Stefan Herheim inszeniert Alban Bergs Wozzeck an der Oper am Rhein als Rückblende in den letzten Minuten einer Hinrichtung

Matthias Klink (Hauptmann), Thorsten Grümbel (1. Handwerksbursch), Dmitri Vargin (2. Handwerksbursch), Bo Skovhus (Wozzeck), Florian Simson (Der Narr), Corby Welch (Tambourmajor), Sami Luttinen (Doktor). Im Hintergrund: Statisten der Deutschen Oper am Rhein © Karl Forster
Matthias Klink (Hauptmann), Thorsten Grümbel (1. Handwerksbursch), Dmitri Vargin (2. Handwerksbursch), Bo Skovhus (Wozzeck), Florian Simson (Der Narr), Corby Welch (Tambourmajor), Sami Luttinen (Doktor). Im Hintergrund: Statisten der Deutschen Oper am Rhein. Foto: Karl Forster

Der US amerikanische Schriftsteller Ambroce Bierce hat in seiner short story „An Occurence at Owl Creek Bridge“ 1890 erstmals diesen Kunstgriff literarisch geprägt. Was passiert im Moment der Hinrichtung im Kopf des Delinquenten? Sein Leben wird in den letzten Minuten heraufbeschworen. Ein grausamer Moment im Hier und Jetzt wird zum Katalysator einer Leidensgeschichte im sozialen Abseits. Ein Schicksal, das von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist und in dieser Inszenierung mit aller Härte die Zuschauer zu einer Stellungnahme herausfordert. (Von Sabine Weber)
(22. Oktober 2017, Oper am Rhein, Düsseldorf) Das genau hatte Alban Berg im Sinn. Einen „Appell an das die Menschheit repräsentierende Volk“ hat er sein letztes Orchesterzwischenspiel kurz vor dem Finale im dritten Akt überschrieben. In Düsseldorf geht das Licht an. Das Publikum wird zur Stellungnahme aufgefordert. Wie schon einige Male zuvor unter aufgedrehtem Saallicht.
Johann Woyzeck wurde am 27. August 1824 in Leipzig öffentlich hingerichtet. Er litt unter Depression, Schizophrenie, Verfolgungswahn und Depersonalisierung. Er bringt seine Lebensgefährtin Marie mit dem Messer um, wird im Gefängnis zahllosen Untersuchungen unterzogen. Die Mediziner ahnen, dass einer vernunftmäßigen Verantwortung hier nicht beizukommen ist. Doch was bedeutet Unzurechnungsfähigkeit? Das deutsche Strafgesetzbuch mit dem Paragraphen §§ 19 – 21 zur Schuldunfähigkeit und Maßregelvollzug ist noch nicht in Kraft. Einer alternativen Begründung entziehen sich die Mediziner. Und formulieren in ihrem letzte Gutachten sein Schuldfähigkeit.
Der Medizinstudent und leidenschaftliche Stückeschreiber Georg Büchner greift den Fall als anklagende Milieustudie auf. Es bleibt ein in kaum leserlicher Handschrift überliefertes Fragment. Büchner stirbt zu früh. Aber den Zündstoff hat Berg begriffen und das Fragment in eine dreiaktige Formstudie gefasst, die den Fall musikalisch streng aufrollt und aktueller ist denn je.

Wer darf sich anmaßen, einen Menschen zum Tode zu verurteilen? Stefan Herheim zieht seine Regie von dieser zentralen Frage her auf. Die Uhr über dem Hinrichtungsraum aus kalten Steinwänden steht auf 19 Uhr. Wozzeck, ein Riesenbaby mit Kraft aber kindlichem Verstand, genial verkörpert von Bo Skovhus, steht im roten Sträflingsoverall, der zur Hüfte heruntergelassen eine Windelvorlage erkennen lässt. Er steht vor dem Giftspritzen-Tisch und kapiert nichts. Ein Priester – der später zum Transen-Narr mutiert, Polizisten, der das Urteil kühl verlesene Tambourmajor, der Hauptmann… die Protagonisten und die Hinrichtungszuschauer hinter der Glaswand sind aus dem im Hier und Jetzt. Als Wozzeck festgeschnallt wird, dreht er ungläubig den Kopf, stöhnt kurz. Und dann ist der Teufel los. Die Pritsche rotiert, das Licht blitzt, die Wände wackeln. Die Uhr verliert ihre Zeiger. Die Oper beginnt. Mit einem kurzen Vorspiel. Und sofort ist man drin in der Geschichte. Wozzeck steht auf. Der Hauptmann, Matthias Klink in US amerikanischer Cop-Uniform, scharwenzelt grotesk um ihn herum… „Ein Augenblick nur“ ruft er, gibt ihm ein Rasiermesser wie eine Tatwaffe in die Hand und appelliert an Moral. Hier wird ein Untergebener gequält. Genau das tut auch der Tambourmajor, Corby Welch als gewichtiger Texas-Cowboy, der Wozzecks Partnerin Marie – ebenfalls ins delinquentenrot gekleidet – ein Funkenmariechenkostüm verpasst und sie auf eben dieser Pritsche vergewaltigt. Dazu Wozzeck_13_FOTO_Karl_Forstereine Bühnenband und die Karnevalsgesellschaft tanzt Polonaise um die Pritsche während die Cops ihre Schlagstücke wichsen. Mit Präzision bringt Herheim die Collage zwischen Hier und Jetzt und Rückblick zusammen. Mit Details ist sie passgenau ausgearbeitet. Kongenial jongliert Herheim mit wenigen Requisiten. Marie hält ihr Kind nur durch Gesten im Arm. Das Rasiermesser ist immer im Bild, die Tat ja vorgezeichnet. Und eine so minutiös durchgearbeitete auf die Musik angelegte Personenregie ist noch selten zu erleben gewesen. Irritierend klingt zu der Vergewaltigungsszene ein Walzerzitat aus Straussens Rosenkavalier aus dem Graben (Wirtshausszene). Sami Luttinens tiefer Bass zeichnet einen steif holzschnittartigen Doktor, der sein Objekt gnadenlos untersucht und ihm fiese Diäten aufdrückt. Corby Welch lässt die Hüften ordinär kreisen, um zu demonstrieren, wer hier der Macho ist. Und Matthias Klink ist ein wendiger beweglicher Springteufel. Keinen Moment wird die Hinrichtung vergessen. Christof Hetzer, zuständig für Bühnenbild und Kostüm, hat ihn als Einheitsbühne angelegt. Die Wände fahren zwar mal kurz auf und geben Fluchten frei oder Fettfilm projiziert eine Seenlandschaft oder nur schemenhafte Wasserbewegung auf die kahlen Wände. Aber die Hinrichtungspritsche ist immer da. Unter der Uhr, die als untergehende Sonne golden leuchtet oder zum blutroten Mond, und zum stummen Zeugen der Tat wird.
Manchmal ist es ja nicht schlecht in die zweite Aufführung zu gehen. Die Düsseldorfer Sinfoniker sind glänzend aufeinander eingespielt, begleiten unter Axel Kober mit Feinsinn die Sänger und liefern Klangkraft wo nötig. Das Sängerensemble dazu ist fantastisch. Camilla Nylund als schrill und heftig agierende Marie gestaltet im dritten Akt eine berührende Betszene mit völlig anderem Timbre. Der Tenor Matthias Klink hat überzeugende Stahlkraft, Corby Welch ist ein perfekt widerlicher Soldatenchef. Und nicht zuletzt Bo Skovhus, der die Rolle des Wozzeck_11_FOTO_Karl_ForsterWozzecks vor fast 20 Jahren an der Hamburgischen Staatsoper unter der Leitung von Ingo Metzmacher verkörpert hat. Auch dieses Mal ist er mit Mimik, Gestik und Stimme einfach nicht zu übertreffen! Gerne würde man ihn erlösen, und die kleinen Wozzeck-Kinder im roten Overall am Schluss vor ihrem Schicksal bewahren.

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