Rossinis Esprit fegt in Aachen formidable über die Bühne und durchs Publikum!

Gioacchino Rossinis „Il Viaggio a Reims“ ist schon jetzt der Renner am Theater Aachen 2024! Die Inszenierung von Michiel Dijkema transferiert die auf dem Weg zur Krönung des letzten Königs der Franzosen (1824) gestrandeten Adligen aus aller Herren Landsitze ins hier und jetzt eines Baustellenchaos. Auch den Stau und die Straßensperrung – das Bühnenbild – hat er geschaffen. Diese „Viaggio” versetzt – sehr komisch – Arbeitsverweigerer an Baustellen, an denen, einmal eingerichtet, nichts passiert, mächtig in  Wallung. Mit Charme und Witz kleidet Kostümbildnerin Jula Reindell ein. (Von Sabine Weber)

Ángel Macías (Belfiore), Suzanne Jerosme (Folleville), Irina Popova (Maddalena), Vasilis Tsanaktsidis (Antonio). Foto: Annemone Take

(4. Februar 2024, Theater Aachen) Es ist die vierte Vorstellung, die Premiere war im Januar. Und die Schlange für die Restkarten geht bis zur Tür hinaus. Es hat sich nicht nur in Aachen rumgesprochen, dass diese Produktion ein Geheimtipp ist. Das Niederländische und noch andere Sprachen vermischen sich im dicht gedrängten Foyer in der Pause oder der Belle Etage im 1. Stock. So voll habe ich schon lange kein Theaterhaus mehr erlebt. Hier stimmt auch alles. Das Sinfonieorchester Aachen trifft von der ersten Minute an perfekt den Rossini-Sound, der mit mächtigen Schlägen erstmal überproportional aufträgt, als würde gleich das furchtbarste Drama anheben. Dann sanfte Melodien mit Blechbegleitung serviert, um dann mit typisch hüpfend-zwickendem Charme und kleinen rhythmischen Querschlägen in Wallung zu bringen. Und schon brodelt es im Orchester und im Haus.

Von Lady Gaga bis Laura Dearn…

Rossinis Esprit und Michiel Dijkemas Bildideen entfachen ein wunderbares Rossini-Feuer vor stets Unwetterdräuendem Himmel am Bühnenhorizont. Die Reisenden werden vor einer rot-weißen Straßensperre ausgebremst. Ein Teil des ursprünglichen Hotelpersonals steht als Bauarbeiter in Orange an der Absperrung, die anderen sind Chauffeuse und Reisebegleitung mit des Hotels königlichem Emblem, der goldenen Lilie. Koffer stapeln sich auf dem Autodach. Lord Sidney kommt als ein Rocker mit Lederfransen unter einem Motorrad hervor, die Contessa di Folleville ist eine aufgetakelte Lady Gaga im Leopardenkostüm, Madame Cortesa eine Laura Dern aus David Lynchs Wild at Heart und der Deutsche Baron Trombonok läuft in Hawai-Hemd mit Kamera über Dickbauch, Shorts und Birkenstocks auf Kniestrümpfen auf – zum hier köstlichen Fremdschämen.

Statt umgekippter Kutsche wird komisch platt gewalzt
Laia Vallés (Corinna). Foto: Annemone Take

Statt Kutschen mit feiner Garderobe umkippen zu lassen, fährt eine Dampfwalze über den Reisekoffer. Bauarbeiter Antonio macht in immer neuer Situationskomik falsch was er kann. Corinna schiebt ihre Harfe aus einem Wohnwagen, auf dem sie schlussendlich oben auf dem Dach sitzt und ihr Strophenlied (Couplet) singt und sich bewegungskorrekt begleitet, sodass eine Zeit lang überlegt wird: spielt Laia Vallès wirklich? Die kleinen Harfenkonzerte – im Finale singt sie nochmals – wie es auch ein Flötenkonzert mit Kadenz gibt, kommen natürlich aus dem Graben.

16 Gesangspartien – die meisten aus dem Ensemble besetzt

Zwischen Absperrung, Warnleuchten und Schilderwald spielen und singen alle wie der Teufel und haben ihren Spaß, der sich überträgt. Auch wenn nicht alle ihre Koloraturen so grandios versprühen wie Suzanne Jerosme als Französin Folleville. Man möchte aber keine oder keinen mehr loben als die oder den anderen, denn das Theater präsentiert mit  Il Viaggio a Reims wirklich eine formidable Gesamtleistung – die 16 Partien, wie bei Boris Godunov letzten Dienstag fällt mir gerade auf, werden hier fast ausschließlich aus dem Ensemble gestemmt. Und Rossini hat nie mehr größere Ensembles als in seiner Viaggio von 1824 am Beginn seiner Tätigkeit am Pariser Théâtre-Italien geschrieben!

Das größte Ensemble, das Rossini je schrieb
Alexandra Urquiola (Melibea), Suzanne Jerosme (Follville), Larisa Akbari (Cortesa), Hans Schaapkens (liegend: Zefirino), Stefan Hagendorn (Prudenzio), Laia Vallés (Corinna), Ángel Macías, Randall Bills (Libenskof), Jonathan Macker (Sidney), SungJun Cho (Profondo), Luzia Tietze (Modestina). Foto: Annemone Taake

Das Gran Pezzo Concertato mit 14 Solisten ist unnachahmlich, und Dijkema schweißt gekonnt alle Beteiligten immer wieder in skurrilen Standbildern zusammen. Der Witz ist manchmal ein bisschen klamaukisch, wenn dem Beau Belfiore (Ángel Macías) beispielsweise, natürlich der „Fare-Amore?-Italiener“, bei der Anmache die Kleidung zerreißt und abfällt. Wie der Russe Libenskof (in der Höhe schmetternd: Randall Bills) und Melibea (mit viel Verve Mezzo Alexandra Urquiola) nach Eifesüchteleien ihre neu erwachte Liebe feiern ist umwerfend komisch. Keinen Moment ist es langweilig oder tritt auf der Stelle. Obwohl das das Thema ist, unter den französisch korrekt grünen Autobahnschildern Paris Aix-La-Chapelle nach links und Reims Pesaro (Geburtsort von Rossini). Das Festbankett im Finale wird aus der Baustelle heraus errichtet, mit Bierkisten als Sitzgelegenheit unter Baustellenleuchtkette.

Oper darf Spaß machen. Dieser Rossini tut gut

Für das Hymnen-Medley, dass Rossini im Viaggio-Finale präsentiert, mit Melodiezitaten aus Haydns Kaiserhymne (die heute als deutsche Nationalhymne dient) und God Save the King, kriechen die berühmten kleinen grünen Männchen aus dem Boden und hören sich das terrestrische Konzert mit abstehenden Lauschern an. König Karl X, zu dessen Krönungsfeierlichkeiten ja alle hinwollten, kriecht auch noch aus dem Baustellen-Ufo und gibt als guter Geist im Krönungsornat mit Zepter seinen Segen. Passt alles, ist wunderbar erheiternd und musikalisch exquisit. Oper kann Spaß machen. Dieser Rossini tut jedenfalls richtig gut!

Weitere Vorstellungen
Mi, 07.02.24, 19:30; So, 25.02.24 18:00 Familienvorstellung; Mi, 07.02.24 19:30; So, 25.02.24 18:00 Familienvorstellung; So, 24.03.24 18:00 Familienvorstellung; So, 31.03.24 18:00 mit Nachgespräch; So, 07.04.24 18:00 mit Nachgespräch; Sa, 13.04.24 19:30

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