Es ist lange her, dass subtile Klänge sowohl im Bühnenbild, als auch in der Regie eine derartige Faszination haben entwickeln können wie an diesem Abend! Die Kälte kriecht unter Cornelius Meisters Dirigat in feinen, eisigen Klängen aus dem Orchestergraben und den Proszeniumslogen, beispielsweise in höchsten Registern auf Saiten reibenden und mit Glöckchen- und Glitzereffekt ausgestatteten Klangstrukturen. Auch auf der Bühne (Harald B. Thor) schneit es unentwegt aus sichtbaren Schneewalzen an der Decke. Hans Christian Andersens „Die Schneekönigin“ spielt auch in der nordischen Kälte. Es geht in diesem Märchen durchaus um Kälte als Zwischenmenschliches Problem. Um Erstarrung oder eine emotionale Störung. Regisseur Andreas Kriegenburg legt Andersens Märchengestalten als projizierte Fluchtidentitäten in einer Traumwelt an, und bedient in seinen Bildern dennoch das Märchen! (Von Sabine Weber)
(21. Dezember 2019, Bayerische Staatsoper, München) Weiße weibliche Wesen mit Flügelhauben (Kostüme: Andrea Schraad) trippeln durch den Schnee und um Krankenbetten herum. Sie legen Bluttransfusionen an Menschen oder weiße Rosen, um ihnen Farbe, Gefühl, eben Blut zu geben. Oder sie bilden schützende Reihen vor bösen männlichen Geistern in schwarzer Metzgerschürze über weißem Kittel mit OP-Haube und Mundschutz. Kay ist in Hans Abrahamsens Märchenoper Snedronningen, Schneekönigin auf dänisch, Snow Queen hier in der englischen Fassung ein Autist. Er reagiert nicht mehr auf die Außenwelt. In Hans Christian Andersens Märchenvorlage sind Kay die zerbrochenen Spiegelstücke von teuflischen Trollen ins Auge und ins Herz gedrungen, die alle guten menschlichen Regungen zerstören. Und er gerät in den Bann der Schneekönigin in einem fernen Eispalast. Der Spielort in der Münchener Produktion ist sowohl ein fantastischer Schneewehen-Traum, hinter einer Folie dampft, windet und staubt es, sowie eine psychiatrische Klinik mit Krankenbetten. Die Spielebene bleibt wie im Märchen zeitlos. Kriegenburg spaltet die Figuren in mehreren Zeitebenen auf. Der kranke Kay ist eine stumme Rolle und wird von Thomas Gräßle bis zuletzt omnipräsent als Erwachsener dargestellt. Rachel Wilson verkörpert – mit ihrem lyrisch-dramatischen Mezzotimbre den jugendlich aufbrausenden Kay als Hosenrolle. Und es gibt noch eine dritte Kind-Entsprechung für kleine Märchenszenen wie dem Schlittenfahren oder einer Schneeballschlacht. Gerda ist vor allem Barbara Hannigan, die im Zentrum der Handlung steht und Aktionsmittelpunkt ist. Im weißgetupften schwarzen Kleid und mit ihren leicht gewellt blonden Haaren existiert sie ebenfalls dreifach. Als Kind zunächst, und im letzten und dritten Akt taucht ein verblüffend perfektes erwachsenes Double auf. Was real, was Traum, was Annahme, was Setzung ist, alles mischt sich, märchenhaft unlogisch, aber bildmächtig.
Wach und lebendig ist vor allem Gerda, die mit ihrer zur Verfügung stehenden körperlichen Macht für Kays emotionales Erwachen kämpft. Zunächst steht sie vor den geschlossenen Mauern der Anstalt und denkt in projizierten Schriftzügen: „Where are you? Where have you been. You left me alone!!!“ Dann fahren die Mauern auseinander. Kay steht hilflos und regungslos im gestreiften Schlafanzug in der Schneewehen-Traumlandschaft und friert. Gerda stürmt auf ihn zu, umarmt ihn, legt seine Arme um ihren Körper, sie fallen aber schlaff wieder herunter, springt ihn an, wirft sich auf ihn. Nichts ruft Reaktionen hervor. Kaum merklich hat die feine Musik eingesetzt, die Grauen, Kälte aber auch wunderbare Schneebilder entstehen lässt. In dieser Klangkulisse kämpft Barbara Hannigan 100 Minuten lang als Gerda, und eigentlich auch als sie selbst, eine solche Intensität legt sie in die Rolle, für das Erwachen ihres Freundes. Offensichtlich ist ihr diese Rolle auf den Leib geschrieben. Hans Abrahamsen hat sie mit ihr und für sie entwickelt und komponiert. Warum Hannigan nicht die Uraufführung in Kopenhagen vor zwei Monaten (am 13. Oktober) gesungen hat, sei der, dass sie keine Rollen in Sprachen annimmt, die sie nicht beherrsche. So wird es im Programmbuch erklärt. Deshalb jetzt eine englische Snow-Queen-Fassung für München und für Hannigan.
Beglückend ist, wie die gleichnishaft aufgeworfene Fragestellungen des Märchens Tiefgang im Bild und in der Musik entwickeln, warum das Herz von Kay beispielsweise erkaltet sein könnte oder was es mit der fürs Märchen und auch in der Oper wichtigen Rosenmetapher auf sich hat. Und dennoch bleibt genug Raum für das rätselhafte Märchengefühl. Wenn beispielsweise ein Schneesturm mit durchwehenden Plastikfolien tobt wie seinerzeit das Meer bei der Augsburger Puppenkiste. Fast alle Märchenfiguren aus Andersens Märchen tauchen in Abrahamsens
Opernhandlung, also auch in der Schnee-Klinik auf. Natürlich gibt es die Großmutter, die den Kindern ganz zu Anfang vorliest und zu der die Kinder, erwacht und erwachsen, wieder zurückkehren. Die Altistin Katarina Dalayman übernimmt auch die Rollen der alten Lappin beziehungsweise der finnischen Alten, die in der Opernfassung zusammenfallen, sowie der alten Frau im Blumengarten. In der Regie sind sie Traumatisierte, weltfern und fremd versponnen in ihr Sein, mit fahl weißer Gesichtsfarbe und weißen Haaren, die Puppen an sich drücken oder mit einem Besen unbeherrscht Schnee aufwirbeln. Andersens Märchen hätten immer etwas Gleichnishaftes, hat einmal ein Komponist angemerkt, der eines seiner Märchen vertont hat. In dieser Produktion wird noch ihre somatische tiefenpsychologische Ebene aufgezeigt. Es passt, dass auch die Prinzessin und der Prinz, bei denen Gerda laut Märchen Station macht, als geisterhaft-spielende Gestalten gespenstisch wirken (Caroline Wettergreen und
Dean Power). Dass die Schneekönigin hier von Bassist Peter Rose mehr als ein Väterchen Frost mit Russenpelzmütze verkörpert wird, daran muss man sich gewöhnen. Zauberflöten-ähnlich stehen bei Kriegenburg eben weibliche gegen männliche Kräfte. Oder das Gefühl und die Emotion gegen Naturwissenschaftliche Allmacht und technokratische Naturverachtung. Die Schneekönigin wird im letzten Märchenkapitel von Andersen als sich im Spiegel des Verstandes in ihrem Schneepalast wähnend beschrieben. Sie fühlt sich der Naturwelt überlegen. Aber diese ideologische Setzung bleibt subkutan, rückt in der Handlung nie plakativ in den Vordergrund. Und wenn Peter Rose dann auch als Rentier mit Geweih auf
dem Kopf Falstaff-ähnlich sich vor ein Bett spannen lässt, um eine der Gerda-Figuren durch den Schnee zum Schneeköniginnenpalast zu ziehen, darf märchenbeglückt geschmunzelt werden. Auch die beiden Krähen als Schornsteinfeger mit Melone auf dem
Kopf und klappernden Holstäben an den Armlängen sind Märchenwesen. Der Schneepalast schiebt sich dann allerdings als ein rätselhafter OP-Tisch nach vorne. Auf ihm liegt die tote Gerda. Durch Schocktherapie und Mitleid soll Kay aktiviert werden. Und er erwacht. Wenn dann im letzten Duett ziemlich ideologieverdächtig von „Eternity“ gesungen wird, ist das dem im Märchen erwähnten Zauberwort „Ewigkeit“ geschuldet, das Kay aus seinem emotionalen Kälte-Gefängnis befreit. In der Oper werden wir mit einem emotional aufschäumend gespielten Happy End belohnt, das Hannigan und Gräßle Hollywoodmäßig – auf der Bühne immer noch Schnee, der mächtig aufwirbelt – auskosten. Die Zeit des Erwachens lässt alle im Schnee-Sanatorium zu einem seltsam traumartig gedehnten Finale auflaufen. Alle drei Gerdas und Kays, Vergangenheit und Zukunft, wirbeln vitalisiert durch die traumverhangenen Gestalten, treffen also noch einmal auf die Märchenfiguren. Gerda und Kay als Erwachsene sitzen dann auch mal kurz bei ihrer Großmutter links in den drei Schalensitzen der Sanatoriumswand. Glück pur, wäre da nicht der alte Mann rechts, wieder Peter Rose, der „Tick-Tick-Tick“ hineinwirft und eine Uhr ablaufen lässt. Ist das jetzt der Großvater, der dem Familienglück abhanden gekommen ist? Und dann schluchzt er auch noch, als wüsste er, dass diese Zeit des Erwachens zu Ende gehen wird. Aber das gehört zu einer anderen Geschichte.
Auf magische Weise wirken die wunderbar subtil und in ihrer aufbrausenden Wirkung so wohl dosierten Weihnachtsmärchen-Klänge und ihre Bebilderung nach. Hans Abrahamsen hat sich an seine erste Oper übrigens langsam heran getastet. Jahrelang hat er mit Schneeklängen experimentiert. Freilich nicht im Sinne eines plakativen Rufes nach romantisch verbrämter Wildnis. Der Kopenhagener Komponist hat strukturell und klanglich nach Entsprechungen von Schnee und Schneekristallen gesucht und sie in den Kanontechniken Johann Sebastian Bachs gefunden. 2008 hat er einen faszinierenden Schnee-Zyklus in Kanonform mit Variationen vollendet, Schneestudien, die ihn direkt zum Schneeköniginnen-Märchen seines Landsmanns geführt haben. Es mussten nur noch die Gesangsstimmen in und auf das Schneematerial gelegt werden, was Abrahamsen in sängerisch dankbarer Weise geglückt ist. Ein großes Verdienst für das Gelingen des Abends kommt der Schauspieler-Sängerin Barbara Hannigan im Mittelpunkt zu, aber auch einem großartigen Ensemble, dazu Chor und bayerisches Staatsorchester. Ein 66jähriger Komponist hat einen wunderbaren Opernerstling geschaffen, angesichts dessen Qualität nur das Publikum durchfallen kann. Das möchte man den Münchnern laut sagen. Denn als der Komponist auf die Bühne kommt, wagen doch glatt einige aus den hinteren Rängen „Buhs“ in den Applaus zu rufen. Sie verstummen schnell.
Samstag, 28. Dezember wird die Oper in Kooperation mit BR-Klassik kostenlos und in voller Länge auf Staatsoper.TV übertragen und ab dem 30. Dezember 2019 bis zum 29. Januar 2020 als Video-on-Demand zur Verfügung stehen!