Männeroper „Billy Budd“ – Gegenstück zu „Bernarda Alba“

In „Billy Budd“ riecht man sehend den Schweiß der Männer! Die zweite Oper Benjamin Brittens spielt auf einem Kriegsschiff im Einsatz. Aribert Reimanns Frauentragödie „Bernarda Alba“ findet in einem klaustrophobischen Haushalt in der spanischen Provinz statt. Als Gegenüberstellung hat Intendant Michael Schulz die nur mit Männern, bzw. Frauen besetzten Opern im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier in der Spielzeit 22/23 auf den Plan gesetzt. Und weder noch ist die Welt heil! (Siehe die Premieren-Besprechung von „Bernarda Alba“ auf klassikfavori). Das männliche Gegenstück hatte sogar noch davor im März Premiere. Die siebente Vorstellung kurz vor Saisonende wird endlich besucht. Was für ein Glück. Denn die Männer liefern ebenfalls höchstes Niveau und ein Highlight der Saison. Michael Schulz hat sie in Szene gesetzt. (Von Sabine Weber)

(22. Juni 2023, Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen) Ein ovales schwarzes Bullauge umfasst den Bühnenrand. Dahinter ist eine Kapitänskajüte zu sehen. Die der HMS Indomitable. Das ist ein ehemaliges Kriegsschiff, das wie die königliche Yacht Britannia nur noch Museumsschiff ist. Bevor die Musik einsetzt, flanieren Besucher an Tauabsperrungen vorbei. Darunter Kapitän Vere in zivil. Er kehrt an den Ort seiner Tragödie zurück. Was sich auf dem Schiff abgespielt hat, beschäftigt ihn immer noch. Der Prozess damals, der Billy Budd gemacht wurde, ist sein Prozess gewesen und verfolgt ihn seitdem. Vere hat nicht verhindert, dass Billy Budd gehängt wurde. Das wiegt wie die Erbsünde schwer!

Martin Homrich (Kapitän Vere). Foto: Fotos: Karl und Monika Forster

Edward Fairfax Vere steht im Zentrum dieser 1951 uraufgeführten zweiten Britten-Oper. Und findet in Gelsenkirchen mit Ensemblemitglied Martin Homrich einen britisch distinguierten, zugleich lyrischen Interpreten, vieler stimmlicher Farben fähig. Sie verleihen Veres Zerrissenheit zwischen autoritärer Führung, seinen Billy Budd zugewandten Gefühlen, und dem Ausgeliefertsein an Regel und Gesetz unter Kriegsrecht Ausdruck. Homrich ist nur einer von fünf Tenören, wie wir von ihm höchstpersönlich beim informellen überdachten Rauchertreff neben dem Operngebäude in einer ziemlich schummrigen Ecke erfahren. Der Starkregen hat uns kurz vor Aufführungsbeginn zufällig dort hingetrieben. Ziemlich abgewrackte Statistenmatrosen umringen ihn.

Insgesamt 16 Solisten erfordere dieses Werk! Das muss ein Opernhaus erstmal stemmen, zumal die Partien anspruchsvoll sind. Gelsenkirchen stemmt alles! Das Gesangsensemble ist ausnahmslos großartig, ebenfalls der Männermatrosenchor des MiR, aktiv ins Geschehen eingebunden. Und die Neue Philharmonie Westfalen unter Rasmus Baumann aus dem Graben. Es blitzen solistische Momente auf – oftmals geführt von Flöten, die Britten geliebt hat. Aber auch Saxophon- und Bassklarinettenmelodien mischen mit. Und das tiefe Blech röhrt von ganz rechts gewaltig und tragisch. Samt der Pauke, dann wird es ganz schlimm. Aber am schlimmsten sind die Akkorde, die im zweiten Akt Minuten-lang wabern, wenn Vere Billy Budd das Todesurteil verkünden soll und keinen Ton herausbekommt. Die schnüren einem wirklich den Hals zu, weil sogar Liebe in dem grausamen Moment steckt. Billy Budd verzeiht Vere…

Michael Tews (Claggert), Chor. Foto: Karl und Monika Forster

Es wird stark musiziert und gespielt. Und die Charaktere sind wie in einem guten Spielfilm besetzt. Stellvertretend sei genannt: Bariton Dominik Köninger als naiv gutmütiger, jugendlich starker, jedoch jähzorniger Billy Budd,  der ebenso eine Erscheinung ist wie der ihn hassende Gegenspieler John Claggert mit Michael Tews. Kostümbildnerin Renée Listerdal hat Claggert in eine dunkle Kampfmontur und Springerstiefel eingepackt. Wie eine Comicgestalt bringt Tews widerliche Bösartigkeit allein schon in der Mimik zum Ausdruck und fundiert das Böse mit abgründigen Bass-Tönen. Claggert kämpft gegen alle und, verbiestert-verbittert, zu allererst gegen sich selbst. Wie kann jemand Freude daran finden, jemanden ins Verderben zu stürzen? Und das Widerlichste hier, ihn schützt das Kriegsrecht!

Die Seemanns-Tragödie in einem englisch-französischen Seekrieg, von Hermann Melville entworfen, spielt bei Britten natürlich an Bord. Wenn die Hebebühne die oben erwähnte Kapitänskajüte versenkt hat, zeigt sich das Deck! (Bühne: Dirk Becker) In Gelsenkirchen eine leere schwarz-dunkle Bühne, auf der lediglich fahrbare, die Takelage andeutende Leitergerüste hin und hergeschoben werden (Bühne: Dirk Becker). Statt der Offizierskabine zeigt sich auch mal eine Mannschaftskajüte mit Feldbetten statt Kojen. Es findet dort einmal ein ausgelassenes Fest der Matrosen statt, das Britten volkstümlich anhaucht. Die Szenen sind reibungslos ineinander verzahnt. Bei einem der vielen Zwischenspiele bleibt auch mal der Vorhang geschlossen. Fürs Nachempfinden.

Die Regie von Michael Schulz entwickelt die menschlichen Tragödien wie unter einem Brennglas. Die fahrbaren Leitern bilden immer wieder neue Brücken oder Abgrenzungen, oder werden passend zum Ausguck. Dazwischen prallen die Menschen aufeinander, es reihen sich die Ereignisse. Der mythischen Gestalten, die Schulz zusätzlich eingeführt und die Billy Budd, Claggert oder Vere begleiten, hätte es gar nicht bedurft. Zumal das Drama sehr menschlich ist und allegorische Ebenen eigentlich ausschließt.

Es ist ein eindringliches Werk, in dem Pazifist Benjamin Britten nicht zuletzt den Krieg, hier die Auswirkungen unter Kriegsbedingungen auf einem Kriegsschiff anprangert. Das Erpressen von Besatzungsmitgliedern, die Unterdrückung der Mannschaft unter absoluten Gehorsam bis hin zu Quälereien einzelner, Bestrafung durch Peitschenhiebe, nicht zuletzt antifranzösische Ressentiments, Kriegslust und Kriegsgeheul. Im Libretto ist von der „schwimmenden Demokratie“ – mit der Angst vor Meuterei gekoppelt – und der auf dem Schiff geltenden „schwimmenden Monarchie“ immer wieder die Rede. Das Schreckensgespenst er französischen Revolution! Doch vor allem erzählen Britten und seine beiden Librettisten von dem, was einem Individuum widerfährt, das sich gegen einen böswilligen Vorgesetzten nicht zu wehren weiß. Das gibt es in allen „Sytemen“! Wenn die Musik des Anfangs am Ende nach zweieinhalb Stunden nochmals erklingt, ist Billy Budd an der Rahe aufgeknüpft worden und Kapitän Vere sehr einsam! „Retten Sie mich!“ hat Billy Budd ihn angefleht. Aber er rettet ihn nicht, sondern lässt Kriegsrecht gelten. Er hat lediglich seinen Unteroffizieren das Standgericht augepfropft, damit er das Todesurteil nicht fällen muss. Alles sehr authentisch. Und authentisch auf der Bühne umgesetzt wie in einem Film.

Der Hausherr-Intendant Schulz sitzt bei der letzten Aufführung auch im Publikum. Ohne krankheitsbedingt mit Einspringersänger da parte auf der Bühne mitspielen zu müssen. So war das bei den ersten Aufführungen. Vielleicht kann man von diesem Stück und seiner unglaublich genau konstruierten Tragik, szenisch wie musikalisch, auch nicht genug bekommen. Jedenfalls ist dieser Wurf in Gelsenkirchen ebenso stark wie die „Bernarda Alba“ von Dietrich Hilsdorf. Gewinnt die Männer- oder die Frauen-Oper?

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