Ausverkauft! Zur Uraufführung von Detlev Glanerts „Oceane von Parceval“, frei nach einem gleichnamigen Fragment von Theodor Fontane, quetscht sich das Publikum in die Parkettreihen. Und mit seinen 1850 Plätzen ist die Deutsche Oper Berlin kein kleines Haus! Ist es etwa das Interesse an Neuer Musik, an Theodor Fontane, immerhin vor den Toren Berlins in Neuruppin geboren und ein großer Jubilar dieses Jahr? Oder ist es das Interesse am hier heimisch gewordenen Komponisten? Der Wahlberliner Detlev Glanert lebt hier seit 1987. Als Donald Runnicles, Generalmusikdirektor der Oper und Dirigent des Abends, den Orchestergraben betritt, brandet mehr als Beifall auf! Erwartung und Vorabbestätigung zugleich. Alles steht unter einem guten Stern an diesem Abend. Das Sängerensemble ist großartig besetzt: mit Doris Soffel als Grande Dame und Hotelbesitzerin, mit Maria Bengtsson in der Hauptrolle und Tenor Nikolai Schukoff als ihrem Paarpartner. Die finnisch-schwedische Bengtsson ist ein gefragter Berliner Liebling und eine der wenigen, die derzeit an allen drei Opernhäusern der Hauptstadt zu erleben ist. Also das Sängerensemble und eine feinsinnig bis großartig aufgefächerte Musik, die auch mit rapiden Stimmungsumschwüngen und rasanten Wechseln von Gruppen- und Ensembleszenen für Tempo sorgt, überzeugen an diesem Abend. Dazu die beeindruckende Videoprojektionen eines Meeres, das von der gigantischen Hohlkehle im Bühnenhintergrund bis in den Orchestergraben brandet. Für einen heutigen Komponisten muss das eine Bestätigung sein. Zumal Detlev Glanert einer der wenigen ist, die nur vom Komponieren leben. Und dennoch ist die Aufregung am Tag der Premiere groß. Unser Interview wird auf den Tag danach verlegt. Wie man sich nach diesem Erfolg fühlt, musste die erste Frage sein. (Das Interview führte Sabine Weber)
Beglückt und überrascht! Es ist so, dass man das Berliner Publikum schwer einschätzen kann. Die können auch sehr unangenehm werden bei manchen Premieren. Man muss so gut proben und so präzise vorbereiten wie es geht. Und der Rest ist in Gottes Hand und des Berliner Publikums. Dass es so ein Erfolg geworden ist, konnten wir nicht erwarten. Nur unsere erfahrensten und ältesten Sänger, die rochen schon etwas im ersten Akt. Doris Soffel sagte mir: „die saugen, die s-a-u-g-en, das wird was! (Lachen)
Sie ist ja eine ganz große Sängerin, die kennen wir aus Hamburger Zeiten, eine Grande Dame…
… und eine große Bühnenerfahrung, viele Jahrzehnte Bühnenerfahrung. Grandios!
Die Rolle von Madame Luise hat sie voll und ganz ausgefüllt!
Vielleicht war der Erfolg ja auch ein bisschen Theodor Fontane geschuldet. Theodor Fontane, der hier ja auch ein Lokalheld ist. Selbst, wenn er nicht hier in Berlin, sondern in Neuruppin geboren wurde und in der Mark Brandenburg seine Wanderwege verschriftet hat. Wie sind Sie erstmals auf Fontane in Ihrem Leben gestoßen? Hier in Berlin?
Nein. Schon vorher. Durch die Wanderungen, und es ist ja auch Schulstoff. Ich habe die Wanderungen mit großer Begeisterung gelesen, weil ich noch nie im Leben diese Verbindung von Historie, realer Reiseerfahrung und Poesie kennengelernt hatte. Diese Mischung ist so wunderbar miteinander verwoben. Es gibt Protokolle von Friedrich dem Großen, Landschaftsbeschreibungen und Familien-, Ahnenforschung. Das ist zu einem hinreißenden Konglomerat zusammengewachsen. Und dann fing ich an, Fontane zu lesen. Dann kamen natürlich die großen, bekannten Romane. Das hat mich teilweise sehr begeistert. Mir wurde klar, warum die jungen Schriftsteller um 1890 ihn alle liebten. Er galt nicht als verstaubter Opa wie so viele andere, Paul Heyse eventuell …
… obwohl Heyse den Nobelpreis gekriegt hat!
Ja! Aber Fontane wurde dann kurioserweise der „immer junge“, wo Leute wie Hauptmann andockten, und dann gab es diese enorme Hilfe für den Theaterleiter Otto Brahm, der zum ersten Mal Ibsen in Deutschland präsentierte und den Realismus in Deutschland durchgesetzt hat. Und Gerhard Hauptmanns Die Weber. Der alte Fontane hat viel dazu getan, dass sich die junge Kunst in Deutschland durchsetzte. Und irgendwann fiel mir das Fragment Oceane von Parceval in die Hand. Vor ungefähr 20 Jahren…
Wie sind Sie auf dieses Fragment gestoßen?
Ich habe das Oceane-Fragment in einer Gesamtausgabe gefunden. Und es hat mich sofort angesprochen, wegen eines poetischen und eines technischen Grunds. Der poetische Grund ist tatsächlich der Brief von Oceane am Schluss, wie er auch unverändert in der Oper vorkommt. Ich glaube Ulrich Treichel (der Librettist) hat nur einen Satz hinzugeschrieben. Der Rest ist Fontane. Und der technische Grund ist, dass aufgrund des „Fragment-seins“ die Personenzahl noch limitiert ist. Es gibt nur sechs oder sieben Personen und nur einen Ort. Und das ist sehr unterschiedlich zu anderen Romanen Fontanes, in denen es bis zu 50 Handelnde und viele, viele Orte gibt. Da riecht man eben schon die Bühne. Das Stück schwebte, wie alle meine Stücke, viele Jahrzehnte im Kopf rum. Und irgendwann wurde es dann sehr konkret, als Dietmar Schwarz (Intendant der Deutschen Bühne) nach einer Uraufführung fragte: da kam ich mit dem Vorschlag.
Die sieben Personen sind ja wie auf eine Opernensemble zugeschnitten. Sieben Personen sind eine Art Standardanzahl. Was sollte denn dieses Fragment eigentlich werden. Sollte es wirklich ein Roman werden? Weiß man das?
Das weiß man nicht genau. Es sollte vielleicht eine Novelle werden. Fontane hat deutlich eine Kapiteleinteilung in eun Abschnitten skizziert. Das deutet auf einen Kurzroman hin, vielleicht eine längere Novelle. Einzelne Teile sind außerordentlich gut ausgeführt. Das Personal ist sehr genau charakterisiert. Wir mussten nur bestimmte Personen ersetzen. Zum Beispiel taucht in dem Fragment die Mutter Oceanes als Hotelgast auf. Wir haben sie weggelassen, um die Fallhöhe größer zu machen. Oceane ist allein, sie ist so seltsam und fremd, dass sie nur eine Gesellschafterin von uns bekommen hat. Wir haben quasi die Mutter durch die Gesellschafterin ersetzt. Auf die von Ihnen angesprochene Paarbeziehung in der klassischen Oper mussten wir nicht viel Mühe verwenden, weil sie im Fragment schon angelegt ist.
Es ist ja schon eine Art Konversationsoper. Gleich am Anfang wenn Madame Luise und Schorsch loslegen. Sie träumt, er listet die Speisekarte auf, das sogar gleichzeitig. Ein ganz witziger, komischer Moment. Haben Sie die Namen neu erfunden? Also Felgentreu! Ist ja schon ein sehr komischer Name.
Wir haben die Vornamen zum Teil ausgetauscht. „Felgentreu“ ist original Fontane. Auch Madame Luise, Schorsch, auch „von Dircksen“. Der heißt in dem Fragment mit Vornamen allerdings „Albert Baron von Dircksen“. Weil sein Vorname leichte Anklänge von ‚albern‘ hat, haben wir die Vornamen von Martin und Albert ausgetauscht. Vermutlich hätte Fontane auch so etwas gemacht… (Lachen)
Albert Felgentreu! Felgentreu und die Gesellschafterin Kristina sind ja auch das Buffo-Paar! Dann passte der Name auch!
In seiner Charakterskizze beschreibt er den Felgentreu sehr witzig: „ein Schwätzer und Causeur.“ (Lachen) „Privatdozent, nicht mehr als drei Studenten.“ (Lachen) Er verdient überhaupt nichts! Ein „Nordist und Edda-Forscher.“ (Lachen)
Der Name Oceane von Parceval, der hat schon einen anderen Anklang. Parceval – Parzival. Hat das miteinander zu tun? Der tumbe Tor, der erlösen soll?
Mit Sicherheit. Das ist auch nachweisbar. Fontane war in Bayreuth und hat den Parsifal gesehen. Und verließ das Theater nach 10 Minuten, weil ihm das Orchester schlichtweg zu laut war. Daraus folgert man – was nicht richtig ist!, dass er ein Nicht-Musik-Versteher sei. Wenn man aber seine Briefe liest, hat er doch recht viel von Musik verstanden und rezipiert. Er kannte zum Beispiel den Freischütz auswendig. Nur Wagner war eben nicht sein Geschmack. Im Fontaneschen Haus stand ein Klavier, und Frau von Fontane war eine sehr versierte Pianistin, die viel spielte. Das Haus war mit Musik gefüllt und manche Stücke hat er sich von ihr gewünscht.
Was glauben Sie denn, warum er den Namen Parceval übernommen hat, doch nicht nur, weil er in Bayreuth war. Parzival ist doch auch eine sehr emblematische Figur.
Ganz genau. Fontane kannte die Sage sehr gut. Und er kannte auch die Libretti von Wagner sehr gut. Und seine Feindschaft galt nicht dem Gesamtkunstwerk, sondern nur der lauten Musik. Er war wahrscheinlich von der Figur des ewig Suchenden fasziniert. Und er hat meiner Meinung nach die Figur des Wagnerischen Parsifal auf die beiden Hauptpersonen aufgeteilt. Auch Martin von Dircksen sucht und ist dabei ein bisschen tumber Tor ist; er fühlt Oceane nicht, versteht nicht, was mit ihr los ist. Und Oceane ist die Schweifende, die nirgendwo herkommt und nirgendwo hingeht; sie sucht ihren persönlichen Gral. Das ist für sie, ihre Empathie auf jemanden anwenden zu können, lieben zu können, ihre vielen wilden Gefühle auf einen Menschen zu projizieren, was ihr nie gelingt. So ist der Parsifal auf kuriose Weise mit diesen zwei Personen verwoben.
Jetzt haben wir über Fontane gesprochen. Jetzt auch mal persönlich zu Ihnen. Welche Rolle spielt das Meer für Sie, das ja hier eine omnipräsente Bedeutung hat. Und nicht erst in dieser Oper, auch schon in Solaris nach Stanislaw Lem, und schon im Holzschiff nach Hans Henny Jahnn. Sie sind ja auch nahe des Meeres geboren in Hamburg-Bergedorf …
Man könnte dem Irrtum verfallen, dass diese drei Meere, die in drei meiner Opern vorkommen, alle nur Meere sind. Sie haben aber drei vollkommen verschiedene Funktionen. In Das Holzschiff ist es das Element der Entgrenzung und des Grenzübertritts. Man fährt über das Meer, um unbekannte Erfahrungen zu machen. In Solaris ist das Meer eine Art Produktionsmittel. Es spiegelt unsere Schuld in Form von Figuren unseres Leben. Es ist eine Art Plasma, das mitdenkt. Bei Oceane ist es die Natur. Die reine Natur im Sinne von Adornos Dialektik der Aufklärung, wo er über die Sirenen und Odysseus spricht: die Sirenen seien die letzte Mythe, Wesen, die mit der Natur verbunden sind; Odysseus sei der erste Bürger, der Borgeois, der es mit Betrug schafft, den Gesang der Sirenen anzuhören. Und danach müssen sich die Sirenen laut Mythe umbringen…
… siehe Parthenope!
Ganz genau, und da sind wir schon nah an Oceane und an der Melusinen- und Undinen-Mythe, die ja verbunden ist mit der griechischen Sage. Sie werden auf irgendeine Weise betrogen. Man gibt ihnen nicht, was sie sich wünschen. Man nimmt Ihnen etwas, was den anderen nicht zusteht. Es endet schlimm. Martin von Dircksen ist dagegen ein junger Reichsgründer, da wird Dampfkraft auf dem Gut eingeführt und das Bruttosozialprodukt erhöht. Er ist nicht ganz unsympathisch, aber doch asymmetrisch zu Oceanes Lebensentwurf…
Und wenn er sich an sie heran schmeisst, in Anführungszeichen „MeToo-Debatte“, da geht er ja schon über eine Grenze hinweg. Er tut ihr Gewalt an….
Ja! Und man darf nie vergessen, dass Theodor Fontane der erste Schriftsteller war, der eine Vergewaltigungsszene beschrieben hat. Ungeheuer diskret im Stechlin. In der berühmten Tunnelszene: Zwei Frischverheiratete, ein junger Mann und eine jungfräuliche Frau, sitzen im Zug und in einem Tunnel fällt er über sie her. Fontane war das Problem von Männergewalt absolut bewusst. Und deshalb wollten wir die Kuss-Szenen, die im Fragment nicht vorhanden sind, einfügen und zeigen, dass von Dircksen einmal fast zu weit geht. Sie kann sich ihm nur mit Mühe entziehen. Was ihr gleichzeitig den Anlass gibt, dann im zweiten Akt ein Selbstexperiment zu versuchen, indem sie ihn plötzlich ganz heftig küsst – und nichts dabei fühlt. Alles bleibt kalt in ihr. Und er denkt, sie sind verlobt! Und die Katastrophe nimmt ihren Lauf.
Kann man auch heute noch gut nachvollziehen, wenn die Gefühlssehnsüchte einen Annäherungsversuch freisetzen, der den anderen brüskiert oder schockiert, und nicht das auslöst, was man hervorrufen möchte. Und das widerspiegelt sich dann in der eigenen Seele… Oceane ist dennoch eine Märchenfigur, weil sie angelehnt ist an die Wasserwesen. Hier nicht mit Fischschwanz, weil sie modern sein soll. Wie modern sollte sie denn sein? Im Programmheft ist die Idee mit dem Asperger-Syndrom angedeutet. Das ist ja aktuell. Greta von Thunberg ist ein Beispiel oder aber in der Krimiserie Die Brücke gibt es eine Kommissarin, die am Asperger-Syndrom leidet.
Ja, aber mal abgesehen davon, dass immer modern ist, was die Medien einem breit vorführen, ist das ein zeitloses Thema. Die Modernität von Oceane fordert Fontane schon ein. In seinen Grundkonzepten zu diesem Thema, auch in seinen Briefen über dieses Projekt, schreibt er, dass er eine Melusine ohne Wassergeister und ohne mythischen Bezug will. Sie ist tatsächlich ein Mensch. Und einer in der Gegenwart von damals, 1882. Ich bin der Auffassung, dass Fontane viele seiner weiblichen Romanfiguren, die bei ihm vorkommen – hochintelligente Frauen mit sozialen Problemen – nach seiner Tochter gestaltet hat.
Ist das Ihre Vermutung?
Das lässt sich aus den Briefen herauslesen. Diese Tochter hatte wohl etwas, das wir heute Asperger Syndrom nennen. Sie war sozial nicht kompatibel, hochintelligent, aber konnte ihre Empathie nicht auf andere Leute übertragen. Es gibt tatsächlich zwei Briefe von Fontane an seine Frau, wo er sich Gedanken darüber macht, ob sie selbstmordgefährdet ist. Tragischerweise 20 Jahre nach dem Tod ihres Vaters hat sie sich aus dem Fenster gestürzt. Es ist eingetreten. Sie hat eine merkwürdige unglückliche Ehe geführt. Als junges Mädchen versuchte sie, Hauslehrerin in Familien zu sein. Es wurde nach wenigen Wochen immer abgebrochen. Sie war außerordentlich intelligent. Und diente ja dann auch Ihrem Vater als Sekretärin zuhause. Sie hatte Lektorenfunktion im Hause Fontane. Auf höchstem Niveau. Das konnte sie. Aber ihre Empathie war nicht in Ordnung. Fontane hatte dieses wahnsinnige Interesse an komplexen Frauenproblemen. Und er hat sich immer interessiert für Frauen, die in der Gesellschaft aus irgendwelchen Gründen anecken. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das die Figurenkonzeption bis hin zum Stechlin beeinflusst hat…
Und was interessiert Sie jetzt ganz persönlich an ihrem Schicksal? Sie bringen literarische, historische, mythische Ebenen hinein, die Kulturgeschichte steckt da drin. Wo steckt der Glanert, und sein Bezug zu einem weiblichen Außenseiter?
Ich denke, dass sich in Oceane und Martin von Dircksen etwas verkörpert, was das Problem unserer heutigen Zeit ausmacht. Nämlich das Zusammentreffen zweier Zeitalter, oder der clash of two cultures. Auch das war schon zu Fontanes Zeit ein Problem – wir haben es heute in ganz verstärktem Maße. Wir leben in einer hochtechnisierte Gesellschaft, mit einer wahnsinnig schnell gewordenen Entwicklung auf dem Informationssektor, die soweit geht, dass wir nicht wissen, ob Wahrheit Wahrheit ist. Wir wissen nicht mehr, welche Wahl ist manipuliert, welche nicht. Wir haben eine auseinanderklaffende Schere von Reichtum und Armut, trotz aller sozialen Bemühungen der letzten 40 Jahre. Es wird alles auf einen gewissen Punkt zurückgedreht, während eine wildgeworden Elite abhebt. Und das sehe ich auf der ganzen Welt. Hier treffen zwei Zeitalter aufeinander. Und wir steuern auf eine gewaltige Katastrophe zu. Und diese Katastrophe und diesen Zusammenstoß der Zeitalter, meine ich, hat Fontane auch schon geahnt.
Sollte Oceane also einen mahnende, eine warnende Oper sein? Ich habe sie als eine geschlossene, schon unterhaltende Oper erlebt, musikalisch stark fundiert, mit einer großen emotionalen Schlussszene, die alle umgehauen hat. Von dieser dramatischen Szene könnte ich mir die Oper davor auch noch einmal ganz anders vorstellen. Aber nicht als warnende Oper …
Nein, keine warnende Oper, keine mahnende Oper, und ich mag auch keine Kunstwerke, die eine sogenannte „Message “ vor sich her tragen. Aber es ist eine Oper, die Empathie erzeugen möchte, mit einem Vorgang, mit einer Situation. Wir sollen darüber nachdenken. Und es soll lange in unserem Gefühlskostüm leben. Das möchte ich schon. Denn dahinter verbirgt sich das, was ich eben geschildert habe. Das große Problem oder mehrere andere große Probleme. Das ist in der Oper mit drin!
Das wäre jetzt ein schönes Schlusswort, aber noch ein paar Fragen ganz konkret zur Handlung. Zwei Kussszenen haben sie implementiert. Mir schien, dass das Bacchanal und die Ballszene überhaupt, vor allem dem, was Sie musikalisch mit einem großen Orchester auszudrücken vermögen, dass Sie hier ja auch haben, nutzen können und wollen. Waren diese Szenen Ihr Wunsch oder die Idee von Librettist Treichel?
Das haben wir zusammen entwickelt. Treichel und ich kennen uns sehr lange, und wir wissen, dass es in einer Oper Täler und Höhen, dramatische Zuspitzungen und Ruhepunkte geben muss. Die Frage ist, aufgrund der fehlende Mitte des Fragments, die nach dem dramatischen Knoten – den mussten wir finden. Und das konnte nur der Konflikt von Oceane und Martin von Dircksen und auf einer weiteren Ebene die Gesellschaft sein. Es gibt Hinweispfeiler; das kann man zwischen den Zeilen lesen. Eine Frage war zum Beispiel, wie man 1882 einen Skandal erregt? Da kam uns das Melusine-Tun entgegen – sie tut Dinge, die die Leute nicht vorhersehen können. Was konnte das also sein? Verrückt Tanzen, zu viel Wasser trinken. Oder sie zieht sich aus, will plötzlich schwimmen. So haben wir zum Beispiel die Tanzszene entwickelt, denn der Sommerball ist bei Fontane sogar in einem Nebensatz erwähnt, aber nicht ausgeführt.
Hatten Sie Einfluss auf das Regieteam? Ich fand die Videoleistung sehr beeindruckend: mit dem Meer, das mittels einer gigantischen Hohlkehle, da haben wir uns bei einem Bühnentechniker informiert, sogar nach vorne flutet, dann ihr Schatten, der ganz groß wird und sich ins Meer hineinwirft…
Als wir das in der ersten Probe gesehen haben, war das ganze Haus entzückt!!!
…aber da hatten Sie keinen Einfluss drauf?
Ich wollte immer mal mit Robert Carsen zusammen arbeiten. Wir haben es mehrmals versucht, es ging zeitlich nie aus. Diesmal hat es geklappt. Ich weiß, wer Carsen ist, wie er arbeitet, und dass man ihm nicht reinreden soll und darf, aber, dass man ihm eine neue Partitur anvertrauen kann. Dass er mit Diskretion vorgeht, ehrenhaft. Es ist unbetretenes Gelände, wenn man das zu schnell vermint, ist es nicht gut! Und deshalb habe ich es ihm gern übergeben. Und er hat sofort instinktiv Dinge erahnt, ohne dass es in der Partitur lesbar war. Er redet mir nicht in de Musik hinein, und ich rede ihm in die Regie nicht rein. Das ist der Gesellschaftskontrakt der Oper. (Lachen) Wir haben natürlich viel miteinander gesprochen. Die ganze Oper am Klavier durchgespielt und solche Dinge…
Und jetzt nach der Uraufführung kommt das Loch? Nach der Geburt der Oper das Tal?
Ja, jetzt kommt die Selbstkritik, das Stadium der Fehlerverbesserung, das wird dann wieder verdrängt von einem nächsten Projekt.
Eine nächste Oper?
Ja, es gibt schon einen Vertrag, aber ich darf noch nichts sagen… Und natürlich sehr viele schöne Konzertprojekte. Es wird ein neues Violinkonzert für Midori geben. Es gibt eine große Liedersinfonie für Prag, für die Tschechischen Philharmoniker unter Semyon Bychkov…
Und das ist etwas, dass mich an Ihnen wirklich fasziniert. Sie sind einer der wenigen Komponisten, die in Deutschland nur vom Komponieren leben können. Sehe ich doch richtig?
Ja, ich mache nichts anderes. Aber das war auch ein schwieriger Anfang, das darf man den jungen Leuten nicht unterschlagen. Die ersten 15 Jahre waren schon Schulden-behaftet. Auf der anderen Seite konnte ich das Risiko eingehen, weil ich keine Familie habe. Mit Kindern wäre es was anderes, weil man für sie sorgen muss. Ich habe diesen Lebensweg so gewählt, und es ist mir gelungen!