Das Theater Bonn eröffnet kommenden Sonntag die Opernsaison mit Staatstheater! Regisseur Jürgen R Weber und Dirigent Daniel Johannes Mayr erklären im Gespräch, was es mit Kagels szenischer Komposition auf sich hat!

„Staatstheater“! Mir fällt dazu spontan das Theater auf den politischen Bühnen ein. Aber nein, es geht bei Mauricio Kagel um die Institution Theater im theatralischen Sinne. Im Auftrag der Staatsoper Hamburg hat Kagel komponiert. Vielmehr seziert, was Operntheater auf der Bühne bestimmt: Gestik, Mimik, Rollenklischees, Sängerklischees und einiges mehr. 1972 war die Uraufführung, in seiner Regie und mit ihm als Dirigenten. Die Aufführung musste unter Polizeischutz gestellt werden – es gab Bombenandrohungen, weil sich Mitwirkende und das Publikum verhohnepiepelt fühlten. Kagel, Argentinier, Jude, Wahldeutscher, Professor für Neues Musiktheater an der Hochschule für Musik und Tanz, Köln, blieb zeitlebend ein charmanter und gewitzter Unruhestifter auf den Bühnen, die er erobern konnte. „Staatstheater“ hat er als sein wichtigstes theatralisches Werk eingestuft. Aber was macht es so explosiv? Regisseur Jürgen R Weber steht kurz vor der Hauptprobe gut gelaunt im Foyer des Bonner Theaters. Wild abstehendes graues Haar, wallender Bart und hochgeklappte Sonnenbrillengläser über der eigentlichen Brille. Noch weiß ich nicht, dass er gleich auf der Bühne vor allem über den Boden robbt. In Corona-konformem Abstand jetzt erst einmal ein paar Fragen:

Zuerst ganz grundsätzlich gefragt. Was ist Voraussetzung, bevor Sie der angebotenen Opernregie eines Stücks zusagen?

Meistens gucke ich auf meinen Kontostand. Wenn der zu niedrig ist, dann nehme ich alles an. Wenn er gut aussieht, dann überlege ich ein bisschen. Aber ich habe das Glück, dass alle Angebote aus Bonn bisher interessant und Herausforderungen waren, dass ich nie lange überlegen musste. Gerade Staatstheater, für mich als Hamburger, da kennt man die Story von der Uraufführung. Und Kagel in seiner komisch-ironisch, komödiantischen Art liegt mir sowie so. Diese Regie war wie ein Lottogewinn!

Waren Sie bei der Uraufführung 1972 etwa dabei?

Ich war da noch ein bisschen zu jung. Ich habe viel davon gehört. Meine Großmutter war im Abonnement. Und wir kannten viele Sänger, die mitgewirkt haben, Harald Stamm, Kurt Moll, die waren alle dabei. Insofern gab es viele Berichte über Bombendrohung, Polizeischutz. Ich habe in der Vorbereitung mir die alte Akte geholt, aus dem Archiv der Alten Staatstoper, mir die alten Fotos angekuckt, viele davon nicht veröffentlicht, um einfach zu sehen, was Kagel von seinem Konglomerat überhaupt auch aufgeführt hat.

Kann, darf, muss es bei Ihnen einen politischen Kontext geben?

Es gibt immer einen politischen Kontext! Wenn jemand sagt, es gibt keinen, ist das falsch. Selbst eine Soap-Opera hat einen politischen Kontext. Wenn man in unserer Medienhochkultur was auch immer, selbst Entertainment-Geschichten, untersucht, gibt es immer einen politischen Kontext. Bei Kagel war es in den 1970er Jahren so, dass seine politischen Anspielungen ja eher milde waren. Sehr ironisch, sehr unprätentiös. Deshalb funktionieren die heute auch noch so gut. Bei anderen denkt man, ‚O, hättest du mal ein bisschen die Schnauze gehalten!‘ Aber bei Kagel gibt es nach allen Seiten die ironische Distanz! Es gibt kein, wir Künstler müssen jetzt alle auf der Seite sein oder der anderen. Es gab bei ihm eine milde politische Richtung. Aber es gab ganz klar eine Kulturpolitische Richtung.

Sie sagen, er war milde. Auf keinen Fall hatte er eine parteipolitische Haltung oder war von einer Ideologie voreingenommen. Vielmehr hat er Dinge beobachtet, die ihm aufgefallen sind, zu denen er eine fein ironische Distanz aufgebaut hat.
Würden Sie denn Kagel als einen politischen Komponisten bezeichnen können? Er hat ja immerhin Stücke geschrieben wie Die Erschöpfung der Welt, die Lieder-Oper Aus Deutschland und eben Staatstheater… Das sind doch Titel, wo man das Politische herausfühlt.

Klar ist er ein politischer Künstler, aber weniger als zum Beispiel Richard Wagner. Wagner hatte ganz klar Richtungen und Vorstellungen. Er hat eine Revolution gemacht. Man darf auch nicht vergessen, dass Kagel in seiner Biografie Argentinien, Südamerika hat, dass er natürlich klar wusste und das auch formuliert hat, was er an der Bundesrepublik zu schätzen wusste. Und dass er, anders als viele aus der, sagen wir linken Szene, die damals teilweise auch wieder in eine antijüdische Richtung abglitt, dass er wusste, dass er hier eine Chance hatte und er war dankbar. In Südamerika passierten ja ganz andere Dinge. In Staatstheater geht es ein bisschen um die vermuffte Adenauer-Republik, die ja schon eher zu Ende war. Aber es sind fast freundliche Anspielungen. Er ist sicher kein politischer Revolutionär. Ich habe nirgendwo gefunden, dass er die Gesellschaft an sich in Frage gestellt hat. Oder eine Ideologie. Er stellt Fragen. So hat er auch sein Jüdisch-Sein einmal definiert hat, dass es da eher um die Frage geht. Es geht ihm nie um Antworten, sondern um das Fragen.

Das Stück ist eine Art Regie- und Aufführungssteinbruch. Es gibt Einzelaktionen, die ausgewählt und zusammengesetzt, auch überlagert werden dürfen. Das Stück war eigentlich als Premiere in der letzten Saison angesetzt. Wie hat die Corona-Pandemie die Regie verändert? Hat sich etwas verändert?

Ja, da hat sich was verändert, aber sehr milde und undramatisch. Wir hatten musikalische Gäste eingeplant, die jetzt nicht mehr dabei sind, weil das nicht mehr funktioniert hat. Ein Jazzdrumer aus Berlin, einen Saxophonisten aus Frankfurt, mit dem ich schon oft zusammen gearbeitet habe. Statt dessen haben wir jetzt Leute aus dem Beethoven-Orchester, die die Freifahrten machen (Ein Kapitel aus Staatstheater: Freifahrt: Gleitende Kammermusik). Jetzt gibt es mit der ganzen Distanz, den Hygieneverordnungen, denen wir uns beugen müssen und es auch gerne tun, ein paar Konsequenzen. Aber insgesamt ist das keinesfalls ein Kompromiss. Das Stück ist jetzt eher ein bisschen schärfer an der Zeit und im Gegensatz zu anderen Produktionen, wo man einen Troubadour mit 20 Leuten im Orchester macht, gibt es hier keinen großen Kompromiss. Kagels Material ist perfekt für Corona-Zeiten.

Es gibt in seinem Karteikasten an Aktionen ja auch so etwas wie ‚Wasserlassen, Händewaschen, Schlauch am Körper spannen und knallen lassen…‘ Das sind theatrale, absurde Aktionen, bei denen sich ja gut Corona-bezogen bedient werden kann. Händewaschen beispielsweise.

Auf jeden Fall. Aber wir wollten nicht Corona als Aushängeschild und das auf so einfache Weise aktualisieren, sondern eher die soziale Distanz, die durch Corona entsteht, zu einer narrativen Struktur machen. Das war das Ziel. Und soziale Distanz gibt es nicht erst seit Corona. Es gibt ja eine soziale Distanzierung weit darüber hinaus, durch das Internet. Es gibt junge Leute, die gar nicht mehr wissen, wie man Leute auf der Straße ansprechen muss. Corona ist das Symptom einer Sache, die schon viel früher angefangen hat. Und das versuchen wir mit dieser Produktion zu zeigen.

Das ist ein ernstes Thema, aber wie ernst hat es Mauricio Kagel mit dem Stück gemeint. Es gibt ja Forderungen wie Chorsänger statt Solisten sollen an der Rampe singen, Nicht-Tänzer sollen tanzen, Instrumentalisten machen Aktionen wie Schauspieler mit Stühlen, mit Kugeln, die sie rollen. Wie ernst hat er es gemeint?

Das ist jetzt ein Frage wie man ernst definiert. Was ist ernst und was ist nicht ernst? Ich glaube, bei einem Künstler wie Kagel gibt es keinen Unterschied zwischen ernst und nicht-ernst. Es ist definitiv Kunst, und es ist immer ein ironischer Aspekt dabei. Es ist ein Schmunzeln,  ein leichtes Lachen, das gehört dazu. Aber das heißt nicht, dass man das nicht ernst nehmen soll…

Kagel will also kein Clown sein…

Auch ein Clown hat etwas ernstes. Charly Chaplin wird heute mehr geguckt als die ernsten Filme seiner Zeit. Wer schaut sich denn noch The Bird of the nation von Walk Griffith an? Alle schauen Buster Keaton, das ist auch große Kunst. Insofern gibt es da keinen Gegensatz bei Kagel. Was ist mit Harpe Kerkeling und dem Hurz (So hieß ein Scherz für eine Comedy-Fernsehschow 1991. Kerkeling trat als klassischer Sänger auf), das wäre jetzt mal ein Vergleich. Wahrscheinlich hätte Kagel daran auch seinen Spaß gehabt, vielleicht sogar gehabt … (Kagel ist 2008 gestorben) Und Hurz hat ja was gezeigt. Auch diese Aktion hatte im Kosmos von Hurz seinen Sinn. Und das ist ganz wichtig.
Wir nehmen es also ernst. Wir nehmen auch die Komödie sehr ernst.

Was wollte Kagel mit diesem Stück denn sagen oder fragen? Dass man vorurteilsfrei oder vorurteilsbeladen in die Oper gehen soll?

Das weiß ich nicht, ob er das wollte. Gerade bei Staatstheater scheint es so, dass er genau diese Frage zu vermeiden scheint. Es gibt keine konkrete Aussage. Es gibt nur das Spiel mit Materialen. Selbst bei modernen Romanen, James Joyce, kann man immer eine Aussage finden. Bei Ulisses Antisemitismus, das ist hier absolut nicht dabei. Es ist so, als ob Kagel hier ein neues Instrument entwickeln wollte. Ein Teleskop oder ein Mikroskop, das es vorher nicht gab. Und er gibt uns eine Anleitung, neu mit Musiktheater umzugehen. Das ist keine Aussage, das ist ein Geschenk!

Haben Sie das nüchterne Regiebild von ihm übernommen? Er fordert ja nur einfach Paravents, hinter denen die Aktionisten hervortreten sollen…

Wir haben ein eigenes Bühnenbild entwickelt und versucht, möglichst viele Sachen von ihm absolut nicht zu verwenden und zu vergewaltigen und ganz anders zu machen. Kagel folgen ist wie Zarathustra folgen. Man folgt ihm nicht, er sagt das auch: bleibt nicht in dem Staub vom Musiktheater…

Er sagt, alle Aktionen können kombiniert werden, aber es soll transparent bleiben…

Das ist ja auch eine tolle Aussage. Es ist eine Freikarte für alles, so empfinde ich das. Und das war unser Ansatz, wir wollen nichts wiederholen, was 72 in Hamburg war, und wir nehmen Sachen als Anregungen. Wir haben ja auch neue technische Voraussetzungen. Und der größte Unterschied zum Kagelschen Ansatz, der damals als Regisseur und musikalischer Leiter fungierte, ist, dass wir eine narrative Struktur haben. Wir erzählen eine Geschichte!

Es gibt auch Rollen, habe ich gelesen. Rollen, die wiederzuerkennen sind, eine Intendantin, einen Bademeister…

Einen Oberbademeister! Wir sind ja in Deutschland. Es gibt eine Geschichte, eine Tragödie, Komödie, Zwischenspiele, und es gibt Filmeinspielungen, die noch eine Parallelgeschichte erzählen… (Plötzlich geisterhafte Chormusik im Hintergrund) Jetzt hören wir da schon einmal den Parkettchor, der auch vorkommt. Später wird das für die Gäste ganz am Anfang zu hören sein. Und dann kommt darüber eine Stimme, die erklärt, wie man klatscht in Corona-Zeiten… oder ‚Buh‘ ruft in Corona-Zeiten, man zeigt es nämlich nur pantomimisch!

Was war Ihre größte Herausforderung bei diesem Stück? Den Steinbruch zu bearbeiten, Entscheidungen zu treffen, mit Instrumentalisten als Schauspieler zu arbeiten? Und in wieweit waren die Künstler auf der Bühne, ob Instrumentalist oder Darsteller, Sänger oder Chorist, beteiligt? Durften die auch mal was sagen oder einwerfen…?

Bei mir darf niemand was sagen! Nein. Natürlich dürfen alle was sagen! Das Schöne ist, dass wir am Anfang die Sachen entwickelt haben. Alle konnten sie entwickeln, auch mit dem musikalischen Leiter zusammen. Die Sänger bekamen Material, und wie in guten alten Barockzeiten. ‚Das liegt mir jetzt gut in der Stimme‘ oder ‚nein, das ist mir zu tief‘, weil es ja eben wie ein Steinbruch ist. So konnten wir „Identitätsarien“, die wir brauchten, maßschneidern. Ich habe einige Vorschläge gemacht, verbunden mit der Aufforderung: ‚falls Ihr was anderes findet, gerne!‘ Wir haben das langsam entwickelt. Und ich muss sagen, dass ich und auch die Solisten haben das gesagt, dass wir unheimlich viel Spaß hatten. Dass wir sehr entspannt und ohne Superstress heran gegangen sind. Gerade die ersten Proben waren beeindruckend. Es gab Szenenapplaus und berührende Szenen. Der Funken war von Anfang an da. Für mich war die größte Herausforderung, diesen Funken der Improvisation und Freiheit am Leben zu erhalten. Denn je näher man zur Premiere kommt, wird alles fest.

Und weil wir mit den „Identitätsarien“ bei der musikalischen Gestaltung angekommen sind, fragen wir gleich Daniel Johannes Mayr. Eine Schlussfrage an Sie aber noch. Sehen Sie jetzt anders auf das damalig legendäre Stück mit Bombenandrohung nachdem Sie es als Regisseur erarbeitet haben?

Damals kochten die Emotionen hoch, weil die Leute sich verhohnepiepelt fühlten. Es waren auch Künstler auf der Bühne, die das abgelehnt haben. Es gibt ein Interview mit Kurt Moll und August Everding, wo Moll auf diesen Kagel eingeht und sagt, die ersten vier Takte habe ich gelernt, dann habe ich gesungen was ich wollte, und Kagel hat nichts gesagt. Es gab ganz klar eine Verweigerungshaltung der Sänger, die Kagel, der ja musikalisch versiert war, einfach mitgenommen hat. Er hat nicht darauf bestanden, dass sie seine Sachen singen, sondern hat die Improvisation, die aus dem Widerstand kam, akzeptiert. Aber das Wort der Künstler, das in die Stadt kam, war, hier will jemand das Staatstheater abschaffen. Das wollte er nicht. Kagel wollte das Staatstheater bereichern. Jemand, der was Neues wagt, wird scheel angesehen! Ich glaube, Kagel war der Aufruhr auch sehr lieb. Es hat Aufmerksamkeit auf sich gezogen, gezeigt, dass es Emotion gibt. Und das liebt man an der Oper!

Die große Emotion. Soweit Regisseur Jürgen R Weber über Mauricio Kagels Staatstheater, dass kommenden Sonntag die Saison eröffnet.

Daniel Johannes Mayr, 1. Kapellmeister am Theater Bonn. Foto: Sabine Weber

Jetzt Fragen an Daniel Johannes Mayr, der ebenfalls zum Interview ins Bonner Theaterfoyer gekommen ist. Er ist erster Kapellmeister hier am Bonner Theater, musikalischer Leiter dieser Aufführung und zeichnet verantwortlich für die musikalische Erarbeitung bei einem Werk, das alle Bühnenmittel zum Kompositionsmaterial rechnet. Von der Geste in Einzelaktionen bis hin zum Kostüm. Welcher Anteil bleibt der Musik?

Ein sehr großer würde ich meinen. Auch wenn das Ganze „Szenische Komposition“ heißt, ist doch die Musik in unserer Version suggestiv immer dabei, auch wenn sie nicht immer live gespielt wird. Es kommen viele Einspielungen, von Kagel auch gewollt. Wir haben einen Jugendchor dabei, ein Ensemble von 45 Kinder und Jugendlichen, die nicht live singen können, weil das zur Zeit nicht gestattet ist, leider. Einige treten auf, mit Masken, und werden dann auch ein bisschen zu der Aufnahme summen, die sie gemacht haben.
Und ich mache nicht den Job, den ich eigentlich zu tun habe. Ich habe vor mir zwei Keyboards und einen Laptop stehen. Auf dem einen Keyboard sind Sounds, die ich zu dem, was die Sänger live singen ab und zu dazu spiele. Und auf dem Midi-Keyboard sind die Aufnahmen, die ich mit dem Orchester bereits vor Corona im Februar gemacht habe. Das, was Kagel im Kapitel Einspielungen bezeichnet hat.

„Einspielungen. Musik für Lautsprecher!“

Genau! Das geht es um alle musikalischen Intervalle, von der Prim bis zur Oktave in jeweils drei Variationen. Ich habe noch ein paar mehr gemacht. Wir haben verschiedene Besetzungen ausprobiert und festgelegt, bevor wir eigentlich wussten, was wir damit anstellen werden. Jetzt habe ich die Einspielungen jeweils auf einer Taste. Und ich habe sie zu einem Sänger und Person zugeordnet, sodass man, selbst wenn man es nicht hört, es doch unbewusst wie Leitmotive wahrnimmt. ‚Ah, das ist die Musik, wenn die Tochter der Intendantin auftritt!‘ Mein Job ist es, diese Tasten mit den Sounds rechtzeitig zu drücken. Auf der Bühne darf ich auch wie gewohnt dirigieren. Allerdings macht das vielleicht 20 Minuten im Stück aus.

Haben Sie bei der Wahl der Instrumente mitentscheiden dürfen, die auf der Bühne zum Einsatz kommen? Was Kagel sich da wünscht, das ist ja ziemlich imposant, Posaune, Spielzeugklavier, Aschenbecher mit Drehknopf, Teppichklopfer, Tülltuch, Stahlhelm, Reißverschluss, Klistierspritzen…

Primär habe ich mich um die Orchesterinstrumente gekümmert. Da muss man ja auch eine Auswahl treffen. Man muss auch überlegen, was spielt man aus dem 500 Seitenbuch überhaupt. Da haben wir gesagt, wir machen die Kontra-Danses Nummern. Das ist eine Musik für sieben Spieler…

Ein Ballett für Nicht-Tänzer…

Genau, begleitet von sieben Musikern, die auch Vokalisten sein können. Wir haben sieben Orchestermusiker, …

…die noch einmal neue Fähigkeiten entwickeln können. Sie singen!

Sie singen nicht wirklich. Es sollen „orale Ereignisse“ stattfinden. Das tun die Orchestermusiker in mutiger Weise. Wir entwickeln uns also alle weiter, weil wir alle etwas tun müssen, was wir normalerweise nicht tun. Die Musiker haben nur Rhythmus und Dynamik und Artikulation aufnotiert, aber keine Tonhöhen. Der Zwang zur Freiheit ist aber auch nicht immer ganz leicht.

Wie war es denn für Sie, als Sie die Partitur angeboten bekamen und Sie den ersten Blick in das ‚500 Seitenbuch‘ mit Kartei-artig aufgelisteten Aktionen, Gesten und mehr in mehreren Kapiteln geworfen haben. Was war Ihre spontane Reaktion?

O Gott!, habe ich gedacht. Und ich war erst einmal damit beschäftigt zu verstehen, um was es eigentlich geht. Was will der Komponist von mir? Es ist allerdings dann schnell auch erheiternd. Man muss natürlich mit der Lupe lesen, zum Teil genau hinschauen. Es ist alles handschriftlich. Und die Instrumente, die er erfunden hat, das ist allein ein Abendfüllendes Programm. Da steht man erst einmal vor einem Berg. Mit Jürgen R Weber habe ich früh angefangen, das zu lesen und darüber zu reden. Er hatte dann, um auf die Instrumente zurück zu kommen, sofort ein paar Ideen. Man muss ja eine Auswahl treffen…

Kagel selbst schreibt ja auch, es darf nicht länger als 100 Minuten dauern…

Das ist die Vorgabe. So wie wir es jetzt haben, ist es schon ein Riesending! Und es hätte Jahre gedauert, all die Instrumente zu bauen, die Kagel vorschlägt. Wir haben eine Auswahl getroffen…

… und die Requisite hat jetzt auch mal Instrumente gebaut?

Tatsächlich. Zum Teil verknüpft mit Kostümen. Es gibt, von Kagel erfunden, den Trommelmann. Das ist ein Kostüm bestehend aus mehreren Trommeln. Und er wird in unserer Aufführung auch als solcher benutzt werden.

Es gibt ja auch witzige Sachen im Kapitel Ensemble für 16 Stimmen. Da schreibt Kagel die Stimmfächer vor: eine Königin der Nacht, eine Soubrette, Aida, Carmen, Elsa, Tamino, Siegfried. Wie sind Sie mit deren Material umgegangen. Jürgen R Weber hat von „Identitätsarien“ gesprochen.

Da sind wir irgendwann drauf gekommen. Das ganze Buch, die Partitur, ist ja ein Baukasten. Bediene Dich, sei kreativ, mach etwas daraus.! So ist es auch bei den Stimmen. Da schreibt er die Fächer vor. Wir haben versucht, etwas auf jede Sängerin und Sänger zugeschnitten zu entwickeln. Wir haben uns dann auch aus dem Kapitel Debüt bedient. Das ist ein anderes Kapitel in diesem Baukasten für 60 Chorstimmen. Daraus haben wir dann eine Identitätsarie gebastelt.

(Einblicke in die Entwicklung der Identitätsarie von Daniel Johannes Mayr, 1.Kapellmeister am Theater Bonn)

Der Sänger hat laut dem Ensemble-Kapitel seine Silben. Pro Charakter gibt es eine Arie vorgeschrieben bis zu zwei Seiten lang. Wir haben das in einem Fall fast so übernommen. Giorgos Kanaris (Regisseur) singt fast original die vorgegebene Arie. Bei allen anderen haben wir entschieden, uns aus dem weiteren Fundus zu bedienen. Weil sich der Sänger oder die Sängerin damit wohler gefühlt hat oder weil es den Charakter der Rolle in unserer Geschichte mehr unterstützt. Wenn die Leute auftreten und es kommt blank das Gesungene und das vom Orchester eingespielte, dann ist es schon sehr einprägsam.

Wie würden Sie die Musik beschreiben, wenn sie erklären müssten, was hier akustisch zu erwarten wäre?

Eine Musik von absurd bis schön. Was der Jugendchor zu singen hat, auch ganz zum Schluss, hat einen meditativen Charakter, a cappella, harmonisch, Was das Septett mit den „oralen Ereignissen“ zu spielen hat ist ziemlich absurd. Freifahrten schreibt Kagel auch vor. Die einzelnen Musiker, eine Flötistin ist auch dabei, die fahren dann auf Paletten, die geschoben werden, jeweils einmal über die Bühne. Dabei spielen sie ein Motiv solistisch, zum Teil im Duett. Was die Solisten zu singen haben, würde ich als dadaistisch beschreiben, die haben ja nur Nonsens-Silben. Was dabei absolut faszinierend ist, dass sich trotzdem wahnsinnig viel Emotion überträgt, runter gebrochen auf eine Essenz, was sich mit Stimme ausdrücken lässt. Ohne, dass man auch nur ein Wort davon versteht. Auch wenn zwei sich unterhalten und dasselbe Gesangsmotiv etwas anderes bedeutet.

Was meinen Sie, was Kagel mit dieser Art Musiktheater bei den Musikern und beim Publikum erreichen will?

Sie stellen die Frage in der Gegenwart. Man müsste erst einmal fragen, was wollte er damals. Ich würde sagen, einen Knall loslassen und die Leute auffordern darüber nachzudenken, was Musiktheater geworden ist. Ein starrer konventioneller Apparat. Auf heute übertragen, dass es wahnsinnig inspirierend sein kann, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird und wir mit Material selber etwas machen sollen. Das ist für uns sogar eine Herausforderung, die humorvoll ist. Ich habe zu meinen Orchesterleuten einmal gesagt, ich glaube, der Kagel sitzt jetzt da oben und lacht sich einen Ast ab, auch, weil es absurd schwer ist, die Rhythmen hinzubekommen, die er vorgegeben hat. Da sitzt einem der Kagel-Schalk im Nacken. Fürs Publikum ist es vor allem ein Hören und Staunen. Ein Nicht-mit-dem-Kopf-beeindruckt-werden, sondern etwas mitzunehmen, das man gar nicht mit Worten beschreiben kann. Etwas, das einen verrückt (macht), im positiven Sinn!

Die Premiere von Mauricio Kagels Staatstheater ist am 13. September 2020 und leider ausverkauft. Karten gibt es aber noch für die Folgevorstellungen. Weitere Infos hier

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert