„Die ersten Menschen“ sind die letzten! Rudi Stephans einzige Oper erlebt in der Regie von Tobias Kratzer in Frankfurt eine grandiose Neuinterpretation

Rudi Stephans „Die ersten Menschen“ sind hier 1920 sogar aus der Taufe gehoben worden. GMD Sebastian Weigle hat sich eine Neuproduktion zum Abschied gewünscht. Solche Herausforderungen sind dem Wagner-Connaisseur Herzensangelegenheit. Wagner, Debussy, Strauss sogar Weillsche Rhythmik ist aus Stephans Amalgam-Partitur herauszuhören, die das mit 28 Jahren auf dem Schlachtfeld 1915 gebliebene Talent doch so einzigartig gegossen hat. Diese Partitur gibt dem „ekstatischen Mysterium“ Otto Borngräbers das nötige Fleisch. Den etwas gestelzten Wortflüssen Spannungsfaçon, den Konflikten die Munition, der Leidenschaft den freudianischen Trieb. Borngräber unterzieht die „ersten Menschen“ Adam, Eva, Kain und Abel einer Psychoanalyse und funktioniert die biblische Geschichte zu einem inzestuösen und erotisch aufgeladenen Drama um. Hier begehrt Kain seine Mutter und bringt den Bruder um, weil er ihn inflagranti mit seiner Mutter erwischt! (Von Sabine Weber)

(2. Juli 2023, Oper Frankfurt) Borngräber, Dramaturg, Philosoph und Anhänger der Lebensreformbewegung vom Monte Verità und den 13 Jahre jüngeren Komponisten muss die widerständige Figur in dem biblischen Quartett gereizt haben. Wie Judas, der Verräter, ist der alttestamentliche Kain, als erster Mörder der Menschheitsgeschichte, ein interessanter Außenseiter, denn genau die stören den Mainstream. Warum ihnen nicht mal eine Stimme geben? Mit ihnen die Menschheit entscheidende Fragen aufwerfen?  Amoz Os in seinem Judas-Roman oder Jose Saramago in seinem unvollendeten Roman Kain haben genau das getan. Saramago lässt 100 Jahre nach Borngräbers „Die ersten Menschen“ Kain sogar mit Gott abrechnen.

Ian Koziara (Chabel). Foto: Matthias Baus
Der Gottesliebling hat hier von Anfang an blutige Hände

Aber auch bei Borngräber/Stephan klagt Kaijn (die biblischen Namen sind dem Hebräischen entlehnt) Gott an! In der zentralen Bruderszene im zweiten Teil stellt Kaijn seinem Bruder Chabel (Abel) die entscheidenden Fragen: „Wie kannst Du ein Schaf töten? Du tötest Deinen Bruder! Und im Namen Gottes! Wie die Scheite zusammentragen, für die Bäume sterben müssen, deren Grün ich so liebe!“ Aber Chabel wühlt mit sadistischer Lust in den Eingeweiden des Gott geopferten Schafes, um dessen blutiges Herz heraus zu ziehen. Der Gottesliebling hat hier von Anfang an blutige Hände!

Ein spannungsgeladener Dauersound, der das Triebleben der Figuren quasi hörbar macht

Tobias Kratzer und sein Regieteam machen die ersten Menschen zu den letzten. Der Beginn der Menschheitsgeschichte wird mit ihrem möglicherweise bald sogar aktuellen Scheitern kurzgeschlossen. Umweltkatastrophen oder Krieg – kommt auf dasselbe hinaus. Womit durchaus den apokalyptischen Bildern in den Wortkaskaden Borngräbers gefolgt wird. Von Feuer, Blitz und Sturm ist die Rede, dem Sturm der Lust vor allem, von Sehnsucht und dem Schrei nach körperlicher Liebe. Steilvorlagen für Komponist Stephan, der bereits nach wenigen Minuten großes Feuer verschießt und immer wieder emotionale Großangriffe aus dem Graben auftürmt. Stephan liefert permanent ein wundersam wirksames Stimmungsbarometer und stiftet erstaunlicher Weise im expressionistisch befremdlichen Wortfluss fühlbar Sinn. Mal sind es nur die Streicher, ein Capriccio-Streichsextett, dann die Hörner, oft gestopfte im Quartett. Linien verfahren sich bis hinein in die Atonalität, Orgelklänge retten und stiften Scheinheiligkeit. Die Wechsel in der Musik sind effektiv schnell, von Dur nach moll des öfteren wie bei Mahler plötzlich. Ein spannungsgeladener Dauersound, der das Triebleben der Figuren quasi hörbar macht. Diese Partitur müsste man mal in aller Ruhe studieren können!

Iain MacNeil (Kajin; auf dem Sofa liegend) und Andreas Bauer Kanabas (Adahm; vor der Leinwand) sowie Ambur Braid (Chawa; im Film). Foto: Matthias Baus
Ein bemerkenswertes Figuren-Quartett

Die Klarinette ist übrigens die Klangfarbe Kajins. Später sogar das Saxophon. Kajin (Iain McNeal aus dem Ensemble) fläzt sich in Frankfurt erstmal als pubertierender ältester Sohn in Fliegerseide und Ripp-Shirt mit ungepflegten Haaren auf einer Couch und zieht sich die Decke über den Kopf. Er ist der hohlen Predigten seines Vaters überdrüssig, hat Schmacht und begehrt irgend ein wildes Weib. Das einzige Weib in dieser Welt ist Chawa (Eva; ein dramatischer Sopran, Ambur Braid). Und die läuft hier mit ihrem sexuellen Trieb ganz schön auf. Denn Adahm (Bassist Andreas Bauer Kanabas) ist lustlos, bastelt spießig lieber an der Pflanzenlampe und pikiert als Hobbygärtner Setzlinge. Chabel (Abel, Tenor Ian Koziara, einziger Gast) klettert in Schutzanzug mit Gasmaske auf einer Leiter von oben hinein. Jetzt versteht man, dass die Fenster mit den grell gelben Rapsfeldern Fake sind, erkennt neben der Wohnküche das Notstromaggregat und auf der anderen Seite den Vorratsraum. Die Kleinfamilie lebt in einem Bunker. Und Chabel mimt den Glaubensguru, der das Wort „heilig“ auffallend oft in den Mund nimmt, das sich in der Wiederholung hochschraubt bis hin zu „Gott“ auf höchstem Spitzenton. Chawa und Adahm bewundern ihn, was Kajin noch widerständiger macht.

Iain MacNeil (Kajin) und Andreas Bauer Kanabas (Adahm). Foto: Matthias Baus
Das Gestelzte der Sprache und ständig überbordender Ausdruck in der Musik – in jedem Moment in glaubhafte Szene übersetzt!

Kratzer gelingt es, das Gestelzte der Sprache und den in der Musik ständig überbordenden Ausdruck in jedem Moment so in Szene zu setzen, dass es ins Alltägliche gebrochen erschreckend verständlich wird. Nie platt oder aufgesetzt. Die Darsteller-Sänger verschmelzen mit ihren Rollen. Iain McNeal denkt nach, tritt aber als aggressiv triebgesteuerter Teenager auch mal gegen die Vorratsregale und kämpft permanent gegen die Gottgläubigkeit von Bruder und Vater an. Andreas Bauer Kanabi als biederer Hausvater hat seine Leidenschaft längst im Gottglauben ertränkt und schaut sich Super-8-Filme von den Kindern im Planschbecken und Mutter vor Erdbeertorte an, um heile Welt zu beschwören. Ambur Braid in Kittel und Birkenstocks als vernachlässigt-verbittertes Mütterchen ist noch mächtig Sexualhormon-gesteuert und weiß nicht, wohin mit der Lust. Dass Kajin sie begehrt nimmt sie wahr, zeigt sich aber von ihm abgestoßen. Alle bewältigen große Partien, die wirksam angelegt und auch mal mit Sprechgesangähnlichem verziert sind, aber durch das häufige Übersingen des Riesenorchesters und die hohe Tessitura sind es eben Monsterpartien. Die größte bewältigt Ambur Braid manchmal hart an der Schreigrenze entlang.

Im Finale wird ein dramaturgisch völlig unglaubwürdiger Traum szenisch wahr

Im zweiten Teil kommen alle aus dem Heilewelt-Bunker an die zerstörte Erdoberfläche mit Schrottkombi, der ausgebrannten Familienkarre, und verkohlten Baumstümpfen (Bühne und auch Kostüme: Rainer Sellmaier). Dampfend schwarz ist die Welt, in der Kajin verzweifelt sein wildes Weib sucht, weil Chawa ihn abgelehnt hat und Chabel Gott opfern will, wobei letzterer auf die schlaflose Chabel trifft und mit ihr im Auto verschwindet. Kajin findet sie und erschlägt Chabel aus verletzter Eitelkeit. Geschockt von seiner Tat lässt Kratzer ihn biblisch inkorrekt sich selbst entmannen, denn er zeugt ja noch ein Geschlecht, worauf Adahm nix anderes einfällt, als eine neue Menschheit auszurufen. Schutzanzugmenschen erscheinen und machen diesen dramaturgisch völlig unglaubwürdige Traum szenisch wenigstens wahr. Es ist der einzige Moment des Abends, der nicht glaubwürdig ist und aufgesetzt wirkt. Aber die Musik ist so stark und apotheotisch, dass es hingenommen wird. Das Schockfinale des Dramas wirkt noch lange nach. Und fast ist es nicht auszuhalten, dass auf der Bühne sympathisch Zeremonie gemacht wird, der Frankfurter Bürgermeister sowie Intendant Bernd Loebe erscheinen, um Sebastian Weigle zum Abschied herzliche Dankesworte zuzusprechen und Blumen zu überreichen. Der GMD ist übrigens – sehr bühnenwirksam – durch den Bunkerausstieg der „Ersten Menschen“ auf die Bühne geklettert!

Frankfurt – letztes Jahr Opernhaus des Jahres – hat mal wieder musikalisch wie regiemäßig eine bemerkenswerte Produktion gestemmt. Gut möglich, dass „Die ersten Menschen“ von Rudi Stephan die Wiederentdeckung der Saison werden!

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