Eine neue Klagenfurter „Elektra”! Ihr Ruf schallt über den Wörthersee!

Auf Kärntens Seen bei bestem Wetter zu rudern, mit dem Höhepunkt Wörthersee, ist für eine Rheinländerin natürlich ein besonderes Abenteuer. Wenn dann auch noch die Saisonpremiere im Klagenfurter Stadttheater mit einer „Elektra” und Nicola Beller Carbone in der Titelrolle in die Tour fällt, ist das ein Fest! Da muss hingerudert werden, mit den Konzertklamotten im Boot! (Von Sabine Weber)

Nicola Beller Carbone (Elektra). Foto: Arnold Poeschl

(17. September 2020, Stadttheater Klagenfurt) Wer Ruderer*innen gesehen hat, wie sie aus dem Boot steigen, weiß natürlich, dass es so nicht ins Theater gehen kann. Ich habe mir also die Zeit erbeten, um gesittet im Klagenfurther Stadttheater zu erscheinen.

Es geht hier um die erste Premiere nach dem Corona-Lockdown!

Stadttheater Klagenfurt. Foto: Sabine Weber

Die Stimmung ist sofort euphorisch! Nicht nur wegen des wunderbaren Jugendstilgebäudes, das Kaiser Franz Josef I. zu seinem 60. Dienstjubiläum den Kärntnern auf einem grünen Hügel in Klagenfurt errichten ließ. Es geht hier um die erste Premiere nach dem Corona-Lockdown. Ausgerechnet für diesen Premierentag sind die Corona-Maßnahmen in Österreich aber wieder verschärft worden. Das hat Bundespräsident Sebastian Kurz am Abend zuvor verkündet. Also sekundiert als Zirkus-Pagen kostümiertes Personal vor dem Eingang mit Schildern, die an Abstandhalten gemahnen. Sie halten ein Körbchen mit Nasenmundschutz für diejenigen bereit, die sie vergessen haben sollten. Denn ab sofort gilt Maskenpflicht in öffentlich zugänglichen Gebäuden. Die Deutschen kennen das ja schon. Kärnten dagegen war bis zu diesem Tag sozusagen maskenfrei! Die Kärntner müssen sich daran gewöhnen. Ein älterer Besucher, der neben mir steht, hat einen unterdimensionierten „Tanga“-Mundschutz zwischen Unterlippe und Kinn hängen. „Wien bricht gerade zusammen!“, seufzt er. Und seine persönliche Operndiva läge derzeit in Moskau im Krankenhaus. Anna Netrebko hat Corona! Aber die Kärntner seien gesund. Kaum Infektionen! Und dann bläst auch schon das düstere Agamemnon-Thema von einem Balkon herunter. Die Blechbläser der Kärntner Sinfoniker rufen mit Schicksals-geladenen Klängen ins Haus.

Das ist ein Fluch, vor dem sich die in ihn verstrickten Charaktere bestens spiegeln und darstellen lassen

Diese Klänge prägen sich sofort ein. Sie spielen im Verlauf der anderthalbstündigen pausenlosen Vorführung auch eine wichtige Rolle. Es geht ja um Agamemnon, beziehungsweise um Elektras Rache an Agamemnons Tod. Agamemnon ist von ihrer Mutter Klytemnästra und deren Partner Aegisth ermordet worden. Für Elektra spielt keine Rolle, dass Klytemnästra damit Rache für den Tod ihrer ältesten Tochter Iphigenie, Schwester  von Elektra, genommen hat. Agamemnon hat sie nämlich für den Erfolg des Trojakrieges geopfert. Vor 2500 Jahren ist der Fluch des Tantaliden- und Atriden-Geschlechts erstmals über die Theaterbühnen der demokratischen Poleis gegangen. Vom ersten Kapitel an durch Menschenopfer-Gräuel entstellt. Aber das ist ein Fluch, vor dem sich die in ihn verstrickten Charaktere bestens spiegeln und darstellen lassen.

Das Unheil greift hier bereits optisch um sich!

Als wäre die Verschärfung der Corona-Maßnahmen vorausgeahnt worden, die aktuelle Klagenfurter Elektra ist perfekt darauf zugeschnitten. Mit 70 statt 120 Musikern in einer von Richard Strauss autorisierten reduzierten Fassung – für kleinere Häuser, jetzt Corona-konform. Die Musiker sitzen auf Distanz im Bühnenhintergrund. Hinter gewaltigen Luftschläuchen, wie sie im Bergbau zur Belüftung zum Einsatz kommen. Bühnenbildner David Hohmann lässt sie im Kärntner Stadttheater wie ausufernde Tentakel, über den geschlossenen Orchestergraben, in den Zuschauerraum ragen. Das Unheil greift hier bereits optisch um sich! Das unterirdisch düstere Szenario braucht dann nur noch eine Requisite. Einen verwaisten Stuhl. Die Leerstelle für Agamemnon. Bei Beginn umgekippt auf dem Boden, stellt Elektra ihn auf und klammert und schmiegt sich an ihn. Später auch ihr Bruder Orest.

Das Kärntner Sinfonieorchester unter Nicholas Carter verschmilzt in jeder Phrase mit den Sängern

Foto: Arnold Poeschl

Das Ensemble erscheint zwischen den Schläuchen, singt vor und um sie herum. Weil die Sänger relativ vorn an der Rampe stehen und sie zudem ausnehmend deutlich artikulieren, ist jedes gesungene Wort zu verstehen! Das macht diese Elektra zu einem besonderen musikalischen Fest, wie es noch selten auf Bühnen zu erleben war. Erstmals ist zu hören, wie, quasi mit jedem Wort oder Halbsatz, eine besondere Stimmung aus dem Orchester heraus entfesselt wird. Das Kärntner Sinfonieorchester unter Nicholas Carter verschmilzt in jeder Phrase mit den Sängern, mal dick, mal kammermusikalisch, ohne sie zuzudecken. Die von Strauss hineingefügten Orchesterzwischenspiele sind in dieser Inszenierung als Psychogramme zu erleben. Sie entwickeln sich nachvollziehbar, weil man das sie auslösende Stichwort ja verstanden hat! Das Klagenfurter Ensemble ist von der ersten bis zur 15. Rolle  hervorragend besetzt. Eine Szene mit weiblichem Dienstpersonal und Mägden macht den Anfang. Nauancierte Stimmen von Frauencharakteren, von der Aufseherin mit Reitgerte bis hin zu einer in Elektra verliebten Magd, kreisen um und diskutieren psychoanalytisch über Elektra, während sie wie ein verwundetes Tier auf dem Boden kauert. Elektras erster großer Monolog beginnt dann mit einem verzweifelten „Allein, ganz allein“. Dazu die Agamemnon-Rufe – „wo bist Du?“, das kommt hier real verzweifelt beim Publikum an und ist von der ersten Sekunde an erschütternd.

Die neue Klagenfurter Elektra ist auf Nicola Beller Carbone in der Titelrolle zugeschnitten!

Nicola Beller Carbone (Elektra). Foto: Arnold Poeschl

Die Personenregie von Cesare Lievi setzt auf intensives Personenspiel. Kein Bühnenschnickschnack, nur Gestik, Mimik, Haltung zählen, die sich wie in HD-Qualität überträgt. Nicola Beller Carbone ist in Lievis Regie eine Elektra, wie man sie selbst in Salzburg nicht erlebt hat. Ihr blickt man tief in ungeschminkte Augen bis ins verwundete Herz! Als vermeintliche Psychopathin oder Gefangene mit kurz geschorenen Haaren in Schlabber-schwarz verfällt sie auch mal in autistische Bewegungsmuster. Sie zieht sich ihren verkommenen Königsmantel – sie ist ja Königstochter – über den Kopf, klammert sich an den leeren Stuhl, um ihren Vater gefühlt lebendig zu machen, oder sie springt wie eine Katze auf die Belüftungsschläuche und artikuliert fauchend mit messerscharfer Stimmkraft ihre Wut und Verzweiflung. Diese Elektra ist auf Beller Carbone zugeschnitten! Und die Mörderpartie der Elektra gestaltet sie vom ersten bis zum letzten Ton ohne je schrill oder forciert zu klingen. Beller Carbone leistet sich dynamische Feinheiten, die immer perfekt vom Kärntner Sinfonieorchester aufgegriffen werden. Das im Wechsel bis zum finalen Wahnsinnstanz. Diesem Weib kann das eigentlich Weibliche in der Person der Chrysothemis nur fassungslos und hilflos gegenüber stehen, von Christiane Kohl stimmlich hervorragend interpretiert, von der Regie wohl bewusst blasser belassen.

Die Rache frisst Menschenblut

Ksenïa Vyaznikova als Klytemnästra taucht dagegen als in die Jahre gekommene Marlene Dietrich-Ikone am Gehstock mit grellrot geschminkten Lippen auf. (Kostüme Axel Aust) Ihren russischen Akzent zelebriert sie wunderbar maniriert und Diven-haft. Vyaznikovas profunde Altfärbung verrät menschliche Kraft und neben Souveränität auch Hilflosigkeit gegenüber ihrer gnadenlosen Tochter. Seth Carico als Orest steht nie unbeholfen herum, wie man das oft erlebt. Hier hat Elektra ihre Rachefäden bereits wie eine Spinne um ihn gelegt. Als Orest die wiedergefundene Schwester umarmen will, weigert sie sich. Erst muss er als ihr Rächer den Mordauftrag erfüllen. Nachdem die Todesschreie von Klytemnästra, dann von Aegisth aus dem Off verklungen sind, steht Orest wie im Schweigen der Lämmer mit blutigem Mund an der Rampe. Diese Rache frisst Menschenblut. Orest weiß, dass sie auch ihn bald trifft. Doch das ist eine nächste Geschichte.

Glücklich, wer dabei sein kann!

Klagenfurt hat ihre Elektra! Und die neue Klagenfurter Elektra schreibt sich in die musikalischen Opern-Annalen ein. Sicherlich nicht nur in Kärnten. Minutenlanger, tosender Beifall! Ein solch pralles Opernerlebnis ist auch hier in Klagenfurt lange vermisst worden. Aron Stiehl, neuer Klagenfurter Intendant, dürfte sich glücklich schätzen, dass seine erste Spielzeit hier mit diesem Paukenschlag beginnt! Der gebürtige Wiesbadener, der als freischaffender Opernregisseur aus Berlin an den Wörthersee kommt, hat es sich auch nicht nehmen lassen, sich vor Beginn von der Bühne aus dem Publikum vorzustellen. Sein Vorgänger Florian Scholz, ebenfalls Deutscher, sitzt im Publikum und bekommt nach Aufforderung von Stiehl vom stehenden Klagenfurter Publikum einen Dankesapplaus für die Erfolge der letzten acht Jahre gespendet!

Stadttheater Klagenfurt nach der Elektra-Premiere. Foto: Sabine Weber

Nach der Aufführung steht Intendant Stiehl übrigens wieder auf der Bühne. Er koordiniert per Ansage den Corona-konformen Auszug aus dem Saal. Nur 370 Plätze, halb soviel wie das Klagenfurter Stadttheater anbietet, waren besetzt. Mit entsprechendem Abstand von freibleibenden Sitzen. So praktizieren wir das in Deutschland derzeit ja auch. Glücklich, wer dabei sein kann!

Die nächste Vorstellung ist am 23.09.2020 und beginnt um 19:30 Uhr.
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