(Foto: Falk von Traubenberg) Ein Duett der Liebenden aus verfeindeten Lagern, wunderbar zart und erotisch gesungen und sexy gespielt von Countertenor Franco Fagioli und Sopranistin Julia Lezhneva ist die schönste und ergreifendste Nummer der ganzen Oper. Danach minutenlanger Applaus eines Publikums, das jeden Moment dieser fünf Stunden im erst vor kurzem nach umfangreicher Restaurierung wieder eröffneten Markgräflichen Opernhaus aus tiefstem Herzen und mit allen Sinnen genossen hat. (Von Klaus Kalchschmid)
(5. September 2020, Markgräfliches Theater Bayreuth) Festivalgründer und Counter Max Emanuel Cencic verkörpert nicht nur den Drahtzieher der Handlung, Kaiser Lottario, sondern zeichnet auch für die Inszenierung verantwortlich, die jedem Mafia-Epos zu aller Ehre gereicht hätte. Er verlegt die 40. Oper Nicola Porporas, 1738 in Rom uraufgeführt, in das Mexiko der 1920er Jahre. Mit einer malerischen, durchaus exotische Ausstattung, mit begrüntem Patio, herrschaftlichem Zimmer voller Gemälde, lichtdurchflutetem Innenhof oder Bibliothek (Bühne: Giorgina Germanou), dazu elegante Mode der Zeit (Kostüme: Maria Zorba). So ist szenisch sogar eine Schärfung und detailreiche Ausgestaltung mit stummen Nebenfiguren der Handlung möglich: Nach dem Tod Kaiser Ludwigs streiten dessen zweite Frau und der Erstgeborene aus Ludwigs erster Ehe, Lottario (Max Emanuel Cencic), um Reich und Erbe. Die Titelfigur, Karl der Kahle, ist ein Knabe, der hier sichtbar unter Kinderlähmung leidet, halbblind ist und mit Beinkorsagen auftritt, die er zum glücklichen Ende endlich ablegen kann. Dem Libretto ist übrigens ein an das Publikum gerichtete Sonett vorangestellt. „Verschmäht nicht, auf dieser Bühne anzusehen, wie ein Kind gequält wird, und lasst Euch durch sein Leid zu süßem Mitleid rühren.“ Später heißt es: „Aber zum glücklichen Ende werdet ihr aufatmen und froh sein, dass der gemeine Verräter bestraft wird und das Gute siegt.“
Herzinfarkt oder vergiftet?
In gut vier Stunden Oper – die Pausen nicht gerechnet – gibt es Intrigen, Kämpfe und Liebes- wie Hassschwüre aller Art. Dank Nicola Porporas Virtuosität und Fantasie im Komponieren von Gesangslinien mit meist dreistimmiger Streicherbegleitung, aber auch seiner Fähigkeit, ganz anders als Händel, aber nicht minder packend, die Figuren immer wieder bestechend musikalisch zu charakterisieren, wird über drei Akte eine große Spannung aufgebaut. Sie löst sich erst mit einer Arie vom Beginn des Finalakts, hier ans Ende gestellt, während immer lustvoller Charleston getanzt wird. Zum Schluss-Chor sitzen alle wieder – wie zu Beginn – an einer langen Tafel, wo beim letzten Akkord Lottario tot vom Stuhl kippt, durch Herzinfarkt dahingerafft oder … vergiftet?
Franco Fagioli und Julia Lezhana verkörpern Verliebtsein, und das sehr anschaulich
So reich die Musik ist, mit obligaten Holzbläsern oder Trompeten in den Finali, so geschickt Handlungs-, Gleichnis-Arien, darunter zwei effektvolle Sturm-Arien mit Hörnern und introspektive Affektarien wechseln: ohne Weltklasse-Sänger wäre das ein schwieriges Unterfangen. Zumal hier die scharfen Kontraste in den A-und B-Teilen der Arien zugunsten von vielfältigen Variationen und Modifikationen fehlen. Zwei männliche Altisten und ein männlicher Sopran sowie ein ebenso charismatischer junger Tenor sind gefragt. In Rom durften ja nur Männer auf der Bühne stehen, auch in den drei Frauen-Rollen. Adalgiso, Sohn Lottarios, wurde damals vom gefeierten Kastraten Lorenzo Ghirardi verkörpert. Ihm stehen die meisten Arien zu und das besagte traumhafte Duett mit seiner Verlobten Gildippe, die damals von Antonio Uberi, einem 20-jährigen Sänger dargestellt wurde. Franco Fagioli und Julia Lezhneva verkörpern in der aktuellen Inszenierung ihr Verliebtsein, und das sehr anschaulich.
Jede Menge Verzierungen und Koloratur!
Alle Protagonisten erlauben sich, wie seinerzeit üblich, jede Menge Verzierungen, Kadenzen und Koloraturen am Ende ihrer Arien, manchmal bewusst an die Grenzen und schon mal, die damaligen Auswüchse persiflierend, darüber hinaus gehend. Julia Lezhneva gelingt bei aller Virtuosität auch eine bewundernswerte Innigkeit, und sie vermittelt Wärme. Giuditta, Carlos Mutter und Witwe Ludwigs des Frommen, und Suzanne Jerosme als Eduige sowie Giudittas Tochter mit Nian Wang, sind nicht minder gut besetzt. Eine kleine Partie singt Bruno de Sá und verblüfft mit einem lupenreinen Sopran, während der junge Tenor Petr Nekoranec, heute im Ensemble der Stuttgarter Oper, als Asprando einen Doppelagenten darstellt, wie ihn eine Netflix-Serie nicht besser erfinden könnte: Einerseits Ex-Lover Giudittas und damit Vater Carlos, ist er hier auch Geliebter Lottarios. Dieser alte, grauhaarige, am Stock gehender Mann, hegt immer noch Machtgelüste, lässt sich aber gern vom Spiel der erotischen Hingabe und Verweigerung eines schönen jungen Körpers betören, und singt dazu von einer Blume, die abends müde wird und am Morgen, von Tau benetzt, in den Sonnenstrahlen wieder erblüht („Quando s’oscura“). Asprando spielt also ein doppeltes Spiel, das ihn auch musikalisch buchstäblich zum Wahnsinn treibt und mit seiner Ermordung endet.
Als wär’s ein filmisches Kammerspiel!
Damit auch nicht eine Sekunde Langeweile aufkommt, inszeniert Cencic mit unerschöpflicher Fantasie und im perfekten Timing jede Menge Aktionen in den Zwischenspielen der Arien, bei der Wiederholung des A-Teils oder einfach als kommentierende Nebenhandlung, während vorne gesungen wird. So erleben wir, wie im Hintergrund bei Kaffee und Konfekt anspielungsreich geflirtet wird, wie erotisch man in einer Tasse umrühren oder Gebäck in die Flüssigkeit tunken und es dann genüsslich sich einverleiben kann. Cencic weiß aus eigener Erfahrung, wie man Kollegen dazu bringt, diese Finessen mit jeder Faser des Körpers, in Mimik und Gestik glaubwürdig über die Rampe zu bringen. Als wär’s ein filmisches Kammerspiel!
Ein unvergessener Höhpunkt in der herbstlichen Opernsaison im Jahr der großen Pandemie
Im grandiosen Ambiente des frisch restaurierten Markgräflichen Opernhauses, das ganz aus Holz und Dank seiner Größe eine wunderbare Akustik besitzt, wird geradezu himmlisch gesungen. Und dass ebenso exzellent musiziert wird vom Originalklang-Orchester Armonia Atenea unter Leitung von George Petrou, der die Musik mit Eleganz und feinsten Schattierungen leuchten lässt, macht das Glück dieses Abends vollkommen. Das bleibt ein unvergessener Höhepunkt fürs Publikum in der herbstlichen Opernsaison im Jahr der großen Pandemie, wo andernorts nur gekürzte und pausenlose Fassungen von Mozart-Opern auf dem Spielplan stehen dürfen!
Der Bayerische Rundfunk überträgt „Carlo il Calvo“ am Dienstag, 8. September ab 18 Uhr live auf BR-Klassik.
Bayreuth Baroque bietet bis zum 13. September unter anderem konzertant in den historischen Kulissen des Opernhauses „Gismondo, Rè di Polonia“ von Porporas großem Rivalen Leonardo Vinci (als Livestream am Freitag, 11. September, 18 Uhr). Mit dabei: Max Emanuel Cencic in der Titelpartie und weitere hervorragende Countertenöre wie Jake Arditti und Yuriy Mynenko und die Sopranistinnen Aleksandra Kubas-Kruk und Sophie Junker. Am 12. September als Livestream ab 19.30 Uhr: das Konzert mit Vivica Genaux und der lautten compagney unter Wolfgang Katschner