Zum Saisonende: Olivier Messiaens „François d’Assise“ als achtstündiger Erlebnistag in Stuttgart!

Wir sind heute ein bisschen heiliger geworden! Berührt, bewegt, beeindruckt von der Messiaenschen Heiligenvita, in die wir einen ganzen Tag lang in Stuttgart eingetaucht sind und die wir wie musikalische Exerzizien erlebt haben. Nachdem Michael Mayes in der Megarolle François d’Assise nach acht Stunden aus seinem Geschirr befreit wird, das ihn zuletzt mit Libellenflügel in den Bühnenhimmel gezogen hat, und er sich dem Publikum zuwendet, wird er in der ausverkauften Oper Stuttgart bejubelt und gefeiert. Die Menschen springen auf und schreien, der Chor im Hintergrund klatscht mit. Ob ihm das hilft, aus der Heiligenrolle rauszukommen? Um 14 Uhr hat sie begonnen, jetzt schlägt es 22 Uhr. (Von Sabine Weber)

Michael Mayes (François d’Assise), Staatsopernchor und Statisterie Stuttgart. Foto: Martin Sigmund

(9. Juli 2023, Staatsoper Stuttgart) Michael Mayes lacht. Vielleicht auch erleichtert, weil er das Heilig-werden, die Open-air-Predigt, die Stigmatisierung, Sterben und Verklärung des minderen Bruders Franziskus von Assisi bis zuletzt mit souverän volltönendem Organ bei vollem Spieleinsatz in sengender Hitze überlebt hat. Das Stuttgarter Regie-Team mit Anne-Sophie Mahler (Regie und Raum) hat den Mann, ausgestattet mit Samurai-Dutt, und wie alle Franziskanermöche des Stücks in Lumpen-Hoody-Kutte eingekleidet, einer gewaltigen körperlichen Prüfung unterzogen. Die Stützstrümpfe an den Knien sind nicht zu übersehen, rast er doch Treppauf-Treppab in einer kleinen Waldbühne in einem Open-air-Theater.

Beate Ritter (Engel) vor Franziskus auf Knien. Foto: Martin Sigmund

Natürlich sind auch die anderen Solisten gefordert, wie Beate Ritter beispielsweise aus dem Opernstudio in der wichtigen Engelrolle als Fantasie-Libelle im Paillettenkostüm (Kostüme: Pascal Martin), dazu der Staatschor und das Staatsorchester Stuttgart unter Titus Engel. Für die gewaltige Predigt Franziskus’ samt kleinem und großem Vogelkonzert im zweiten Akt zügelt die Stuttgarter Oper in die Freilichtbühne auf dem Killesberg. Abbau, Umzug, Aufbau und retour wieder ins Opernhaus fürs Finale. Ein gewaltige Logistik bewältigt die Oper Stuttgart und dies ohne Komplikation. Denn auch 1400 Zuhörer sind in Gruppen mit den Öffentlichen Verkehrsbetrieben und Sonderbussen für Bewegungseingeschränkte zum Killesberg geleitet worden. Dort durften wir, mit Kopfhörer und Miniplayer ausgestattet, via Konserve dem Tableau des „Reisenden Engels“ lauschen, während durch den Killesberger Park zur Freilichtbühne gepilgert wurde.

Das Publikum wird in Gruppen mit der U-Bahn zum Killesberg begleitet. Foto Martin Sigmund
Der Engel und die von Messiaen so geliebten Vögel

Die 34,5 Grad Celsius und sengende Sonne haben an diesem Sonntag uns Publikumspilger nicht abgeschreckt. Vor Beginn scharten wir uns auf der Treppe im Schatten des Haupteingangs. Manche, so erfahren wir, seien schon eine Stunde vorher angereist, um ja nichts zu verpassen. Es ist ja auch der letzte Franz-von-Assisi-Erlebnistag in Stuttgart und sogar Journalistenkollegen aus Paris treffen wir. Keiner murrt im Nachhinein über die katholischen Bittgesuchsanrufungen bis gefühlig-rührigen Erklärungen über die göttliche Liebe, die Messiaen möglicherweise Heiligenlegenden entlehnt, aber sicherlich von Giotto-Fresken inspiriert dem Heiligen Franz in den Mund gelegt hat. Franziskus liebte und predigte den Vögeln. Messiaen lässt ihn erklären, Musik und Farben seien das Ausdrucksmittel der Mittler zwischen Himmel und Erden. Also der Engel und der von Messiaen so geliebten Vögel und Vogelstimmen! Das erfahren wir hörend und sehend an diesem Tag!

Wir haben Schutzengel
Michael Mayes (François d’Assise). Foto: Martin Sigmund

Welch gewaltigen Spielraum die Oper in Stuttgart geöffnet hat! Einen Tag lang Messiaen-Mysterium! Und die Pausen taten auch gut, um die Eindrücke mit ins Leben zu nehmen. Beziehungsweise zu einer Pilgergemeinschaft zusammen zu wachsen. Vor dem letzten Teil erhalten wir ein kleines Lunchpaket mit Quiche und Wasserflasche und sitzen wieder vor der Oper auf Mäuerchen von Beeteinfassungen vor Springbrunnen. Die musikalisierten Phrasen Messiaens, redundant, gebetsmühlenartig, winden sich weiter durchs Gehirn. Während des Spaziergangs auf dem Killesberg hat das Ritual richtig begonnen. Leider durch eine sehr gebändigte Natur aus viel zu viel kurz getrimmtem verbranntem Rasen, zu wenig Bäumen und Schatten und erdrückenden Luxusquadern drumrum. Aber hörend – bei guter Qualität der Ausspielung – und Libretto-lesend zirka eine Stunde zu wandeln, dann doch ein schönes Primel- und Rosengärtlein zu finden, sowie einen Sandsteinbruch mit kleinsten Wasserläufchen, das fügte sich in den Erlebnistag. Zwei Libellen-Engel-Doubles begegnen uns – wir haben Schutzengel…

Messiaen schreckt weder vor Kitsch noch Gewaltigkeit zurück

Messiaens mystisch-geheimnisvolle Musik trägt diesen Tag wie ein Ritual. Selten genug hören wir diese Musik so vorzüglich wie in Stuttgart. Und so sitzt das Orchester im ersten Akt auch erstmal sichtbar auf der Bühne und ist Hauptakteur. Messiaens Patterns, wirbelnde Marimbaklänge, dann ein Siebentonmotiv, das fast von Anfang an omnipräsent ist, ein Schmachtthema der göttlichen Liebe und natürlich Vogelstimmen als Leitmotive erklingen von der gewaltigen Besetzung. An die 150 Musiker – inklusive Kontrabassklarinette, zwei Tuben und Basstuba sowie drei Marimbaphone und ein doppeltes Set an Röhrenglocken – sorgen für immer neue Farben. Nicht zu vergessen die wabernd-mystischen Klänge des Ondes Martenot. Messiaen schreckt ja weder vor Kitsch – immer wieder süßliches C-dur! – noch vor Gewaltigkeit zurück, entwickelt dazu komplexe Rhythmen wie in indischen Ragas, lässt Orchester und Solisten in liturgischen Antiphonen alternieren, psalmodieren oder gibt im letzten Akt Franziskus Gesang homophon von Orchesterblöcken begleitet Wucht.

Wabernde Masse im schrägen Spiegel
Staatsopernchor Stuttgart und Statisterie. Foto. Martin Sigmund

Die Anrufung Gottes, der dann durch die Gewaltigkeit der Chormasse inkarniert den Heiligen quasi aufsaugt, ist das überwältigende Erlebnis im dritten Akt. Mehr Heiligkeit und Gotteswucht geht nicht! Das Bühnenbild dazu ist atemberaubend. Ein Nervenbahngeflecht, goldgelb wie die Sonne und durch Lichtprojektionen durchflossen, senkt sich als Vorhang und legt sich über den Chor. Der wird als wabernde Masse im schrägen Spiegel über der Bühne reflektiert und sieht aus wie eine Schaummasse auf dem Meer. Dagegen wirkten die „Kunstnatur-Bilder“ des toten Hasens à la Beuys im ersten Akt gewollt, ging es Franz doch um die lebende Kreatur und nicht um das Spielen mit einem ausgestopften Tothasen wie mit einer Puppe. Die Videoprojektionen auf Gazevorhängen sind aber gut gemacht. Am Anfang weiß man nicht, ob der Hase im Lauf oder tot aufgenommen wurde. Die Nahaufnahmen einer Gottesanbeterin und die Metamorphose einer Libelle werden als erschreckende Wunder der Natur verbucht.

Die Mönchsgrasmücke

In der amphitheatralen Freilichtbühne am Killesberg wird das Orchester noch einmal anders erlebt. Wir sitzen neben dem Blech und vor einem der Schlagzeuger. Die Sicht ist leicht eingeschränkt wegen gewaltiger Bühnenboxen. Akustisch verstärkt scheint aber nur der Chor, der gegenüber dem Orchester aufläuft oder abtritt. Er summt mystisch, bevor Franziskus, hier mit unglaublich cooler Sonnenbrille, bei der wohl mystischsten Musik mit Ondes-Martenot-Solo in Trance oder Ohnmacht fällt. Die Vogelkonzerte wecken ihn dann auf. Amüsant, dass die Vogelarten, so sie in der Partitur singen, auf einem Laufschriftband eingeblendet werden. Diese kleine ornithologische Musikstunde – immerhin eine Dreiviertelstunde lang – müsste dem Hobbyornithologen Messiaen gefallen haben und wäre im Opernhaus vielleicht zu mühsam gekommen. Mit Blick in die Bäume ringsherum fühlt es sich richtig an. Und das laute Zwitschern eines echten Rotkehlchens in die Musik hinein ist ebenso kurios wie die Pappmaché-Vögel, die von Statisten auf Stecken auf die kleine Waldbühne getragen und hingestellt werden. Zum Gesang wird also noch das Vogelbild geliefert. Und endlich hat ein immer wiederkehrendes Thema sein Bild und seinen Namen. Die Mönchsgrasmücke – Nomen est omen – ist nämlich Franziskus zugeordnet.

Vögel zwitschern bei Messiaen nicht nur hell und herzlich

Die Sängerrollen sind gut besetzt, und die Partien gut hörbar, weil Messiaen vielfach unbegleitet intonieren lässt. Extra Erwähnung verdiente noch Moritz Kallenberg als Leprakranker und wie Beate Ritter aus dem Opernstudio. Bei Titus Engel liegt die Musik in den richtigen Händen, hat er sich doch für Neue Musik und ungewöhnliche Aufführungsereignisse wie bei der Ruhrtriennale einen Ruf erworben. Das Staatsorchester Stuttgart, oftmals mit Vokalisen unterstützt vom Chor – das lieben die Franzosen seit impressionistischen Zeiten – lässt sich vorzüglich auf Maestro Engel ein. Sein Timing ist perfekt. Auch beim Open-Air-Auftritt mit übergezogener schwarzer Kapuze, die er am Pult abzieht. Das Orchester reagiert immer auf den Punkt. Die Einsätze sind ja vielfach heikel, die Holzbläser müssen des öfteren kollektiv wie ein wuselndes Vogelkonzert auf den Punkt entfesselt werden. Die Solistenbläser im großen Vogelkonzert stehen sogar auf. Einmal drei Hörner. Vögel zwitschern bei Messiaen nicht nur hell und herzlich.

Ein einmaliges Opernexperiment

Um 22 Uhr fühlt man sich wie aus dem Messiaen-Jordan aufgetaucht. Und besser kann man Messiaen eigentlich nicht in Szene setzen. Diese spirituelle Erfahrung in Raum und Zeit auf musikalisch höchstem Niveau wird in die Sommerpause nachhallen. Der Oper Stuttgart kann für dieses einmalige Opernexperiment gratuliert und gedankt werden…

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