In Wien kein Beethrifft, sondern fantastische Ausstellungen und die Derniere der hybriden Grand Opéra “Orlando” von Olga Neuwirth

Foto: Sabine Weber

Ist es ein Sakrileg, nach Wien zu reisen und sich um Beethoven 250 aber auch gar nicht zu scheren? Hier wirft er seine Schatten selbstverständlich auch voraus. Das berühmte Beethoven-Portrait mit wild um den Kopf stehenden Haaren ist überdimensional auf Häuserfassaden plakatiert! Und haben nicht die Österreicher den deutschen Beethoven zu einem Österreicher gemacht? Dafür den österreichischen Hitler zu einem Deutschen! Von wegen blöde Redewendung. In Wien gibt es noch immer einen Dr.-Karl-Lueger-Platz, benannt nach dem Wiener Bürgermeister, der Hitlers antisemitische Rhetorik nachweislich vorformuliert hat – und auch die Endlösungs-Idee mitgeliefert hat. (Siehe klassikfavori Luegers Parlamentsrede vom Mai 1894 in Wien, zitiert bei der Ruhrtriennalen Produktion RT19 „Von den letzten Tagen…“) Und erst 2012 wurde der Dr- Karl-Lueger-Ring in Universitätsring umbenannt. Wäre Hitler im Bewusstsein der Österreicher ein Österreicher hätte sich Österreich bewegt und auch den Lueger-Platz längst umgewidmet! (Von Sabine Weber)

(20. Dezember 2019, MAK, Albertina, Staatsoper Wien) Gedanken am Rand! Aber dem Nachtzug entstiegen stoßen wir eben auf diese stadtplanmäßig brisanten aber niemand störenden Details. Wir fahren mit dem Finger in die Mölker Bastei und in den Wiener Vorort zum Heiligenstädter Testament. Aber leibhaftig geht es in‘s Café Prückel.
Das MAK öffnet nämlich erst um 10 Uhr seine Tore. Die Ausstellung über Otto Prutscher (1880 – 1949), Designer der Wiener Moderne mit Bauten-, Tapetenmuster und Möbelentwürfen und Geschirrgestaltungen, ist unser Ziel. Prutscher hat sogar für die Gebrüder Thonet Stühle aus gebogenem Bugholz designt. Wie in einer weiteren MAK-Ausstellung „Thonet und das moderne Möbeldesign“ eine
Etage tiefer zu sehen. Nach einem Braunen im MAK Café geht es durch die Wiener Altstadt an der legendären Postsparkassen-Architektur von Otto Wagner vorbei. Ein kurzer Blick auf die vernieteten Fassadenplatten und in die Hauptschalterhalle hinein (kostenfrei). Das kühle, bis ins letzte Detail abgestimmte Gesamtdesign aus Aluminium, Holz und Glas lassen wir auf uns wirken. Anfang des 20. Jahrhunderts war das ein gewagter Kontrapunkt zu den Zuckerbäckerfassaden.

Foto: Sabine Weber

Weiter zur aktuellen Albrecht-Dürer-Ausstellung in der Albertina, die uns restlos die Sprache verschlägt.

Albrecht Dürer. Gewand Gottvaters 1508. Foto: Sabine Weber

Eine sensationell kuratierte Zusammenstellung von lupenpräzisen Entwurfsskizzen auf bläulich schimmernder venezianischer Carta azzurra in Gegenüberstellungen zu den Endfassungen, in die die meisterlichen Zeichnungen hinein geflossen sind. Und als Maler zeigt Dürer, dass er stark pastose und grelle Farbgebungen geliebt hat. Also Dürer nicht nur schwarz-weiß in derZeichnung der betenden Hände und im Meisterstich der brütenden Melancholia! Es ist aber dann doch die Druckserie der „grünen Passion“, weil auf grünlich grundiertem Papier, die besonders nachwirkt, als es – inzwischen Abend – durch das aggressiv grell-weihnachtlich erleuchtete kaum mehr dunkle Wien zur Staatsoper geht.
Zum eigentlichen Anlass dieses Wienbesuches, der Dernière von Olga Neuwirths „Orlando“.

Das ist ein Ereignis von epochaler Bedeutung schon vor der Premiere am 8. Dezember gewesen. Erstmals ist das abendfüllende Werk einer Frau an der Wiener Staatsoper, sogar als Auftragswerk, über die Bühne gegangen. Mit der Premiere wurde der in Graz geborenen Komponistin dann das österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst überreicht, die höchstmögliche Bundesauszeichnung des Landes.

Neuwirths sechstes Bühnenwerk, „Orlando – eine fiktive musikalische Biografie in 19 Bildern“ basiert auf Virginia Woolfs „fiktiver Biographie“ unter gleichem Titel, die 1928 erschienen ist. Woolf portraitiert mit Orlando die Schriftstellerin Vita Sackville-West, zu der Woolf auch eine Liebesbeziehung hatte. Und das gibt sie auch bekannt, dass es sich um „Vita nur mit einer Umwandlung aus einem Geschlecht in ein anderes“ handelt. Sogar Bilder von Vita fügt sie als Orlando hinzu. Ein gewagtes Werk also über Geschlechtsumwandlung oder gleichgeschlechtliche Liebe mit humoristisch bis zynischen Gesellschaftsbetrachtungen, bei der auch britische Literaten und Poeten verschiedener Epochen durch gewaltige Zeitsprünge im Raffer entlarvend zitiert werden. Woolf lässt ihren Roman im16. Jahrhundert beginnen und schreibt ihn bis zum Veröffentlichungsdatum fort. Neuwirth und ihre Librettistin Catherine Filloux beginnen auch zur Zeit Elisabeths I., führen die Handlung aber bis ins hier und jetzt fort.

Vor der Dernière durfte ich Fragen an die Komponistin formulieren, die sie schriftlich beantwortet hat.

Ich muss Ihnen zuallererst danken, weil Sie mich angeregt haben, Virginia Woolfs „Orlando“ noch einmal zu lesen! Wie oft haben Sie diese fiktives Biografie schon gelesen und wann das erste Mal?

Freut mich zu hören, dass ich dazu beitragen konnte, dass Orlando (wieder) gelesen wird. Ich habe es das erste Mal mit 15 Jahren gelesen und dann wieder 2013

Sie sind Film-affin. In Ihrer Oper „Lost Highway“ haben sie den gleichnamigen Film von David Lynch adaptiert. Hat in Bezug auf Orlando die Verfilmung von Sally Potter mit Tilda Swinton Sie inspiriert?

Nein. Den Film habe ich damals, 1994, zwar gesehen. Aber das wars auch schon. Mich hat nur Virginia Woolfs Buch inspiriert, sie selbst und ihr Leben und weitere, wunderbare Texte von ihr. Woolf ist ein riesiger Kosmos. Ich lasse mich wenn von einem Original anregen, so auch bei David Lynchs „Lost Highway“. Aber nicht von bereits existierenden Interpretation.

Wie haben Sie das Gesangs-Ensemble überlegt. Wussten Sie vor der Partitur-Erstellung, wer singen würde?

Ja, das wußte ich von Anfang an. So mache ich das immer und habe es bei all meinen Musiktheater Projekten festgelegt.

Sie spielen schon immer mit Collagentechnik, werfen verschiedenen Stilistiken ein, rauen oder weichen die Klassik mit Pop, Jazz, Volkslied oder hier Kirchenlied auf, setzen zusätzlich E-Gitarrist, Saxophonist und Cembalist in den Orchestergraben, lassen Instrumente sich verstimmen und durch Mikrointervalle reiben! Welche Rolle spielt der androgyne Klang in diesem Mixt?

In Viriginia Woolfs Orlando geht es ja auch um Androgynität. Virginia Woolf meinte einmal „Androgyny is the catalyst of freedom“. (Androgynität ist der Katalysator der Freiheit). Und Woolf setzt sich mit Orlando auch kritisch in den diversen geschichtlichen Perioden auseinander und mit den unterschiedlichen partriachalen Verhaltenweisen in Kunst und Leben in diesen jeweiligen Epochen. Mal ironischer mal weniger.

Hat sich für Sie von der Premiere bis zur Derniere etwas im Stück verändert? Hat sich eine neue Sichtweise eingestellt?

Wenn Sie meine Komposition meinen, dann nein. Ich weiß immer schon bevor ich zu komponieren beginne, was ich möchte. Da gehen viele Überlegungen über Wochen hinweg durch meinen Kopf. Aber wenns dann im Kopf fertig ist, muss ich es eben „nur mehr“ niederschreiben. Das ist dann der langwierige Prozess, weil ich es ja so genau wie möglich hinbekommen möchte, wie ich es in meiner Imagination vorgestellt habe. Aber natürlich ändere ich einige kleinere Dinge nach der letzten Aufführung.

Was machen Sie jetzt – eine nächste Oper planen?

Zuerst ein Orchesterwerk für das New York Philharmonic, mit Countertenor und Kinderchor. Das Libretto für die nächste Oper ist schon fertig.

Soweit das kurze Interview mit Olga Neuwirth, für das sie sich im Wahnsinnstrubel kurz Zeit nach der Derniere genommen hat. Der mediale Trubel und die Aufmerksamkeit ist mit der Uraufführung (siehe Kritik bei Klassikfavori) bis zur Dernière geblieben. Und Neuwirth zeigt sich auch dem begeisterten Publikum nach der Dernière auf der Bühne, nimmt mitsamt Produktionsteam Applaus und auch einige wenige Buhs entgegen! Wie bei der Premiere! Die Gelassenheit täuscht vielleicht. Denn bei den Streaming-Problemen drei Tage zuvor hatte die Komponistin einen nervenaufreibenden Feuerwehreinsatz gehabt. Von Berufs wegen ist sie beim Klangergebnis bis zum Schluss ganz sensibel. Und auch hinter den Kulissen hat es Trouble gegeben. Das verrät ein Einlege-Zettel im Programmheft der letzten Aufführung. Am Ende des ersten Teils vor der Pause zitiert Olga Neuwirth nämlich ein geistlich-populäres Lied. Olga Neuwirth liebt das Collagenhafte. Das gehört zu ihrer Stilistik: das Anverwandeln und Einarbeiten von diversen Musikrichtungen und die subkutan präsente, sie persönlich prägende musikalische Vergangenheit. „O Tannenbaum“, Lautenlieder von Dowland und Madrigalstil oder ein Song der Talking Heads stecken auch unüberhörbar in der Orlando-Partiturschicht. Eine Rockband mit imposantem Drumset im Glitzerlook wird zwei Mal auf die Bühne geschoben. Und der langsame Satz aus Bachs Violin-Doppelkonzert in d-moll, eingespielt von Arnold und Alma Rosé, die im Lager Birkenau 1944 umgekommen sind, klingt aus Lautsprechern. Eine knisternde Schellack-Aufnahme von 1928. Aber bei dem Gottesdienst-Hit „Danke für diesen guten Morgen“ von 1961 ist der Fall wohl speziell. Der Komponist ist 2017 gestorben! Damit sind GEMA-Rechte bis 2087 fällig! Und die Rechteinhaber und Erbengemeinschaft dieses Liedes, sowie der Gustav Bosse Verlag Kassel sind zur Stelle, distanzieren sich aber auf dem Einlagezettel vor allem von der „karikierend-entwürdigenden Verwendung“. Neuwirth lässt das populäre Kirchenlied nämlich vom Kinderchor anstimmen, wenn es um sexuellen Kindsmissbrauch geht. Neuwirth und der Verlag Ricordi & Co., Bühnen- und Musikverlag GmbH haben sich mit der Danke-für-diesen-guten-Morgen-Partei aber darauf geeinigt, die „heutige Aufführung der Oper Orlando noch einmal unverändert zu belassen“. Aber jetzt Drohung: eine weitere Verwendung wird nicht mehr genehmigt! Ein Kirchenlied hat Rechteinhaber … „Orlando“, für den Neuwirth den klangvollen Begriff „Hybride Grand Opéra“ entwickelt hat, wird sich bis zur nächsten Produktion wohl leicht verändern. Womit die Komponistin kein Problem haben wird, denn Offenheit und Freiheit der Auslegung ist eines ihrer Fanale, die sie in die Oper implementiert hat. Deshalb ist auch Virginia Woolfs originale Stimme in der 15. Szene zu hören. Ein großartiges Zitat, das als besonderer Moment haften bleibt. Woolf fordert die Unverhandelbarkeit der Vieldeutigkeit und Wandelbarkeit von Worten ein. Was für das Wort gilt, gilt auch für die Musik. Das Gesamtanliegen ist ambitioniert, und es sind berechtigte zeitgemäße Anliegen der Komponistin. Ganz generell, die Benachteiligung und Unterdrückung von künstlerisch tätigen Frauen durch die Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag. Wie wahr! Die

Transgenderkünstlerin Justin Vivian Bond, Constance Haumann und Chor der Wiener Staatsoper. Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Forderung nach einer offenen Gender-Akzeptanz und LGBTQ-Lebensformen! Da haben wir alle noch etwas zu lernen. Die 16. Szene ist dem Revuehaften Auftritt eines Transgender-Stars gewidmet. Dazu Antikriegsdemonstrationen, Love for Peace, die Klima-Katastrophe des Planeten… Episodenthemen, die vor allem nach der Pause beinahe an einen Weltverbesserungsplan denken lassen. Kate Linsey ist aber eine so präsente Darstellerin für den sowohl männlichen wie weiblichen Orlando, das in jedem Moment die Kunst-Figur zumindest szenisch im Mittelpunkt bleibt. Und die Musik ist berauschend spannend, sodass man den ambitioniert hochgehaltenen Zeigefinger verkraftet. Der Ideenreichtum aus dem Graben ist schon verwunderlich, zumal da nichts Trashig einfach draufgehauen, sondern schön fein in die Strukturen eingearbeitet ist. E-Gitarrensounds, eine Glasharmonika, oder leicht verstimmten Streicher… Das alles mischt sich unter die Gesangsstimmen, die teilweise mit Mikroport verstärkt sind.

Finale Orlando: Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Das Ensemble-Finale mit hochgezogener Engelskind-Putte und Kinderchor im Billo-Markt-Streifenhemd – da reichte wohl der Design-Wille von Comme des Garçons nicht aus – fällt kitschig und New-Age-mäßg aus. Und die Erzählerin wünscht dann doch etwas anbiedernd dem Publikum „ein goldenes Herz, eine Börse voller Scheine und einen guten Braten auf dem Tisch!“ Moment mal, hat Virginia Woolf nicht beim besagten Original-Zitat gesagt: „Words hate making money, they hate being lectured about in public. In short, they hate anything that stamps them with one meaning or confines them to one attitude, for it is their nature to change?“ Michael Gielen hat mal gesagt, Musikmachen sei ein widerständiger Akt, weil es nicht um’s Geldverdienen geht. Stimmt das vielleicht nicht mehr? Oder habe ich etwas noch nicht verstanden…

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