In Ristoris „Lamenti d‘Orfeo“ ruft weibliche Vernunft zur Raison. Orfeo muss seinen Irrtum im Globe Neuss sogar beichten…

Deutsche Prinzessinnen haben sich im Zuge der Aufklärung weit aus dem Fenster gelehnt. Wilhelmine von Bayreuth lässt beispielsweise eine Festa teatrale auf ein eigenhändig verfasstes Libretto komponieren, in dem standhafte Frauen die stets in amouröse Abenteuer verstrickte Männlichkeit zur Vernunft bringen. Im Juni war „L‘Huomo“ auf den Potsdamer Musikfestspielen zu erleben (Siehe Interview mit Dorothee Oberlinger und Opern news). Für die diesjährige Sommeroper im Globe Neuss hat Dorothee Oberlinger wieder eine aufgeklärte Opernfigur entdeckt, die dem Mann den Zeigefinger vorhält. In Giovanni Alberto Ristoris „Lamenti d‘Orfeo“ wird sogar der Mythos von Orpheus auf den Kopf gestellt! (Von Sabine Weber)

(18. August 2023, Globe Neuss) Die Textvorlage hat Giovanni Claudio Pasquini im Sinne Maria Antonia Walpurgis verfasst. Ihr, der bayerischen Kurfürstentochter, legt der frischvermählte sächsische Kurprinz und Ehemann das Werk zum Neujahrsfest in Dresden zu Füßen. Friedrich Christian selbst ist körperlich behindert. Um so mehr bewundert er seine junge, gerade mal 24jährige Frau, körperlich wie geistig agil und musisch begabt. Komponistin, Textdichterin, Sängerin, Pianistin und Mäzenin! Er hofft, ihr zu gefallen, indem er einer Muse das erste Wort erteilt.

Die Leier wie ein Gipfelkreuz auf dem Parnass

Und gleich legt Kalliope los! Dem zwar charismatischen, aber in ihren Augen völlig verstiegenen Sänger-Dichter hält sie dessen Schwachsinn vor. Eurydike sei nun mal verloren. Aus Liebeswahn noch einmal in die Hölle hinabsteigen, um Höllengeister zur Herausgabe zu zwingen? Schon einmal habe Orpheus versagt. Und sein ungeduldiges Zu-früh-sich-Umdrehen sei einzig sein Fehler. Dafür müsse er nicht Götter oder seine Leier verantwortlich machen. Nein, die Leier gehört wie das Gipfelkreuz auf dem Berg auf den Parnass. Und die Verantwortung für dieses erhöhte Sinnbild der Musik in die Hände einer Frau. Ermelinda Talea soll es schützen und pflegen! Das ist barocke Huldigungspraxis! Denn Ermelinda Talea ist Maria Antonia Walpurgis Pseudonym, unter dem sie als Mitglied der Accademia dell‘Arcadia in Rom mit Kollegen kommuniziert!

Ensemble 1700 ist rechts und links auf der kleinen Bühne verteilt

Ristoris Lamenti d‘Orfeo für zwei Sänger und Ensemble ist in dieser Hinsicht unbedingt bemerkenswert. Die Musik ist auf der Höhe der Dresdner Zeit, wo die besten Musiker Europas sich damals versammelten und Ristori als Cembalist und Organist sowie Opernkomponist mehr als 40 Jahre gearbeitet hat. Verständlicherweise kann diese kleine Serenade von 1749 nicht mit einer großen Hasse-Opern konkurrieren und ist wohl auch vom Hofkapellmeister Johann Georg Pisendel noch ein bisschen instrumental mit Oboen und Hörnern aufgepimpt worden. Im vieleckig runden Globe-Bau stehen Pauke und die zwei Hörner auf dem ersten Umlauf oben hinter der Bühne. Dorothee Oberlinger, die Streicher plus Oboen sowie die Continuo-Besetzung ihres Ensembles 1700 rechts und links verteilt, verstellen nicht den Blick und sind dennoch in direktem Kontakt mit den beiden Sängern.

Auch zweistimmig mächtig

Die rezitativische Auseinandersetzung tritt zwar an einigen Stellen „auf der Stelle!“ und man hätte sich wieder so ausgeklügelte Continuo-Farben wie im Juni im Neuen Schlosspalais bei Sanssouci in Potsdam gewünscht. Aber die persönlichen Gefühlsausbrüche in den Da-Capo-Arien werden mit großem Einsatz seitens der Streicher unter Konzertmeister Rüdiger Lotter eingeleitet. Das klingt mächtig, selbst wenn es nur zweistimmig ist.

Mazzullis Mimik als desperate Mum ist umwerfend

 

Francesca Lombardi Mazzulli. Foto: Graca Darius Bijalojan

Francesca Lombardi Mazzulli geht in wallend römischer Toga mit zitronengelbem Überwurf und aufgetürmten Tollen auf dem Kopf in der Rolle der Kalliope auf. Ihre Mimik als desperate Mum vor ungezogenem Sohn ist umwerfend. Zu musikalischen Akzenten stemmt sie die Arme in die Hüften und serviert Zeigefinger-hebend ihre akkurat gemäßigten – eben vernünftigen Koloraturen. Kleine Intonationstrübungen in der Höhe zweier Kadenzen sind da marginal.

Valer Sabadus. Foto: Graca Darius Bijalojan

Valer Sabadus als Orpheus sieht aus wie einer Darstellung des 19. Jahrhunderts entsprungen und spricht im Gegensatz zu Mazullis perfektem Italienisch ein Kauderwelsch. Das ist bei diesem Spezialisten des italienischen Repertoires etwas seltsam, fällt aber wenig ins Gewicht, da nur wenige das im Programmheft abgedruckte Libretto verfolgen. Schade ist, dass die Tongebung manches Mal etwas bemüht klingt. Es fehlte sein sonstiger Countertenorglanz. Vielleicht liegt das an der wirklich unbarmherzig trockenen Akustik im Globe. Spielerisch macht er das natürlich wett.

Francesca Lombardi Mazzulli, Valer Sabadus. Foto: Graca Darius Bijalojan
Die Bühnenprojektionen umschmeicheln

Niels Niemann führt mit originalem Gesten-Repertoire und viel Gesichtsmimik wieder Regie. Johannes Ritter zeichnet wie in Potsdam für Bühne und Kostüme verantwortlich. Feine historisierende Bühnenprojektionen (Video: Marie Rabanus) umschmeicheln in einem Bilderrahmen ästhetisch ansprechend den Diskurs. „Barockeske“ Graphikzeichnungen eines Gebirges (Parnass) sind zu sehen, ein Höhleneingang, in dem der Schatten Eurydikes erscheint und Wolken oder Sternenhimmel dahinter. Alles ein bisschen koloriert, und zum Schluss sitzt die Leier auf dem Berg. Zwischendurch mal kleine grafische Strichzeichnungen, die den Mythos von Sisyphos‘ Steinrollen oder Ixions böses Rad skizzieren, deshalb angeführt, weil die Magie der Leier sie anzuhalten vermochte. Es ist auch klangliche Wort-Ausdeutung erlaubt. Ein Paukentremolo für den finsteren Abgrund, Vogelpfeife, Windmaschine und Steinrassel für entsprechende Naturdarstellungen, was das Publikum hörbar amüsiert und mit Schmunzeln quittiert.

Eine zusammengesetzte Sinfonie mit Konzertsätzen zu Anfang

Als Intro gibt es noch instrumentale Einleitungsmusik. Eine zusammengesetzte Sinfonie mit Konzertsätzen hier involvierter Protagonisten. Erst das Allegro der Einleitungssinfonie zu Maria Antonia Walpurgis Oper Talestri. Mit Lautenüberleitung angeschlossen zwei Sätze aus der Cantate per Flauto von Ristoris Dresdner Kollegen Hasse. Dorothee Oberlinger greift zur Blockflöte und kann ihr Publikum sofort begeistern. Dann zwei Sätze aus einem Oboenkonzert von Ristori, das diesen Wahl-Dresdner auch als Instrumentalkomponisten hören lässt. Clara Blessing spielt wunderbar, aber leider etwas zu leise. Schon hier ist Video-Animation zu sehen: diesmal grafische Bilderkonterfeis erst der Komponistin Walpurgis, dann von Hasse. Von Ristori nur der Namenszug. Ein Porträt scheint es von ihm nicht zu geben. Ein rundes Gesamtkunstwerkprogramm in der besonderen Kulisse des Globe Neuss, das heute Abend nochmals zu erleben ist.

Beginn ist 19:30 Uhr

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