Wie spannend eine Abboserie mit drei Konzerten ist, wenn die Interpretation von Aufführung zu Aufführung neue Qualitäten bekommt und vom Dirigenten immer wieder anders ausgelotet wird. Im 8. Sinfoniekonzert des Gürzenich-Orchesters entwickelt Roth mit seiner Interpretation von Anton Bruckners Fünfter Sinfonie immer wieder neue Einblicke in Details und steigert sich jedes Mal. (Von Sabine Weber, Foto: Julia Sellmann)
(25. bis 28. März 2023, Kölner Philharmonie) Im letzten Konzert absolute Stille nach dem fulminanten Schluss-Choral! Das Publikum ist betroffen ob der Wirkung, gewaltig, nicht triumphal, sakral, fast heilig, sogar heilende Wirkung könnte dem Finale an diesem Abend zugeschrieben werden. Mit fünf Hörnern, vier Trompeten, drei Posaunen und einer Basstuba, verstärkt durch doppeltes Holz, senkt sich das Choral-Thema wie eine Burg in den Raum. Es ist das zweite Fugenthema der Doppelfuge zuvor. Jetzt Affirmation. In dieser Sinfonie sind Motive, Themen bis Melodien miteinander verwandt. Das Material metamorphosiert bis zum Schluss. Nichts ist hier zufällig.
Die Spannung der Stille
Streichertremoli verflüchtigen die massive Wucht des Chorals Richtung Höhe und Licht. Die Intensität wird nicht weniger aber versöhnlich. Bis das Ritual mit Orchesterschlägen „Schluss!“ sagt. Beim letzten springt François-Xavier Roth in die Luft und krallt die Finger zusammen. Und hält das Schlusszeichen vor sich geballt fest! Die totale Regungslosigkeit nach diesem Tumult entfaltet Wirkung, der sich keine(r) entzieht. Sein berühmter Vorgänger in Köln, der ehemalige Gürzenich-Kapellmeister Günter Wand, hat nach einer Bruckner-Sinfonie – mit der NDR Radiophilharmonie hat er einen legendären Zyklus verwirklicht – immer eine Minute Schweigen verordnet. Das erzählt Roth im Künstlergespräch danach. In jedem Konzert hätte er diesen Moment haben wollen. Beim dritten Mal sei es ihm auch gelungen, die Spannung in die Stille zu halten – mit dem Publikum.
Hat Bruckner Moden antizipiert?
Roth, beim Gürzenich-Orchester 2015 angekommen, hat Bruckner gleich ins Visier genommen. Das Gürzenich-Orchester besäße genau die richtigen Qualitäten. Mit seinen Kölnern legt er seitdem den Zyklus auf. Bis auf die Sechste und die Achte sind alle gespielt und aufgenommen. Die Fünfte hat er in diesen drei Konzerten das erste Mal aufs Pult gelegt. Eine Furcht-einflössende Sinfonie, sagt er, „monströs“ wegen der Kontrapunktik, den Fugen, strenger Kirchenstil bis hin zu Sequenzen und Organistenzwirn. Die heilige Strenge spüre man. Jedenfalls die Katholiken. Bruckner war tief verwurzelt fromm. Und Organist, zuletzt im Dienst der kaiserlichen Hofkapelle in Wien. Der Palestrina-Stil wird am Beginn des 20. Jahrhunderts auch Mode. Hat Bruckner sie antizipiert?
Die Berliner Philharmoniker haben Roth eingeladen
Die Fünfte zählt zu den eher unpopulären der insgesamt neun Sinfonien, die frühe „0.te“ nicht mitgerechnet. Die mag Roth nicht und daher wird sie auch nicht aufgenommen. Bei den neun Verbleibenden ist die Urfassung angesagt.
Das ermögliche, von eingeschliffenen Interpretationen weg zu kommen. An denen hätten die Orchester lange festgehalten. Da hat sich aber inzwischen etwas verändert. Die Berliner Philharmoniker hätten ihn eingeladen, die Dritte in der Urfassung zu dirigieren, damit Bruckner mal anders klingt. Mit der Dritten, Bruckners „Wagner-Sinfonie“, hat Roth zuletzt in Köln euphorischen Beifall ausgelöst.
Recherchen am Bruckner-Urtext
Wird Köln noch Bruckner-Stadt? Die siebte Sinfonie ist letztes Jahr erschienen. Die vierte Sinfonie „Die Romantische“ ist gerade beim Myrios Classic Label erschienen. Ohne das populäre „Jagd“- Scherzo! Ein Manko? Als Roth das erste Mal die Vierte beim Gürzenich-Orchester aufs Pult gelegt habe, hätte er zuvor die Urfassung und die immer gespielte dritte Fassung intensiv verglichen. Das seien ja komplett andere Sinfonien! Er habe sich nicht getraut, sich für die Urfassung zu entscheiden. Jetzt sei er entschieden, und froh, dass beim zweiten Anlauf die Urfassung aufgenommen wurde. Den ursprüngliche Willen des Komponisten zu suchen, das Utopische an Bruckner herauszukehren, muss ihm ein Anliegen sein. Die Recherche am Urtext ist für einen Musiker, der wie Roth auch für die historische Aufführungspraxis brennt, ein Anliegen. Auch wenn Bruckner konservativ Sinfonien komponiert hat, sei seine Art von Parameter-Denken hinsichtlich der Harmonik gerade in den nicht von hinein-redenden Besserwissern korrumpierten Urfassungen modern!
Verschiedene Versionen
Roth arbeitet die Strukturen heraus. In den drei Konzerten mit Bruckners Fünfter werden immer wieder neue Details deutlich. In jedem Konzert wird experimentiert. Da ist kein Tempo festgemeißelt. Die Fuge im letzten Satz ist im zweiten Konzert so schnell, dass das Gürzenich-Orchester fast aus der Kurve fliegt. Das Heilige wird trotzig! Im letzten Konzert beginnt das Adagio so flott, dass die weinende Melodie der Oboe, so in etwas beschreibt sie Roth, allenfalls elegisch über den Vierteltriolen der Streicher schwebt. Keine leichte Aufgabe, aus den verschiedenen Versionen eine Endfassung zu mastern. Das liegt jetzt in den Händen von Tonmeister Stephan Cahen, Labelgründer von Myrios Classic. Am Morgen danach bekommt der Tonmeister aber noch eine Nachaufnahme-Session.
Dass er mal einen gesamten Brucknerzyklus in seinem Label aufnehmen würde, hätte sich Cahen bei der Gründung seines Labels nicht denken können. Weil er kein Bruckner-, sondern Mahler-Fan sei. Roth hat ihn bekehrt. Und in engem Passspiel entwickeln beide ihren Brucknerklang.
Fünf statt vier Hörnern?
Apropos fünftes Horn und vierte Trompete, Bruckner hat vier Hörner, bzw. nur drei Trompeten vorgeschrieben. Durch einen Spieler mehr können sich die Solisten Tuttistellen sparen, um die heiklen solistischen Einsätze zu meistern. Die Kontrabässe stehen hinten – Deutsche oder Wiener Aufstellung! – und fluten durchs Orchester nach vorne. Der Kontakt zu den anderen Streichern ist allerdings durch die Holzbläser davor unterbrochen. Das muss der Dirigent managen. Die Hörner links, die Trompeten plus Posaunen rechts, setzen sich vom Holz wunderbar ab. Und es gibt einen Stereoeffekt, wenn sie vereint spielen. Räumliche Plastizität ist in dieser Interpretation auch ein Anliegen. Einige der solistischen Hornstellen klingen wie von einem Kirchenchor aus fernen Zeiten (Palestrina!).
Rubati zu den Ländlerepisoden
Roth meißelt die vielen kammermusikalischen Stellen von Abend zu Abend deutlicher heraus. Wie Netsuke-Figürchen in einer Reihe die Pizzicati der Streicher und Holzbläser. Die Koppelungen von Solo-Oboe, -klarinette und/ oder -Flöte sind intonatorisch heikel. Klar, dass nicht alles gut geht. Im Konzert spielt das keine Rolle. Für die Aufnahme schon. Im letzten Konzert wagt Roth in den Übergängen zu den Ländlerepisoden auch noch Rubati. Ja, wie viel Schubert in diesem Bruckner steckt!
Die Moderne liefert Georg Friedrich Haas
Allerdings ist die Konzertserie Bruckner und die Moderne überschrieben. Moderne Musik soll Brucknerperspektiven aufzeigen. Und Roth hat sich als letzter Chef des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg als Spezialist für Neue Musik bewiesen. Roth bemühe sich hier Stücke zu finden, die irgendwie mit Bruckner zu tun haben. Das bleibt natürlich etwas gewollt. Im Konzert für Klangwerk und Orchester von Georg Friedrich Haas könnte man eine Parallele sehen zwischen mikrotonaler Harmonieentwicklung und Brucknerschen funktionsharmonischen Sequenzen. Eine Konzertbesucherin gesteht im Künstlergespräch sogar, dass sie mit Haas viel mehr hat anfangen können als mit Bruckner! Auch wenn sie die Haas-Musik sehr psychotisch erlebt hätte. Da lag sie richtig mit Haas. In seinen Opern Bluthaus oder Koma, wagt er thematische Grenzgänge am Rande des Psychotischen – Menschliche Ausnahmezustände durch mikrotonal beängstigend wabernde Klangflächen. In seinem hier in Deutscher Erstaufführung aufgeführten Konzert wirken die Klangflächen eher wie eine beliebige Grundierung und machen den Orchesterpart ein bisschen sekundär. Umso mehr punktet Mulitperkussionist Christoph Sietzen.
Der Solist traktiert nicht nur herkömmliches Schlagwerk. Er improvisiert über weite Strecken auf selbst gebauten Klangplatten, die er als Klangwand aufgerichtet hat. Nach hochsensibel zarten Klängen von der Wand entfesselt er energetische Trommelattacken auf den Fellinstrumenten. Er ist körperlich im Extremeinsatz und gibt nach dem ersten Konzert auch Muskelkater an einigen Stellen zu. Beeindruckend seine Choreografie im aufgebauten Klangwerkkäfig, in dem er einen Hohlspiegel hängen hat, damit er den Dirigenten auch noch sieht, wenn er ihm den Rücken zukehrt. Welche der drei Versionen er dann nehmen wird? Denn das Konzert ist doch jedes Mal ein bisschen anders. Das gesamte Konzert wird nämlich vom DLF Kultur zu einem späteren Zeitpunkt versendet.