Ein grausames deutsches Schicksal – Grete Minde auf CD beim Orfeo-Label

Eine erschütternde und zugleich begeisternde Entdeckung ist diese Aufnahme! Erschütternd ist das wahre Schicksal der Margarete von Minden aus Tangermünde. Die Patriziertochter wird von ihrer Familie als Hexe angeklagt, um sie vom Erbe auszuschließen, grausam gefoltert und 1619 hingerichtet. Die Stadt hatte mit ihr auch den Sündenbock für ein verheerendes Stadtfeuer drei Jahre zuvor. Theodor Fontane liebte Frauenfiguren. Er hat dieses historische Frauenschicksal in einer Novelle 1880 überformt. Der jüdische Kaufmann Eugen Engel hat auf der Basis dieser Novelle 1933 eine Oper fertiggestellt, die bis letztes Jahr auf ihre Uraufführung gewartet hat. Die hat die Oper Magedeburg posthum nachgeholt. Und im Mai dieses Jahr ist ein Live-Mitschnitt des Deutschlandfunks auf CD veröffentlicht worden. Gestern landete sie in meinem CD-Player. Und ich muss sagen, seit langem war ich nicht mehr so begeistert wie hier von der ersten Minute an. Ohne Unterbrechung musste durchgehört werden. (Von Sabine Weber)

Eugen Engels „Grete Minde” ist mit Solisten, Opernchor und den Magdeburger Philharmonikern bei ORFEO C260352 erschienen


Und  man googelt beim Hören und Librettolesen im Booklet zwischendurch doch mal ganz schnell. Wer war diese Margarete von Minden, der Theodor Fontane 1880 die Novelle widmet, die dieser Oper zugrunde liegt? Gruselig! Auf dem Weg zum Richtplatz werden ihr die fünf Finger der rechten Hand nach und nach mit glühenden Zangen abgezwackt. Ihr Leib mit glühenden Zangen an Brust und Arm verletzt. Sie wird zuletzt lebendig „geschmochten“ – man möchte lieber nicht wissen, was das heißt. „Kaum übliche Grausamkeiten!“, jedenfalls. Ein grausamer Justizmord, der für den 22. März 1619 mit den oben zitierten Worten dokumentiert ist. Eine Tangermünder Patrizierfamilie hat sich ihrer unliebsamen Tochter dieser Art entledigt. Das erschüttert. Fontane schenkt seiner Novelle Gottseidank ein anderes Finale.

Komponist Eugen Engel wird im Konzentrationslager Sobibor ermordet

Warum Eugen Engel, ein vor dem Zweiten Weltkrieg in Berlin lebender und mit Frauenkleiderstoffen erfolgreich handelnder Kaufmann, 1933 diese Oper fertigstellt, ist ein Rätsel bis auf den heutigen Tag geblieben. Wie vor allem. An einen Autodidakt will man fast nicht glauben. Oder hat Eugen Engel heimlich Komposition studiert? Wann, wo, mit wem? Jedenfalls setzt er ein großes romantisches Orchester Staunen-machend in Partitur. Wie es zu der Zusammenarbeit mit Librettist Hans Bodenstedt kommt, einem Nationalsozialisten, ist eine weitere offene Frage. Schließlich wird Grete Minde wegen der Nationalsozialisten nicht aufgeführt. Und sehr böse Volte! Eugen Engel wird im Konzentrationslager Sobibor ermordet. Das kann man auf der Seite der Oper nachlesen. Und auch die Story der unglaublichen Wiederentdeckung einer bis nach Kalifornien gelangten Partitur!

Grete Minde: Vom Aschenputtel zur großen Rächerin
Raffaela Lintl (Grete) Foto: Andreas Lander

Jedenfalls liegt die dreiaktige Oper als Live-Mitschnitt der Magedeburger Uraufführung von 2022 beim Orfeo Label vor. Und ja, der Titel Grete Minde hat erst einmal nicht gelockt. Doch kaum ist die erste von zwei CDs im Laufwerk, überkommt einen Staunen. Volksfeste und Aufläufe besser als in den Meistersingern! Es geht ebenfalls um deutsche Geschichte, um das deutsche Schicksal einer Frau in der Frühneuzeit.  Grete Minde wird vom Aschenputtel zu Fausts Gretchen, bis sie mit Kind auf dem Arm zur großen Rächerin wird und sich auf dem Kirchturm abfackelt.

Raffaela Lintl (Grete), Zoltan Nyari (Valtin). Foto: Andreas Lander
Ein hartherziger Stiefbruder – wie im bösen Märchen

Der Konflikt mit der Familie treibt die Waise Grete aus dem Haus ihres lieblosen Stiefbruders. Dessen Frau Trud neidet Grete nämlich die Liebe zu Nachbarsohn Valtin und erniedrigt sie ständig. Grete und Valtin brennen also durch und schließen sich einer fahrenden Puppenspieleruppe an. Valtin erkrankt auf den Tod und bittet Grete, des gemeinsamen Kindes wegen, zu Ihrem Stiefbruder zurück zu kehren. Gerdt weigert sich hartherzig wie im bösen Märchen, Grete wieder aufzunehmen. Und auch das Kind will er nicht. Grete fordert als letzte Möglichkeit ihr Erbe ein. Aber auch das verweigert er ihr. Die um Hilfe gebetenen Ratsherren entziehen ebenfalls ihre Unterstützung. Ohne Überlebenschance zündet sie den Kirchturm an, auf den sie steigt, bereitet sich ihrem zuvor bitter frierenden Kind ein letztes Feuer und nimmt in Kauf, dass das Kind ihres Stiefbruders und Trud im eigenen Haus ebenfalls verbrennt. Das ist ihre Rache.

Marko Pantelic (Gerdt), Raffaela Lintl (Grete), Opernchor des Theaters Magdeburg. Foto: Andreas Lander
Es geht auch um religiöse Konflikte

Diese dreiaktige, auf zwei CDs verteilte Oper ist dramaturgisch genial konzipiert. Die Spannungsbögen tragen. Das Grauen und Ahnungen befallen einen kurz nach fröhlich entfesselnden Momenten. Beim Anhören wird man jedenfalls richtig süchtig von den Klängen, kann nicht auffhören, sieht beim Hören sogar die Szenen quasi vor sich. Kopfkino mit Volksszenen, wie ich sie gerade live im Allemannenhock in Mengen bei Freiburg erlebt habe, aber ohne heranziehende Puppenspieler, die dann auf offener Bühne spielen, mit Bühnenmusik aber auch Ferninstrumente aus dem Off, sich die verliebten Grete und Valtin treffen, Trud darüber trauert, dass ihr Gerdt, Stiefbruder der Grete, zu ihr so lieblos ist. Heilige Kirchenszenen als Kontrast zu den grausamen Ungerechtigkeiten des alltäglichen Lebens, die Grete widerfahren. Zurückgestoßen, allein gelassen … Es geht bei Fontane auch um religiöse Konflikte, denen Grete ausgeliefert ist. Im Libretto sind sie zwar weniger zum Thema gemacht, dafür greift die Musik von Eugen Engel sie auf. Protestantische gegen katholische Kirchenmusik! Grete ist wie ihre früh verstorbene Mutter Katholikin, das macht sie verdächtig, denn sie lebt in der protestantischen Gemeinde von Sankt Stephan. Valtin wird übrigens das Grab auf protestantischem Boden verwehrt. Eine katholische Stiftsherrin bietet ihm die letzte Ruhestätte. Ihre Stiftsdamen intonieren ein katholisches Miserere. Vor dem Feuerfinale singt der Chor aus dem Off einen protestantischen Choral über den Tod mitten im Leben.

Diese CD ist ein Hörgewinn

Sämtliche Auseinandersetzungen in Dialogen oder Arien, natürlich auch den eingebundenen Chornummern gestalten das Drama bis zum Höhepunkt. Chor und Solisten „agieren“ – Bühnengeräusche sind zu hören – und verkörpern ihre Rollen formidable. Stellvertretend seien aus dem Ensemble genannt: Raffaela Lintl als Grete Minde, Zoltàn Nyári als Valtin oder Kristi Anna Isene als Trud Minde. Herausragend auch die Domina des Damenstifts, Karina Repova. Vielleicht hätte bei einzelnen etwas mehr an der Textverständlichkeit gearbeitet werden können. Aber musikalisch gibt es nix auszusetzen. Zumal Anna Skryleva, Generalmusikdirektorin in Magdeburg, ihre Magdeburgische Philharmonie großartig führt und aufspielen lässt. Diese CD ist eine großer Hörgewinn, die ganze Story drumrum auch medial zu Recht vielfach gewürdigt worden. Das Beste ist, wenn man sich beim Hören der CD so richtig begeistert hat, dass in der kommenden Saison 23/24 Grete Minde in der Inszenierung von Olivia Fuchs wieder in Magdeburg aufgenommen und besucht werden kann!

Termine sind am 14./ 29. Oktober, 25. November, 17. Dezember 2023.

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