stilisierung leider nicht und noch weniger überzeugen als szenisches Füllsel die beiden Brüder-Paare, die auf einer (Dreh-)Bühne umherschlendern. Sie besteht aus einer breiten, gekippten Freitreppe, die von einer Galerie umlaufen wird, deren Betonwände mit Graffiti übersät sind. Mal gehen die Jungs zärtlich, mal grob miteinander um oder tanzen zu zweit. Das dürfen sie laut Intendant Victor Schoner, „weil sie jeweils in einem Haushalt leben“. Wenn der Intendant in einer sichtlich bewegten Rede vor Beginn zu bedenken gibt, dass man Cavalleria wegen Kurzarbeit des Chors nur viermal spielen könne und gleichzeitig betont, dieser Abend würde in seiner Fragmentierung und Distanziertheit auch nach Corona exakt so im Spielplan bleiben, „weil Theater immer auch Erinnerungs-Arbeit bedeutet“, dann möchte man laut schreien: „NEIN, bitte nicht!“

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